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[tacheles_2] Die „Causa Mbembe“ – Antisemitismus und Postkolonialismus

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(Quelle: Unsplash (bearbeitet))

Im Frühjahr 2020 beschäftigte die sogenannte „Causa Mbembe“ die politische Öffentlichkeit und füllte die Feuilletons fast aller Zeitungen. Ausgangspunkt war die Forderung des FDP-Politikers Lorenz Deutsch, Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale auszuladen. Dem postkolonialen Theoretiker wurde vorgeworfen, den Holocaust zu relativieren und den Staat Israel zu delegitimieren. Als sich Felix Klein, der Bundesbeauftragte für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, in einem öffentlichen Statement der Forderung anschloss, entwickelte sich der Konflikt zu einem handfesten Feuilletonstreit.

Mbembe fühlte sich einer „gigantischen Diffamierungskampagne mit rassistischen Zügen“ ausgesetzt und unterstellte, der Antisemitismusvorwurf sei nur vorgeschoben. In dem am 8. Mai 2020 auf seinem Facebook-Account unter dem Titel „Les conditions morales de la lutte contre l’antisémitisme“ („Die moralischen Bedingungen des Kampfes gegen Antisemitismus“) veröffentlichten Text schrieb Mbembe, Deutsch habe nicht sagen können, „dass er mich ablehnt, weil ich antikoloniale Thesen vertrete. Oder weil ich für die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter eingetreten bin. Oder weil ich mich gegen Europas Umgang mit Migranten und Asylsuchenden ausspreche.“ Stattdessen habe er eine „teuflische Idee“ gehabt: „Ein antisemitischer N**** – das schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe!“ [Anm. d. Red.: Im Originalzitat schreibt Mbembe das N-Wort aus, Belltower.News hat entschieden, das Wort nicht zu reproduzieren.]

Unterstützung erhielt Mbembe unter anderem von Wissenschaftler:innen, Intellektuellen und Künstler:innen, jüdischen wie nicht-jüdischen, insbesondere aus Deutschland, Israel und den USA. Jüdische Intellektuelle und Künstler:innen forderten die Absetzung Kleins als Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. In einem zweiten Schreiben verteidigten Wissenschaftler:innen Mbembe gegen den Vorwurf der Holocaust-Verharmlosung. Es entspann sich eine hitzige Debatte über die Beziehung zwischen Postkolonialismus und Antisemitismus, ein „neuer Historikerstreit“ oder „Historikerstreit 2.0“, der bis heute anhält und immer wieder neuen Zündstoff erhält. So etwa durch die Texte von Michael Rothberg mit seinem Konzept einer „multidirektionalen Erinnerung“ oder auch A. Dirk Moses, der die These vom Holocaust als Katechismus der Deutschen aufstellte. Anstatt sich mit möglichen antisemitischen Ressentiments in Teilen der postkolonialen Theorie auseinanderzusetzen und die Äußerungen Mbembes zum Holocaust und zu Israel sachlich zu untersuchen, scheint es, als werde der Spieß umgedreht und inhaltliche Kritik mit einem generellen Rassismusvorwurf gekontert. Doch was ist dran an den Vorwürfen gegen Mbembe und die Postcolonial Studies?

Verkürzte Begriffe

Eine zentrale Kritik an Teilen der Postcolonial Studies richtet sich gegen einen verkürzten Antisemitismusbegriff. In vielen postkolonialen Texten wird Antisemitismus als eine Form des Rassismus und somit als soziales Dominanzverhältnis verstanden. Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn versteht Antisemitismus hingegen als Weltbild, als „eine grundlegende Haltung zur Welt“. Somit unterscheide sich der Antisemitismus grundlegend von anderen Formen der Diskriminierung.

Postkoloniale Kritik tendiert aufgrund dieses verkürzten Antisemitismusbegriffs dazu, die Massenvernichtung der Jüdinnen:Juden in der Shoah zu relativieren. Viele Theoretiker:innen der Postcolonial Studies beklagen wiederholt ein vermeintliches Tabu des Vergleichens von Holocaust und Kolonialverbrechen und versuchen, eine historische Kontinuität zwischen beiden Verbrechenskomplexen aufzuzeigen.

