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Antislawischer Rassismus Anfeindungen gegen Menschen und Läden mit Bezug zum postsowjetischen Raum

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Symbolbild Gewalt. (Quelle: Pixabay / Kira Hoffmann)

Russland führt in der Ukraine seit dem 24. Februar einen Angriffskrieg. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland zeigt sich seitdem überaus solidarisch. Sie sammeln Medikamente und andere humanitäre Güter für das Kriegsgebiet. Viele unterstützen auch Hilfsangebote für ukrainische Geflüchtete. Doch in den letzten Wochen häufen sich leider auch Meldungen von rassistischen Anfeindungen gegen russischsprachige Menschen und als russisch wahrgenommene Geschäfte und Restaurants in Deutschland.

Dass Menschen wegen ihrer vermeintlichen Abstammung Opfer von Anfeindungen werden, muss als Rassismus benannt werden und ist grundsätzlich nicht hinnehmbar. Es spielt keine Rolle, ob diese Gewalt verbal oder körperlich ist. Es ist egal, ob sie sich als beleidigender Social-Media-Post oder in Form von eingeschlagenen Scheiben vor russischen Lebensmittelgeschäften artikuliert. Russische Restaurants in Deutschland mit beleidigenden Kommentaren zu überziehen, hat auch mit dem Aufruf des Hacker-Kollektivs „Anonymous“ wenig bis gar nichts zu tun. Denn dort ging es darum, durch Google-Maps-Bewertung von Restaurants in Russland die Wahrheit über die Geschehnisse in der Ukraine an die russische Bevölkerung zu transportieren.

In Deutschland lebende Migrant:innen haben keine Schuld an einem Krieg, den Putin und seine Regierung vom Zaun gebrochen haben. Es ist nicht einmal so, dass alle in Deutschland lebenden Menschen aus Russland der Propaganda des Kremls glauben würden. Viele sind fassungslos angesichts des Krieges und der zunehmenden Unterdrückung der innerrussischen Opposition. Sie haben Verwandte in der Ukraine, gehen auf die Straße und engagieren sich in vielfältiger Weise gegen diesen Krieg und das Leid der ukrainischen Bevölkerung.

Andere Umstände verschärfen die Absurdität der Anfeindungen. Solche Taten offenbaren letztlich eine tiefliegende Ignoranz der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Denn festzuhalten bleibt, dass viele der Menschen, die hierzulande wohl vor allem wegen ihrer Sprache oder ihres Akzents als „Russen“ oder „Russinnen“ gelesen werden, genau genommen gar keine Russen:Russinnen sind. Stattdessen stammen russischsprachige Migrant:innen aus allen ehemaligen Teilrepubliken der riesigen Sowjetunion, nicht zuletzt auch aus der Ukraine. Für manche ist Russisch dabei die Muttersprache, andere eigneten sich die offizielle Sprache des Sowjetimperiums als Zweitsprache an. Bei sehr vielen Menschen, die seit den 1990ern nach Deutschland kamen und jetzt in russischen Restaurants und Geschäften verkehren, handelt es sich zudem um Russlanddeutsche Spätaussiedler:innen und jüdische Kontingentflüchtlingen. Diese zwei Gruppen waren in der Sowjetunion Opfer staatlich verordneter Unterdrückung, sie haben alltägliche Diskriminierung erlebt. Nach ihrer Migration stellten und stellen sie verbittert fest, dass sie für Deutsche oftmals doch diskriminierungswürdige „Russen“ und „Russinnen“ sind.

