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Antisemitismus „In Deutschland gibt es eine jahrzehntelange Kontinuität des Israelhasses“ 

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(Quelle: Unsplash)

Die Mitarbeiter:innen dokumentieren Demonstrationen und Kundgebungen aus dem rechtsextremen und rechtsradikalen Milieu, aber auch aus dem „Querdenken“-Spektrum. Wir haben uns im Juli 2021  mit Levi Salomon unterhalten, dem Gründungsvorsitzenden, Sprecher und Geschäftsführer des JFDA. Ein Hintergrundgespräch zum Zivilgesellschaftlichen Lagebild 2021 der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus.

Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Was waren die prägnantesten Entwicklungen und Beobachtungen im Bereich des israelbezogenen Antisemitismus 2021?
Levi Salomon: Das Jahr war vor allem vom Gaza-Konflikt geprägt. Wir haben 2020/21 mehrere Kundgebungen und Demonstrationen beobachtet, auf denen israelbezogener Antisemitismus wahrzunehmen war. Dabei waren im Grunde alle wichtigen Akteur:innen und bekannten Persönlichkeiten zugegen. Weil unter den Teilnehmer:innen auch BDS-Akteur:innen, vor allem aber BDS-nahe Positionen und Forderungen zu finden waren, wurde im Anschluss erneut diskutiert, ob BDS antisemitisch sei oder nicht.

Diese Frage schlägt sich ja auch immer wieder in Antisemitismusdebatten nieder.
Genau. Im letzten Jahr war der Angriff auf die IHRA-Antisemitismusdefinition durch verschiedene offene Briefe und Beiträge sehr prägend, wie beispielsweise durch die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ oder die sogenannte „Jerusalem Declaration“, die JDA. An diesem Papier, das unter anderem behauptet, BDS sei nicht immer „per se“ als antisemitisch einzustufen, waren unter anderem mehrere Personen aus der Kunst-und Kulturszene beteiligt. Unserer Auffassung nach ist BDS aber eindeutig als Bewegung mit antisemitischen Positionen und Forderungen zu bewerten. Die meisten, die sich im Fahrwasser der BDS-Bewegung bewegen, wissen, womit man es zu tun hat. Es ist immer auch eine Frage, mit wem man sich gemein macht und in welcher Gemeinschaft man zusammen demonstriert.

Gleichzeitig lässt sich eine jahrzehntelange Kontinuität des Israelhasses in Deutschland beobachten: Immer wieder bricht sich der Antisemitismus Bahn, dabei ist es egal, ob von Juden, dem Zionismus oder Israel gesprochen wird – es trifft immer wieder uns Jüdinnen:Juden ganz konkret.

Hat BDS bei den Demonstrationen im Mai auch eine große Rolle gespielt?
Ja und Nein. BDS hat bei diesen Demonstrationen selten einen eigenen Block oder ähnliches. Dennoch waren häufig Plakate oder Transparente mit BDS-Solidarisierungen oder identischen Forderungen zu beobachten. Neben islamistischen oder antisemitischen Sprechchören gab es bei fast allen Demonstrationen auch wieder die bekannte Parole „From the River to the Sea“. Auf den Demonstrationen fanden sich auch immer wieder – auf unterschiedlichem Eskalations- und offenem Gewaltniveau – Forderungen nach einer neuen Intifada und Sehnsüchte nach Tod und Vernichtung. Diese Form des Antisemitismus findet sich in verschiedenen Milieus und Gruppen. Es waren also verschiedene Akteur:innen, die Demonstrationen organisiert haben – Sprechchöre, Plakate etc. waren aber immer ähnlich.

Wer genau war denn bei den Demonstrationen mit dabei?
Neben antiimperialistischen, linken Gruppen demonstrierten auch zahlreiche Anhänger:innen islamistischer Gruppierungen wie die Hamas und die Muslimbruderschaft sowie die rechtsextremen Grauen Wölfe. Organisiert wurde die Demonstration u.a. vom PFLP-nahen Netzwerk ‚Samidoun‘. [PFLP steht für die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, eine palästinensische Terrororganisation] Es sind diese Allianzen und diese Kooperationen von Teilen der Linken, die wir in den Blick nehmen müssen. Dazu muss man festhalten: Die PFLP und ihr Umfeld sind ja tatsächlich eher linke und säkulare Kreise, auch wenn sie hin und wieder religiöse Inhalte transportieren. Ich persönlich erinnere mich an die islamische Revolution in Iran 1979: Auch damals haben sich Linksradikale mit Islamisten zusammengetan und sich solidarisiert. Wenn es um Israel geht, vereinigen sich diese Kreise und tragen dieselben Inhalte nach außen.