Ganz im Sinne der Kontinuitätsthese merkt etwa Mbembe in seinem Buch „Politik der Feindschaft“ an, dass die „Logik des Konzentrationslagers“ ihren Ursprung im Kolonialismus habe und dass diese Konzentrationslager „schon lange vor deren Systematisierung und Radikalisierung durch das Dritte Reich“ existiert hätten. Zwar betont er an einer Stelle den Unterschied zwischen den kolonialen und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, wenn er schreibt, dass die Nationalsozialisten eine „wesentliche Funktion“ hinzufügten, nämlich „den geplanten Massenmord“, doch schon kurz darauf fügt er relativierend hinzu, die Deutschen hätten „[e]inen Massenmord dieser Art […] schon 1904 in Südwestafrika erprobt, wo man die Hereros erstmals der Zwangsarbeit innerhalb des KZ-Systems unterwarf“. Er reiht damit die Shoah in die Kontinuität anderer Gewaltverbrechen ein und stellt zumindest implizit die Singularität der Shoah in Frage. Singularität, nach Steffen Klävers meint dabei, dass sich ein bestimmtes Ereignis so in der Geschichte noch nicht ereignet hat, sich aber unter ähnlichen Voraussetzungen prinzipiell in ähnlicher Art und Weise wiederholen kann. Durch die Gegenüberstellung der Dynamiken und Funktionsweisen von NS-Antisemitismus und kolonialem Rassismus gehe die Spezifik des Antisemitismus verloren, was zu einer Relativierung des Holocaust führe, so Klävers weiter. Innerhalb der Postcolonial Studies ist zudem der Vorwurf weit verbreitet, die Rede von der Singularität der Shoah stehe dem Gedenken an die Opfer der Kolonialverbrechen im Wege.

Der verkürzte Antisemitismusbegriff in Teilen der Postcolonial Studies führt auch dazu, dass zentrale aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus, insbesondere der israelbezogene Antisemitismus, entweder ausgeblendet oder nicht erkannt werden. Analog zur bereits angeführten Annahme eines vermeintlichen Tabus, den Holocaust mit den Kolonialverbrechen zu vergleichen, sind postkoloniale Theoretiker:innen oft der Auffassung, dieses Tabu gelte gleichsam auch für Kritik am Staat Israel. Angeblich werde jede Form der Kritik pauschal mit der sogenannten „Antisemitismuskeule“ abgestraft. Doch ein solches Tabu existiert nicht, so die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel. Stattdessen bezieht sich sogenannte „Israelkritik“ nicht selten auf antisemitische Ressentiments. Ohnehin ein problematischer Begriff, der es sogar in den Duden geschafft hat, ganz im Gegensatz etwa zu den Begriffen „Russlandkritik“ oder „Türkeikritik“. Hier wird ein Doppelstandart deutlich. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch werde der Begriff der „Israelkritik“ wesentlich häufiger gebraucht, so Jan Riebe, Antisemitismusexperte der Amadeu Antonio Stiftung.

Legitime Kritik oder Antisemitismus?

Um zwischen legitimer Kritik an Israel und israelbezogenem Antisemitismus zu unterscheiden, hat Nathan Sharansky den sogenannten 3-D-Test entwickelt. Das erste D steht für Dämonisierung. Darunter fallen unter anderem Vergleiche, die Israel mit Nazi-Deutschland, palästinensische Flüchtlingslager mit nationalsozialistischen Konzentrationslagern oder Gaza mit dem Warschauer Ghetto gleichsetzen. Damit soll Israel als Inbegriff des Bösen dargestellt werden. Das zweite D steht für Doppelstandards. Diese liegen vor, wenn Kritik an Israel selektiv angewendet wird, wenn also ausschließlich die Politik Israels kritisiert wird, während Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern wie beispielsweise China, Russland oder Iran ignoriert werden. Das dritte D steht für Delegitimierung. Demnach ist Kritik an Israel dann antisemitisch, wenn das Existenzrecht Israels angezweifelt wird, indem der Staat zum Beispiel als das letzte Überbleibsel des Kolonialismus dargestellt wird. Dabei wird Israelis zudem abgesprochen, sich zu verteidigen und sicher in ihrem eigenen Staat zu leben.