Rassistische Anfeindungen gegen Menschen, die aus Russland oder anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks stammen, sind in Deutschland folglich nichts Neues. Dabei greift auch der Einwand nicht, dass es Rassismus “gegen Weiße” gar nicht geben könne. An dieser Stelle offenbart sich vielmehr ein mangelndes Geschichtsbewusstsein. Denn explizit rassistisch fundierte Ressentiments gegen Russen:Russinnen und andere Osteuropäer:innen haben in Deutschland eine lange Tradition. Eine besonders große Rolle spielte antislawischer Rassismus, also Rassismus gegen Menschen, die als Bestandteil einer vermeintlichen „slawischen Rasse“ wahrgenommen wurden, in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs und im Nationalsozialismus. Hier fand der antislawische Rassismus den verheerendsten Ausdruck in der nationalsozialistischen Formel von den „slawischen Untermenschen.“ Diese menschenverachtende, rassentheoretische Vorstellung legte den Nährboden für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten, dem Abermillionen von Menschen aus Staaten wie Tschechien, der Slowakei, Polen und der ehemaligen Sowjetunion zum Opfer fielen. Auch in der Ukraine löschten die deutschen Besatzer ganze Dörfer und Ortschaften buchstäblich aus. Zumindest Rechtsextreme wie Erik Lehnert und die anderen rechtsradikalen „Denker“ vom Schnellrodaer „Institut für Staatspolitik“ haben diese Form von Rassismus augenscheinlich nicht vergessen (vgl. IB Doku auf Twitter). Darum sollten wir es erst recht nicht tun.

Laut einer Sprecherin der Polizei Berlin hat diese seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine mit Stand 11.03.2022 etwa 100 Angriffe auf Menschen aus dem postsowjetischen Raum allein in Berlin registriert. So seien Gebäude und russische Vereine attackiert worden, russische Medien, Botschaftsmitarbeiter und Privatpersonen angegangen worden. Es geht meist um Sachbeschädigung, Bedrohung und Beleidigungen (vgl. Tagesspiegel).

Dokumentation

Im Folgenden dokumentiert Belltower.News Anfeindungen gegen russischsprachige Menschen und Einrichtungen in Deutschland, die mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung stehen. Diese Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit – wenn Sie weitere Vorfälle kennen und beschreiben können, mailen Sie uns: belltowernews@amadeu-antonio-stiftung.de

19. März 2022

  • Laut den Norddeutschen Neusten Nachrichten verzeichnete die Rostocker Polizei bis zum 19. März im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zwei Übegriffe von strafrechtlicher Relevanz: In beiden Fällen kam es zu Auseinandersetzungen, Beleidigungen und Bedrohungen, in einem Fall zusätzlich zu einer Körperverletzung.

16. März 2022

  • Bericht Morgenpost: „Unbekannte haben am Dienstag Glasflaschen auf die Fenster der russisch-orthodoxen Kirche „Schutz der Gottesmutter“ an der Wintersteinstraße in Berlin-Charlottenburg geworfen. Wie die Polizei mitteilte, ereignete sich die Sachbeschädigung gegen 11.35 Uhr [des 16. März 2022]. Drei Fensterscheiben wurden dabei beschädigt. Verletzt wurde niemand. Verantwortliche der Kirche teilten den Ermittlern mit, dass derzeit Flüchtlinge aus der Ukraine dort untergebracht sind. Derzeit sind sind die Hintergründe der Tat noch unklar, wie die Polizei weiter mitteilte.“

15. März 2022

  • Hövelhof (NRW): Der Grundschüler Lian, wird von seinen Mitschüler:innen als Russe gelesen: „Ein Kind aus seiner Parallelklasse sei plötzlich zu ihm gekommen und habe gemeint: ‚Du blöder Russe, ihr macht überall Krieg und ihr bringt Menschen um! Geh zurück zu deinem scheiß Putin!’“ Lians Mutter mache den Fall publik: „’Ich finde das ganz schlimm. Ich habe mich tatsächlich auch ein bisschen reingesteigert. Als Mutter kriegt man dann einfach Angst‘, gesteht die junge Mutter ganz offen.“ Die Mutter kam als Kind nach Deutschland, ihre Familie hat russlanddeutsche Wurzeln, der Vater stammt eigentlich aus der Ukraine. (vgl. Der Westen).

11. März 2022

  • Am 11. März 2022 ist auf die deutsch-russische „Internationale Lomonossow-Schule“ in Berlin-Marzahn ein Brandanschlag verübt worden.  (vgl. Tagesspiegel, Twitter).

