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Amoklauf in Nashville Transfeindliche Instrumentalisierung statt Trauer

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A police officer walks by an entrance to The Covenant School after a shooting in Nashville, Tenn. on Monday, March 27, 2023. (AP Photo/John Amis) (Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | John Amis)

Seit Beginn des Jahres gab es mindestens 130 Massenschießereien in den Vereinigten Staaten. Ihre Opfer werden in einem Land mit einer derart lautstarken und einflussreichen Waffenlobby schweigend hingenommen. Das Recht auf Waffenbesitz wiegt in den USA offenbar mehr als das Recht auf ein Leben ohne die permanente Angst, dass das eigene Kind nicht aus der Schule heimkommt, weil es einem Amoklauf zum Opfer fällt.

Der Diskurs nach Massenschießereien ist in der Regel immer der gleiche: das Betonen von „Thoughts and Prayers“ (Gedenken und Gebeten), Betroffenheit, das Rätseln, was der Hintergrund für die Tat sein könnte, und keinerlei Einschränkungen für den Zugang auf Schusswaffen.

130 Shootings seit Jahresbeginn, ein trans Täter

Diesmal ist es jedoch anders, denn: Der Täter war mutmaßlich transgeschlechtlich. In einem Land, dessen reaktionäre Kräfte seit Monaten den brutalen Kampf gegen die Rechte von trans Personen zum Hauptpunkt ihrer politischen Agenda auserkoren haben, ist dies ein unverhoffter “Glücksfall”, um diese Kampagne ideologisch zu unterfüttern.

Noch ist das Motiv des 28 Jahre alten trans Mannes* unbekannt, der selbst ein ehemaliger Schüler der Presberytanischen Covenant School war. Er soll eine Art Manifest verfasst haben, dessen Inhalte jedoch noch von der Polizei von Nashville analysiert werden. Online veröffentlicht wurde es anscheinend nicht. Außerdem hatte der Täter einen detaillierten Plan der Schule verfasst, laut Polizeiangaben wurden auch weitere Orte als Ziele der Schießerei in Betracht gezogen. Ungefähr eine Viertelstunde vor der Tat hatte er eine Nachricht an eine Freundin verfasst: „Das ist mein letztes Lebewohl. […] Ich muss einfach sterben. Etwas Schlimmes wird passieren.“

Der Amokläufer hatte an einer Kunstuniversität studiert und wird laut der Washington Post von Bekannten als „künstlerisch talentiert und eine*n gute*r Schüler*in“ bezeichnet. Während die Kunstwerke des Schützen keinerlei Hinweise auf Gewaltfantasien liefern, hatte er auf Social Media anscheinend viel über die eigenen Depressionen gesprochen; zudem hätte er sich in therapeutischer Behandlung befunden. Trotzdem hatte er Zugang zu Waffen: Der Amokläufer  drang mit zwei Halbautomatik-Gewehren und einer Pistole in die Schule ein, insgesamt besaßer sieben Schusswaffen. Es ist also davon auszugehen, dass die Tat längerfristig geplant war. Nach Aussage des Polizeidepartements von Nashville sei „die Schule selbst und weniger einzelne Individuen“ das Ziel des Täters gewesen. Ob die Tatsache, dass die Schule im Jahre 2013 Fälle von Missbrauch zu vertuschen versucht hatte und „kultartige Strukturen“ aufweisen soll, eine Rolle bei dem Amoklauf spielte, kann noch nicht gesagt werden. Fest jedoch steht: sechs Menschen wurden getötet, und drei von ihnen waren gerade erst neun Jahre alt.

Transfeindliche Mobilmachung

Schon bevor bekannt wurde, dass es sich bei dem Täter um einen trans Mann handelt und noch von einer „Schützin“ gesprochen wurde, verbreiteten rechtsradikale Trolle auf Twitter gezielt die Desinformation, es würde sich um eine transgeschlechtliche Frau handeln. Zu behaupten, dass die Tätern von Massenschießereien trans Personen seien, ist in den letzten Monaten zu einer zunehmend populären Form von Shitposting unter transfeindlichen Akteur*innen geworden, um Stimmung gegen diese ohnehin bereits ausgesprochen marginalisierte Bevölkerungsgruppe zu machen. Im Falle von Nashville wurde ein Bild des kontroversen Comedians Sam Hyde geteilt, über den ein Filter gelegt wurde, der Hyde als Frau erscheinen ließ. Dies ist bewusster Rekurs auf ein Meme: Hyde wird seit Jahren von Nutzer*innen des Imagebaords 4chan fälschlicherweise bei vielen Attentaten als Amokschütze oder Rechtsterrorist ausgegeben, um Hyde zu schaden und Medien an der Nase herumzuführen.