Mbembes Theorien sind zweifelsfrei wichtig für die Postcolonial Studies. Er selbst zählt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Für sein Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ wurde er 2015 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet und stieß eine neue Debatte über Zusammenhänge von Kapitalismus, „Rasse“/race und Globalisierung an. Doch bezüglich seiner antisemitischen Äußerungen sind seine Ansätze stellenweise durchaus problematisch.

So scheint auch er seinen Antisemitismus als vermeintliche Israelkritik zu tarnen. 2015 steuerte er ein Vorwort zu einer Publikation mit dem Titel „Apartheid Israel“ bei, deren Erlös an eine BDS-Gruppe ging. Im Vorwort behauptet er, die Besetzung Palästinas sei „der größte moralische Skandal unserer Zeit“. Für Mbembe ist die Politik der israelischen Regierung damit schlimmer als beispielsweise der Terror des sogenannten Islamischen Staates oder die Unterdrückung der Uiguren in China.

Israelische Trennungsfantasien

Wirft man einen Blick in „Politik der Feindschaft“, stellt sich heraus, dass insbesondere der israelbezogene Antisemitismus weniger eine Ausnahme, als die Regel im Werk des Historikers darstellt. In diffuser Sprache beschreibt Mbembe ein Subjekt, welches aufgrund einer „Vernichtungsangst“ ein „beängstigendes Objekt“ imaginieren würde. Um „die eigene Sicherheit angesichts [dieser] äußeren Bedrohung zu gewährleisten“ möchte es dieses „beängstigende Objekt“ erobern. Weil dieses Objekt jedoch nur in der Vorstellung existiere, müsse es „unablässig erfunden werden“. Hieraus sei der „Wunsch nach einem Feind, der Wunsch nach Apartheid (Trennung und Einschließung) und Ausrottungsphantasien“ entstanden. Dieses Subjekt identifiziert Mbembe in einem nächsten Schritt als Israel und verdeutlicht seine Argumentation an der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete. Demnach sehnt Israel eine Bedrohung herbei, um damit angeblich eine Apartheid zu begründen. Zugespitzt wird das Ganze in der indirekten Behauptung, Israel hege Ausrottungsphantasien gegenüber den Palästinenser:innen. Zum einen zeigen sich hier Delegitimierung und Dämonisierung aus dem 3D-Test. Zum anderen verkennt es die reale Bedrohung, die palästinensische Extremisten für die israelische Zivilbevölkerung darstellten und darstellen.

An anderer Stelle im Buch schreibt er, die Maßnahmen im Zuge der „israelische[n] Besetzung der palästinensischen Gebiete“ erinnerten an das „berüchtigte Modell der Apartheid mit ihren Bantustans“ [Anm. d. Red.: auch „Homelands“ genannt, die geographisch definierten und der schwarzen Bevölkerung zugewiesenen Gebiete in Südafrika während der Apartheid]. Jedoch, so führt er aus, reiche „die Metapher der Apartheid“ nicht aus, um das „israelische Trennungsprojekt“ zu erfassen. Die „Auswirkungen des israelischen Projekts auf die Palästinenser“ seien „aufgrund ihres Hightech-Charakters weitaus schlimmer als die vergleichsweise primitiven Maßnahmen, die das südafrikanische Apartheidsregime von 1948 bis Anfang 1980 ergriff“. Die „fanatische Zerstörungsdynamik“ Israels ziele darauf ab „das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Berg aus Müll zu verwandeln“. Erneut eine Dämonisierung Israels.

