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documenta15 Reue, Rücktritte und ein Fünf-Punkte-Plan von Staatsministerin Roth

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Das Fridericianum ist einer der zentralen Räume der documenta. Auf dem Friedrichsplatz davor war ein antisemitisches Wandbild ausgestellt. (Quelle: Wikimedia / Helmlechner / CC BY-SA 4.0 / )

Der Antisemitismus-Eklat bei Deutschlands wichtigster Kunstausstellung geht ungebrochen weiter. Während der Vorsitzende des documenta-Forums zurückgetreten ist, nachdem er die Abhängung des Skandal-Gemäldes kritisiert hatte, bleibt die Geschäftsführerin im Amt und freut sich über „die wunderbar anregende, einladende Atmosphäre“.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) hat auf den Skandal mittlerweile mit einem Fünf-Punkte-Plan reagiert und fordert „strukturelle Reformen“. Die Ministerin kritisiert die Organisator*innen: „Die Geschäftsführung und das künstlerische Kuratoren-Kollektiv hatten mehrfach versichert: Es werde keinen Antisemitismus auf der Documenta geben. Darauf habe ich vertraut. Dieses Vertrauen ist enttäuscht worden“, heißt es in der Erklärung, die der Spiegel zitiert. Roth will zukünftig mehr Einfluss des Bundes, der aktuell keine „hinreichende Mitwirkungsmöglichkeit“ habe. Sie wolle den Gesellschaftern der Kunstausstellung, also dem Land Hessen und der Stadt Kassel, deswegen eine „andere“ rechtliche und organisatorische Struktur vorschlagen. Roth fordert mehr internationale Expertise und will die „Pluralität der deutschen Gesellschaft einschließlich des Zentralrates der Juden“ als Teil der Organisation etablieren.

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Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, kritisiert den Plan der Staatsministerin auf Twitter, der Skandal sei einer mit Ansage gewesen. Die Einbindung des Zentralrats dürfe „nicht der Ersatz dafür sein, sich endlich mit Antisemitismus im Kunst- und Kulturbetrieb auseinander zu setzen“, so Reinfrank.

Die Jüdische Allgemeine hatte am Mittwoch den Rücktritt der Ministerin gefordert. „Wie also kann es sein, dass jüdische Künstler aus Israel von der Weltkunstausstellung in Kassel gezielt ausgeschlossen wurden? Wie kann es sein, dass Proteste von jüdischen Verbänden gegen diese Entscheidung komplett ignoriert wurden? Wie kann es sein, dass auf der documenta das wohl scheußlichste antisemitische ‚Kunstwerk‘ ausgestellt wurde, das seit 1945 öffentlich in Deutschland zu sehen war?“, fragt die Zeitung und nennt Verantwortliche: „Dass die documenta nun weltweit mit Antisemitismusskandalen statt mit feinsinnigen Kunstbetrachtungen Schlagzeilen macht, dafür ist – neben documenta-Chefin Sabine Schormann, Hessens Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) und Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) – allen voran Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) verantwortlich.“

Roth hatte das indonesische Kollektiv ruangrupa, das für die Kuration der documenta15 verantwortlich ist, im Vorfeld vor Antisemitismusvorwürfen in Schutz genommen: „Die Herkunft aus einem bestimmten Land sollte nicht vorab zu Verdächtigungen führen, möglicherweise antisemitisch zu sein“, so Roth. Obwohl Antisemitismus in Indonesien weit verbreitet ist und das Land keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhält, hatte Roth abgewiegelt: „Das kann ich schlecht finden. Aber es kann nicht heißen, dass ein Künstler oder Kollektiv aus Indonesien deshalb per se verdächtig ist.“

Den Eindruck, den der Langzeitskandal der Kunstschau – Warnungen von Expert*innen und Beobachter*innen hatte die documenta und die Verantwortlichen monatelang ignoriert – auf Juden und Jüdinnen gemacht hat, fasst die Jüdische Allgemeine zusammen: „Ganz gleich, mit wem diese Zeitung in den letzten Tagen zwischen Berlin und Bonn oder Konstanz und Kiel gesprochen hat – mit Schoa-Überlebenden, Künstlern, Funktionären, Journalisten oder ganz normalen Gemeindemitgliedern –, die Betroffenheit, das Entsetzen, ja der Schock unter jüdischen Deutschen ist immens.“

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In einem Interview der HNA mit der weiterhin amtierenden documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann werden Juden und Jüdinnen dagegen mit keinem Wort erwähnt. Schormann freut sich über „die wunderbar anregende, einladende Atmosphäre“ der Kunstschau. Auf dem zentralen Platz der documenta im Zentrum von Kassel wurden mit dem Werk „People’s Justice“ antisemitische Karikaturen des Künstlerkollektivs Taring Padi gezeigt, die Juden als Schweine darstellen oder als raffgierige Kapitalisten mit spitzen Eckzähnen, verziert mit der Aufschrift SS.