Quelle: Twitter

Andere Accounts teilten das Foto einer Teilnehmerin einer Demonstration für trans Rechte und behaupteten, es würde sich um den Schützen handeln – auch dies stimmt nicht. Auch die transgeschlechtliche Twitch-Streamerin Clara Sorrenti ist seit ihrer Initiative, das rechtsradikale Troll-Forum Kiwi Farms zu deplatformen, prominentes Feindbild rechtsradikaler Trolle geworden. Deshalb wurde auch ihr Foto verbreitet.

Diese Tweets wurden als bewusste Falschinformationen in die Welt gesetzt. Als jedoch bekannt wurde, dass der Täter von Nashville wohl seit einigen Monaten auf seinem LinkedIn-Profil die Pronomen auf „er/ihn“ geändert hatte, konnten sich Transfeind*innen in ihrem Hass tatsächlich bestätigt fühlen. Endlich eine trans Person, die eine Gewalttat begeht! Endlich eine Möglichkeit, dem Hass auf die LGBTQ-Community scheinbar berechtigten Lauf zu lassen!

Innerhalb der nächsten Stunden nach der Bekanntgabe dieser Informationen überschlagen sich konservative Journalist*innen als auch die Nutzer*innen einschlägiger Plattformen wie 4chan oder Kiwi Farms mit schadenfrohen Pseudo-Analysen über den Amoklauf. Der Alt-Right-Aktivist und Verschwörungsideologe Jack Posobiec lässt auf Twitter verlautbaren, der Amoklauf solle die Botschaft „Ihr greift unsere Kinder an, wir töten eure Kinder“ vermitteln, und sei ein „Paradebeispiel von Inlandsterrorismus“. Benny Johnsons, seines Zeichens Chief Creative Officer bei der rechtspopulistischen Organisation „Turning Point USA“ behauptet – ohne weitere Beweise – dass die „moderne Trans-Bewegung Aktivist*innen in den Terrorismus radikalisiert“. Elon Musk kommentiert Johnsons Tweet mit einem Ausrufezeichen. Die Republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene ist der Ansicht, dass eine Hormontherapie oder Psychopharmaka für die Tat mit zu verantworten seien: „Wir können jetzt aufhören, Waffen verantwortlich zu machen.”  FOX News-Sprecher Tucker Carlson verkündet, dass die „Trans-Bewegung Christen attackiert“ und fordert nun, trans Menschen den Waffenbesitz zu verbieten. Und Matt Walsh, selbsternannter „theokratischer Faschist“ und Macher des transfeindlichen Films „What is a woman“ schreibt auf Twitter: „Trans-Aktivist*innen glauben, dass alle, die gegen sie sind, sterben müssen […]. Wir stehen einem wahrhaft dämonischen Bösen gegenüber. Vergesst das nicht.“

Quelle: Twitter

Generell lautet der Tenor von Rechts: Es handelt sich um „Trans-Terrorismus“ gegen christliche Kinder, und der Amoklauf ist eindeutiger Beweis dafür, dass trans Menschen eine Bedrohung für Kinder darstellten und ihre Rechte und Sichtbarkeit weiter eingeschränkt werden müssten.

Brutaler Ton und plötzlicher Interessenwechsel auf 4chan

Auf Plattformen wie 4chan und Kiwi Farms ist der Ton noch einmal deutlich brutaler. Die Userbasis, die ansonsten jeden Terroranschlag und jeden Amoklauf mit zynischer Begeisterung bejubelt und vor allem Incels und Rechtsterroristen als „Heilige“ und „Helden“ verehrt, entdeckt mit einem Mal ihre Empathie für erschossene Kinder. Begeistert teilen sie das Video der Polizeibeamt*innen, die den Amokläufer erschießen und kommentieren das Material mit Aussagen wie „TOTALER TR****N TOD!“ Vor allem jedoch ergießen sich die Nutzer*innen in offener Schadenfreude über die berechtigte Angst von queeren Menschen, dass die US-amerikanische Rechte die Transgeschlechtlichkeit des Schützens als Grundlage für weitere Repressionen heranziehen wird.