Wenn man diese Demonstrationen 2021 mit jenen im Zuge des Gaza-Krieges 2014 oder der Verlegung der US-amerikanischen Botschaft nach Jerusalem 2017 vergleicht: Ist die Intensität vergleichbar?
Ich würde schlicht von einer Kontinuität sprechen. Von den Demonstrationen 2014 wurde vor allem der Ruf „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ bekannt. Auch Verbrennungen der israelischen Flagge sahen wir sowohl 2014 als auch nach der Verlegung der Botschaft 2017. Dieselben Inhalte und Vorgänge sahen wir im Mai dieses Jahres. Das sind alles Kontinuitäten. Von 2009 und dem Gaza-Konflikt damals habe ich noch das Bild vor meinen Augen, als eine Demonstration mit über 10.000 Menschen vereinigt unter Shahada-Flaggen [Schwarze Flagge, die unter anderem von sogenannten „Islamischen Staat“ und al-Qaida benutzt wird, d. Red.] durch die Straßen gelaufen ist. Das sind also Inhalte, die kontinuierlich über Jahre hinweg öffentlich verlautbart wurden. Das Problem ist nur, dass das so von der Politik und der Gesellschaft, ja der gesamten Öffentlichkeit nicht durchgehend wahrgenommen wird und nur immer wieder zu bestimmten Zeitpunkten darüber diskutiert und gesprochen wird.

Du hattest schon die „Jerusalem Declaration“ und die Debatte um die IHRA erwähnt, die eher im links-bürgerlichen Spektrum diskutiert werden. Gleichzeitig hat man diese Eskalation auf der Straße im Mai 2021, wo die islamistische Szene unterwegs ist. In welchem Verhältnis stehen diese Prozesse zueinander?
Die Debatte um die „Jerusalem Declaration“ war tatsächlich die Krönung des Jahres. Es hat mich wirklich erschrocken, wie viele und welche Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Institutionen Stellung für diese Veröffentlichung bezogen haben. Bei einigen dieser Akteur:innen war ihre politische Haltung natürlich klar, wie jenen aus dem links-liberalen Spektrum, die regelmäßig Petitionen unterzeichnet oder Stellungnahmen veröffentlicht haben Doch in diesem Fall ging das Spektrum der Unterzeichner:innen weit darüber hinaus. Es waren bekannte Professor:innen, Vertreter:innen von Vereinen und öffentlichen Institutionen. Das Äußern von Unmut in dieser Intensität nicht zuletzt über die Resolution des Bundestages bezüglich der BDS Bewegung hat mich wirklich irritiert. Früher hätte ich mir eine solche Stellungnahme nicht vorstellen können.

Warum glaubst du, dass ausgerechnet 2021 die Debatte darüber, was Antisemitismus denn ist –gleichzeitig aber das Bedürfnis, israelbezogenen Antisemitismus davon auszunehmen – wieder so stark öffentlich wahrnehmbar und vertreten ist?
Schon vor 2021 war der Nährboden für solche Äußerungen bereitet. Mittlerweile gibt es keine Hemmungen, keines Tabus mehr, was sich bei den diesjährigen Demonstrationen gezeigt hat. Seit 2014 konnten wir die Entstehung von Bewegungen wie PEGIDA, Mahnwachen und Wutdemonstrationen beobachten. Bestimmte Kreise haben sich seitdem nochmal radikalisiert.

Zu betonen ist, dass sich israelbezogener Antisemitismus in allen Teilen der Gesellschaft beobachten lässt und anschlussfähig ist. Bei Demonstrationen beispielsweise, auf denen entsprechenden Narrative Anklang finden und verbreitet werden, ist zumeist eine äußerst heterogene Zusammensetzung von Personen zu beobachten.

