Während draußen tausende hartnäckige Verschwörungsideolog*innen stundenlang demonstrieren, trotz Wasserwerfern ausharrten und teilweise zu Gewalt gegen Polizei und Presse griffen, stimmte der Deutsche Bundestag am Mittwoch, den 18. November 2020, über eine Novelle des Infektionsschutzgesetz ab. Doch auch im Parlamentsgebäude kam es zu Tumulten von Corona-leugnenden Demonstrant*innen: Mehrere rechtsalternative YouTuber*innen, eingeschleust von AfD-Abgeordneten, bedrängten und beleidigten Politiker*innen anderer Fraktionen – und filmten sie dabei im Livestream. Sie versuchten auch, in Büros von Abgeordneten einzudringen und diese einzuschüchtern. Ein unverschämter Angriff auf die Demokratie, der für die rechtsradikale Partei weitreichende Konsequenzen haben dürfte.
Am Tag der Abstimmung hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schärfere Sicherheitsvorkehrungen angeordnet: Normalerweise dürfen Abgeordneten sechs Gäste auf eigene Verantwortung ohne Sicherheitschecks mit ins Parlament nehmen. Am Mittwoch wurden aufgrund der Proteste gegen eine vermeintliche „Hygiene-Diktatur“ alle Besucher*innen genauer kontrolliert. Ihre Namen mussten in der Datenbank der Interpol überprüft werden. Trotzdem gelangten vier der rechtsalternativen Demonstrant*innen in den Bundestag: Der verschwörungsideologische Publizist Thorsten Schulte, bekannt als „Silberjunge“, die Rechtsaußen-Aktivistin Rebecca Sommer, Daniela Scheible, die zum Team des AfD-YouTubers Stefan Bauer gehört, sowie der Dresdener YouTuber Elijah Tee, der in Echt Ilia Tabere heißt. Letzterer beschrieb die Gruppe als „Medienwiderständler“.
Die Aktion kam mit Ansage: Bereits am 14. November schrieb Schulte auf seinem Telegram-Kanal: „Ein Bundestagsabgeordneter wird mich in den Reichstag am Mittwoch lassen. Es wird sicher ein fordernder Tag, aber wir lieben die Herausforderung.“ Als Schulte nach eigenen Angaben am Dienstag, dem Tag vor der Abstimmung, „einige Abgeordnete“ im Bundestag besuchen wollte, sei er von der Bundestagspolizei „belehrt“ worden, dass es bereits anhängige Verfahren gegen ihn gebe und er bei einem weiteren Vergehen nicht mehr in den Bundestag dürfe. Danach kündigte er auf Telegram entschlossen an, sich am nächsten Tag gegen „diese Merkel-Speichellecker“ im Bundestag einsetzen zu wollen. Wieso Schulte trotz schärferer Maßnahmen am 18. November in den Bundestag durfte, bleibt noch unklar.
Mittlerweile hat der AfD-Abgeordnete Udo Hemmelgarn zugegeben, dass er Thorsten Schulte eingeladen hat. Das bestätigte Fraktionssprecher der AfD, Marcus Schmidt, gegenüber der dpa. Das YouTube-Video, das mittlerweile auf privat gestellt wurde, beginnt in Hemmelgarns Büro. Dort bedankt sich Tabere bei einer Mitarbeiterin, die „uns heute hier gut versorgt hat“. Einem Sicherheitsbericht der Bundestagspolizei zufolge wurden die anderen Besucher*innen über die AfD-Abgeordneten Petr Bystron und Hansjörg Müller angemeldet. Alle drei Abgeordneten gehören zum rechtesten Rand ihrer Partei: Hemmelgarn fällt immer wieder wegen seiner Nähe zur „Reichsbürger“-Bewegung auf, Müller gilt als Unterstützer des offiziell aufgelösten rechtsextremen „Flügels“ um Björn Höcke und Bystron hat in der Vergangenheit etwa Sympathien für die rechtsextreme „Identitäre Bewegung“ geäußert und war unter Beobachtung des Bayerischen Verfassungsschutzes, bevor er 2017 in den Bundestag einzog.
Im einstündigen Video, das Belltower.News gesichtet hat, ist zu sehen, wie Rebecca Sommer und ein weiterer, noch nicht idenifizierter Aktivist den Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) als „Arschloch“ und „kleinen Wannabe-König“ beschimpfen. „Sie sind abgehoben. Sie haben überhaupt kein Gewissen“, sagt Sommer, bevor Altmaier in einen Aufzug verschwinden kann. Sommer und die anderen „Aktivist*innen“ versuchen bei ihrem „Rundgang“ des Bundestages auch andere Politiker*innen einzuschüchtern: Sie fragen Passanten, ob sie Abgeordnete seien und wie sie bei der Reform des Infektionsschutzgesetz abstimmen werden. Dabei erwischt sie den Grünen-Fraktionschef Toni Hofreiter.
Auch der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle wurde von Sommer bedrängt, beklagte Kuhle später. Tobias Lindner (Grüne) und Katja Mast (SPD) zufolge klopften die „Medienwiderständler“ an ihre Bürotüren und bedrängten ihre Mitarbeiter*innen. Laut Schulte wurden die vier „Medienwiderständler“ von der Bundestagspolizei aus dem Parlamentsgebäude „geworfen“. Schulte behauptet, nur dank Hansjörg Müller habe er einer Verhaftung entgehen können.
Der Vorfall wird nun im Ältestenrat besprochen. Schon jetzt kommt aus allen Fraktionen heftige Kritik. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) spricht von einer „Nötigung“ der Abgeordneten, die Grünen-Geschäftsführerin Britta Haßelmann beschrieb die Aktion als „skandalös“. Mathias Middelberg, innenpolitischer Sprecher der CDU will, dass die drei AfD-Abgeordneten bis zum Ende der Wahlperiode keine Besucher*innen mehr empfangen dürfen. Die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) bewertet den Vorfall als mindestens eine Ordnungswidrigkeit, wenn nicht sogar eine Straftat. Paragraf 106 des Strafgesetzbuches behandelt die Nötigung von Mitgliedern eines Verfassungsorgans und sieht Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren, in besonders schweren Fällen von bis zu zehn Jahren vor.