Quelle: Kiwi Farms

Auch im deutschsprachigen Raum springen die üblichen Verdächtigen auf die transfeindliche Propagandamaschine auf. Martin Sellner zum Beispiel schreibt pathetisch: „Diese Regenbogen-Ideologie zerstört nicht nur die Köpfe und Seelen unserer Kinder, sie gebiert auch Wahnsinnige. Anstatt nun wieder die Debatte über ein Waffenverbot zu bringen, sollte man vielleicht über ein Verbot dieser Gender-Ideologie sprechen.“ – als wären trans Personen, und nicht Rechtsterroristen für hunderte Tote in den letzten Jahren verantwortlich.

Zweierlei Maß von Rechts

Der Amoklauf von Nashville ist ein sinnloses und furchtbares Ereignis. Sechs Menschen, davon drei gerade erst neun Jahre alte Kinder, wurden Opfer eines Massakers, ihre Eltern, Freund*innen und Kolleg*innen bleiben in Trauma und Schock zurück.

Doch die rechte Erschütterung über die Tat mutet aufgesetzt an. Denn: all jene, die genau trotz eines Mangels an Hintergrundinformationen bestens Bescheid wissen, dass die Motivation des Amoklaufs „Trans-Terrorismus“ sein muss, reagieren bei explizit rechtsterroristischen Anschlägen, deren Attentäter hundertseitige und extrem detaillierte Manifeste im Internet publizieren, wesentlich zurückhaltender. Entweder entpolitisieren sie die Tat als Handlung eines „psychisch kranken Einzeltäters“ oder artikulieren, gerade im Falle von den aus patriarchalem Anspruchsdenken begangenen Incel-Anschlägen, Sympathie für den Täter: es würde sich um „vereinsamte und frustrierte junge Männer“ handeln, die durch mangelnde weibliche Aufmerksamkeit geradezu in den misogynen Terrorakt gedrängt worden seien.

Es ist nun einmal Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit an Mass Shootern weiße, cisgeschlechtliche Männer sind – und der Großteil von ihnen ist bereits durch Frauenfeindlichkeit, sexuelle oder häusliche Gewalt auffällig geworden. Der Großteil der 2022 verübten Massenschießereien in den USA hatten einen rechtsradikalen Hintergrund. Des Weiteren muss bei der Analyse dieser Verbrechen differenziert werden, ob es sich um einen Amoklauf oder um einen Terrorakt handelt. Der Amoklauf hat in der Regel die „Wiedergutmachung“ einer Kränkung durch den Gewaltakt als Hintergrund, Terrorismus hingegen ist in der Regel politisch motiviert und hat zum Ziel, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in Angst zu versetzen. Im Falle von Nashville ist bisher eher von einem Amoklauf auszugehen.

Dies interessiert Transfeind*innen jedoch recht wenig. Sie nehmen die Tat einer Einzelperson als Grund, um eine komplette Bevölkerungsgruppe als Bedrohung für die amerikanische Gesellschaft zu stilisieren. Dafür schämen sie sich nicht, tote Kinder zu instrumentalisieren – während ihnen die Opfer rechtsterroristischer oder misogyner Anschläge in der Regel vollkommen gleichgültig sind. Gerade bei Nutzer*innen von 4chan oder Kiwi Farms, die anlässlich der queerfeindlichen Attentate von Bratislava oder Colorado Springs höhnische Aussagen wie „Nichts von Wert ist da verloren gegangen“ ins Internet gespien haben, ist eine genuine Trauer um die Toten schwer zu glauben.

Es geht diesen Menschen nicht um die Opfer von Nashville. Es geht ihnen nicht darum, weitere Todesfälle durch Amokläufe oder Anschläge zu verhindern. Sondern es geht ihnen darum, diese Gewalttat zu nutzen, um weiter ihren Krieg gegen trans Menschen führen zu können.

 

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