8. März 2022

  • Anastassia Pletoukhina kam mit ihrer Familie als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Die Familie stammt teilweise aus Russland und teilweise aus der Ukraine. Die Direktorin einer jüdischen Bildungsorganisation berichtet in einem Gastartikel für Cicero, wie Konten von Familienangehörigen, die einen russischen Pass haben, bei der Deutschen Bank teilweise gesperrt waren. Zum 8. März waren manche Funktionen nach wie vor eingeschränkt, Kontoneueröffnungen für in Deutschland lebende Russen:Russinen waren auch bei der Sparkasse und der Volksbank nicht möglich. Eine Vorwarnung seitens der Banken habe es nicht gegeben. Pletoukhina erinnert daran, dass solche Schritte nicht etwa russische Oligarch:innen treffen, sondern „in erster Linie Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, arbeiten, Steuern zahlen und ihren Lebensmittelpunkt nur in Deutschland haben.“

5. März 2022

  • Laut Business Insider erhält ein russisches Restaurant in Berlin-Mitte seit Kriegsbeginn zahllose Mails und Anrufe. Darin heißt es etwa „Wir verbrennen euch“. Eine Kellnerin spricht von bis zu zehn Drohanrufen pro Tag, viele der Anrufenden hätten „offensichtlich“ Deutsch als Muttersprache. Eine Kellnerin aus einem russischen Restaurant in West-Berlin berichtet ähnliches. Beide Restaurants haben auch Mitarbeiter:innen mit ukrainischen Wurzeln, die Betreiber:innen sind gegen den Krieg, doch das hält die Drohungen nicht ab. Das Personal habe Angst.

4. März 2022  

  • Bremen: Das georgisch-armenische Restaurant „Stresemanns CasaNova“ erhält auf Google die schmähende Review: „Hier schmeckt auf einmal alles nach Blut von unschuldigen Kindern“. Dass die Inhaberin aus Armenien stammt und ihr Ehemann deutscher Spätaussiedler aus der Ukraine ist, gerät dabei zur Nebensächlichkeit (Twitter, Butenunbinnen.de).
  • Am Universitätsklinikum der LMU München kündigte eine Ärztin an, dass sie die ambulante Behandlung von russischen Pa­ti­en­t*in­nen ablehne (vgl. Twitter). Die Klinik distanzierte sich am Mittwoch in einer Pressemitteilung und erklärte, es handele sich um „eine einzelne, persönliche Meinung, die in einer sehr emotionalen Situation verschickt worden“ sei (vgl. taz, t-online).

3. März 2022

  • „Ein Großteil meiner Familie ist in der ehemaligen UdSSR aufgewachsen. Wir sprechen fließend russisch, aber wir haben nicht wirklich was mit Russland zu tun. Meine Mutter erzählt mir heute, dass ihre Friseurin sie verbal angegriffen hat: ‚ihr Russen seit…‘“, berichtet eine Person mit sowjetisch-jüdischem Hintergrund (Twitter).
  • Bericht RND: „Unbekannte haben in Oberhausen eine Fensterscheibe eines russisch-polnischen Supermarkts zerschlagen und weiße Farbe an die Fassade geschmiert. Der Staatsschutz der Polizei Essen untersuche den Fall, den man noch nicht abschließend beurteilen könne, sagte am Donnerstag ein Polizeisprecher. Die Pressesprecherin der im Ruhrgebiet und in Niedersachsen verbreiteten Supermarktkette, Anastasia Kirsch, sagte, sie habe den Eindruck, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Vorfall und dem Krieg in der Ukraine gebe. Hundertprozentig könne man es natürlich nicht sagen, aber es habe schon in der vergangenen Woche eine Farbschmiererei gegeben und jetzt am Mittwoch wieder.”

1. März 2022

  • Ein Restaurant in Baden-Württemberg erklärt Besucher:innen mit russischem Pass für unerwünscht. Die Betreiber gaben an, ihnen sei bewusst, dass “der ‘normale’ russische Staatsbürger” keine Schuld am Handeln der Regierung trage, jedoch sei es Zeit, ein Zeichen zu setzen (vgl. t-online)

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