Welche Rolle spielt heute der israelbezogene Antisemitismus in der extremen Rechten? Und wie viel Anklang finden sie damit auch andernorts?
Israelbezogener Antisemitismus war, ist und bleibt ein Bestandteil der politischen Rechten. „Die Juden sind unser Unglück“ – das gilt seit der Nazizeit. Diese Art des Antisemitismus war nie weg. Dennoch haben auch früher schon DVU oder Republikaner versucht, in der Mehrheit der Gesellschaft Fuß zu fassen. Ich erinnere mich an eine Zeit, als ich Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin war. Ein führender Kopf der Republikaner sandte uns doch tatsächlich einen Brief mit der Anregung, gemeinsam zu arbeiten und Vergangenes zu vergessen, da wir ja einen gemeinsamen Feind hätten. Diese Taktik des Andockens an die sonstige Gesellschaft ist auch heute ganz offensichtliche Strategie der Neuen Rechten. Diese Versuche sind während der Corona-Demonstrationen nun besonders eindeutig und sichtbar geworden. Umso wichtiger ist es, dass sich Jüdinnen:Juden von diesen Versuchen der Vereinnahmung abgrenzen!

Was muss passieren in Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus?
Gerade im Bildungsbereich muss viel geschehen. Um israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen, müssen die Leute wissen: Es geht hierbei nicht um Kritik an der israelischen Gesellschaft oder an der Politik des Staates. Manchmal wird Israel gar überhaupt nicht genannt, seit einiger Zeit ist vor allem „Zionisten“ zu einem Codewort geworden. Auch solche Codes müssen kenntlich gemacht werden, um zu verstehen, wie sich Antisemitismus heute äußert. Selbstverständlich darf man Israel und seine Politik wie die jedes anderen Staates kritisieren. Aber wenn ich Menschen höre, die anfangen mit „Ja, darf man Israel überhaupt noch kritisieren?“, dann weiß ich von vornherein, wohin die Reise geht.

Eine konkrete Forderung in Bezug auf Demonstrationen und Äußerungen auf Kundgebungen: Antisemitismus muss unter Strafe gestellt werden. Denn bisher ist das nicht der Fall. Man kann Paragraph 130 einbeziehen. Aber in der Praxis stellen wir fest, dass die rote Linie der konkreten Strafbarkeit viel zu hoch liegt. Bei etlichen Fällen wurde Antisemitismus sogar erkannt und eine Aussage als antisemitisch eingestuft. Strafbarkeit folgte daraus aber nicht.

Die zweite Sache ist die polizeiliche Erfassung von antisemitischen Vorfällen. Bei der Innenministerkonferenz wurde schon darüber gesprochen: Straftaten, bei denen die Täter:innenmotivation nicht zuordenbar ist, dürfen nicht einfach per se dem rechtsextremen Spektrum zugeteilt werden. Zudem muss die Erfassung viel vertiefter funktionieren, diversifiziert werden. Sie muss genauer erfolgen, um endlich von staatlichen Stellen offizielle und handfeste Zahlen zu Antisemitismus in Deutschland zu haben.

Das JFDA tritt offen als jüdisch auf. In Bezug auf die Demonstrationen im Mai: Was ist eure jüdische Perspektive?
Die Demonstration zum 1. Mai wurde unter anderem mit einem Konterfei beworben, das starke Ähnlichkeiten zu Leila Khaled aufwies – das wurde teilweise geleugnet und auf eine Verwechslung hingewiesen, aber wir alle kennen ihr Konterfei. Diese Frau ist nicht nur einfach eine Terroristin. Sie hat bei ihren Entführungen ganz konkret „Selektionen“ jüdischer Menschen durchgeführt. Deshalb ist für uns als jüdischer Träger die Bewerbung der Demonstration mit dieser Person einfach unfassbar. Wie kann man das tun? Aber das ist ein bekanntes Phänomen.

Ansonsten besteht unsere jüdische Perspektive vielleicht daraus, dass wir sensibilisiert sind. Wir haben als Betroffene quasi ausgeprägtere „Sensoren“. Wir haben einen anderen Bezug zu Antisemitismus, auch zu Israel. Wir haben eine zusätzliche emotionale Verbindung, die hilft, gewisse Prozesse früher zu entdecken als die nicht-betroffene Mehrheitsgesellschaft. Deshalb versuchen wir, die gesamte Gesellschaft auf dieses Problem des Antisemitismus aufmerksam zu machen und dafür zu sensibilisieren. Antisemitismus ist nicht das Problem von Jüdinnen:Juden allein, sondern das der gesamten Gesellschaft. Wenn Jüdinnen:Juden von Antisemitismus betroffen sind, dann betrifft das jede:n von uns.

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