Nur die Spitze des Eisbergs: Im Zyklus „Guernica Gaza“ von Mohammed Al Hawajiri wird Pablo Picassos „Guernica“ nachgestaltet und damit das Handeln Israels mit dem der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten gleichsetzt. Hamja Ahsan bewirbt in einer Installation „Halal Fried Chicken“, darunter läuft ein Ramadan-Gruß, zusammen mit der Botschaft „Taste of a Liberated Palestine“. Auf Facebook fordert er die Vernichtung Israels. Das Kollektiv Subversive Films zeigt „Film-Fragmente“ von Maso Adachi, „dem gefeierten Regisseur experimenteller Agit-Prop-Filme und ehemaligen Mitglied der Japanischen Roten Armee“, das soll laut documenta-Programm „Auskunft über die weitestgehend übersehene und nicht dokumentierte antiimperialistische Solidarität zwischen Japan und Palästina geben“. Die Terrorgruppe Japanische Rote Armee Fraktion ermordete am 30. Mai 1972 am Flughafen Lod bei Tel Aviv 26 Menschen und verletzte viele weitere.

Documenta-Geschäftsführerin Schormann spricht im Interview von „Fehlentwicklungen oder Missverständnissen“, betont die Verantwortung des Kurator*innen-Kollektivs für das antisemitische Wandbild und nimmt es im gleichen Atemzug in Schutz: „Aber auch für Ruangrupa sind die Schwierigkeiten, welche die Corona-Pandemie mit ihren vielen Einschränkungen für die künstlerische Vorbereitung der documenta mit sich brachte, nicht zu unterschätzen: die Beschränkung aufs Digitale oder die Tatsache, dass viele Akteure erst sehr spät persönlich zusammenkommen konnten. Viele Dinge konnten deswegen erst in Erscheinung treten, als sie gehängt wurden.“ Aber nicht nur Corona ist schuld am Antisemitismus, sondern dann war da auch noch das „Tohuwabohu des Eröffnungswochenendes“, daher sei die „antisemitische Darstellung“ einfach „zunächst nicht aufgefallen“. Die Geschäftsführerin kündigt Podiumsdiskussionen, einen „Dialograum“ und eine systematische Untersuchung der Ausstellung an.

Denn offenbar weiß noch niemand, was vielleicht noch kommen könnte. Laut Schormann sei dem Kurator*innenteam aufgrund „unterschiedlicher kultureller Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist“ – als wäre die Darstellung von Juden als Schweinen außerhalb Deutschlands akzeptabel. Man habe den Kurator:innen „mehrere Einführungen gegeben“ und „trotzdem war ihnen nicht klar, dass ein solches Motiv in Deutschland so eingeschätzt wird. Daraus resultiert auch eine gewisse Gefahr, dass ohne böse Absicht von Ruangrupa auch noch etwas anderes übersehen worden sein könnte.“

Die Kurator*innen von ruangrupa haben sich mittlerweile für das antisemitische Wandbild entschuldigt: „Es ist unser Fehler. Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachtern verursacht haben“, schreibt das Kollektiv auf der Website der documenta. Das Wandbild von Taring Padi wurde am 21. Juni abgebaut. Demonstrierende, viele davon offenbar Künstler*innen, skandierten währenddessen israelfeindliche und antisemitische Sprechchöre.

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Einen Rücktritt hat der Skandal mittlerweile doch gefordert. Jörg Sperling, Vorsitzender des documenta-Forums – dem Unterstützer*innenkreis der Ausstellung – hatte den Abbau der antisemitischen Kunst kritisiert: „Eine freie Welt muss das ertragen“, sagte er in einem Interview. Das Werk von Taring Padi sei eine von der Kunstfreiheit gedeckt Karikatur, die „auf politischen Druck hin“. Wie eng „Israelkritik“ und Antisemitismus miteinander verbunden sind, wird deutlich, wenn Sperling fortfährt: „Die Kunst hat ein Thema aufgebracht, das außerhalb der Kunst liegt: das Verhältnis von Palästinensern und Israelis. Dieses Problem kann die Kunst nicht lösen, das kann auch die documenta nicht lösen.“ Bei „People’s Justice“ gibt es keinen Zusammenhang mit Israel. Taring Padi will sich in dem Werk von 2002 nur mit der 32-jährigen Militärdiktatur Suhartos in Indonesien befasst haben. Dafür habe man „in Indonesien verbreitete Symbolik“ verwendet, hieß es in einer Stellungnahme.

Das documenta-Forum reagierte auf das Statement und distanzierte sich vom eigenen Vorsitzenden. Die Äußerungen gäben „ausschließlich die persönliche, nicht autorisierte Meinung“ Sperlings wieder. Das Forum begrüße den Werkabbau und verurteile die „antisemitischen und menschenverachtenden Motive“. Jörg Sperling ist mittlerweile von seinem Posten als Vorsitzender zurückgetreten. „Zu dem, was ich gesagt habe, stehe ich nach wie vor“, sagte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur.

Foto oben: Wikimedia / Helmlechner / CC BY-SA 4.0

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