Rachsüchtiges Israel

In einem Interview von 2008 mit der Zeitschrift „Esprit“ vergleicht Mbembe Apartheid und Shoah und benutzt dabei den Umweg über die Aufarbeitung der Ereignisse. In dem Gespräch geht es unter anderem um die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission. Diese wurde 1996 eingesetzt, um die politisch motivierten Verbrechen während der Zeit der Apartheid aufzuklären und so zur Versöhnung beizutragen. Auf die Frage nach seiner Einschätzung zur Wahrheits- und Versöhnungskommission stellt er eine befremdliche Theorie über die Lehren aus der „südafrikanischen Erfahrung“ auf: „Wenn die Tatsache, ein Opfer der Weltgeschichte zu sein, zum Fetisch gemacht wird“, würden diese Opfer selbst wünschen, „Blut zu vergießen“. Dabei werde jedoch nicht das Blut der „Täter“ vergossen, sondern „das eines anderen, egal von wem“. Um den Fetisch aufrecht erhalten zu können, müssten immer wieder neue Opfer „umgebracht werden […], um den Opfergott zu besänftigen“. Zentral für diese „Opferökonomie“ ist seines Erachtens „das Verlangen nach Sühne“, welches „die Form des Rachegeistes – Auge um Auge und Zahn um Zahn“ annehme. Mbembe stellt den alttestamentarischen Spruch in einen falschen Kontext. Tatsächlich sagt „Auge um Auge und Zahn um Zahn“, dass die Strafe in einem angemessenen Verhältnis zum Verbrechen stehen muss. Mbembe aber sieht darin Rachegelüste und reproduziert so das antisemitische Klischee einer jüdischen Rachesucht. Das bereitet seine Kritik gegen Israel vor. Versucht man nämlich Mbembes abstrakte Ausführungen zu konkretisieren, benötigte Südafrika seines Erachtens den „Opfermord“ für die eigene Identitätsstiftung. Um diesen „Opfermord“ jedoch zu vermeiden, sei die Wahrheits- und Versöhnungskommission eingerichtet worden. Dies unterscheide Mbembe zufolge „die südafrikanische Erfahrung von der eines Landes wie Israel“. Mbembe fährt fort, dass jene Staaten, „die sich hauptsächlich als Opfersubjekte definieren“, oft als „hasserfüllte Subjekte“ erscheinen würden, „die nie aufhören können, den Opfermord nachzuahmen und anderen all die Grausamkeiten zuzufügen, deren Sühneopfer sie selbst einst waren.“

Laut Mbembe ahmen Israelis als „hasserfüllte Subjekte“ also den „Opfermord“ nach. Zugespitzt verübe der jüdische Staat demnach einen zweiten Holocaust. Hier zeigt sich neben der Dämonisierung und Delegitimierung Israels auch eine Täter-Opfer-Umkehr sowie damit einhergehend eine Relativierung der Shoah. Auch, dass er anscheinend implizit behauptet, Jüdinnen:Juden seien „Sühneopfer“ der Nazis gewesen, lässt die geschichtsrevisionistische Argumentation Mbembes deutlich werden.

Ein anderes Verständnis

Antisemitismus ist ein komplexes Phänomen mit zahlreichen Facetten, welches nicht leicht zu fassen ist. Im Gegensatz zum Rassismus, der von der Minderwertigkeit bestimmter Personengruppen ausgeht, schreibt die antisemitische Projektion dem Gegenüber unglaubliche Macht, Klugheit und Gerissenheit zu. Antisemitismus funktioniert also durch ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber Jüdinnen:Juden bzw. das Gefühl von ihnen unterdrückt zu werden, was eine weitere Täter-Opfer-Umkehr ist. Auch im Fall Mbembes scheint dieser Mechanismus in gewisser Weise zu greifen. So wird der Kritik an seinen Texten, von ihm, genauso wie von seinen Unterstützer:innen, meist mit einem Rassismusvorwurf begegnet: der Antisemitismusvorwurf sei demnach nur ein Vorwand, um nicht-weiße Personen – wie Mbembe selbst – zu diffamieren.

Doch wie aufgezeigt wurde, findet sich tatsächlich Antisemitismus in Mbembes Argumentationen, die Vorwürfen sind nicht nur ausgedacht oder konstruiert, und dienen auch nicht zur Diffamierung seiner Person oder Position. Dass Antisemitismus der Rassismuskritik inhaltlich in der Regel entgeht, hat damit zu tun, wie er in seiner Struktur und als Phänomen in den Postcolonial Studies, zumindest in Teilen, begriffen wird. Wenn die Strukturspezifika des Antisemitismus nicht erkannt werden, erschwert dies den Umgang mit Antisemitismus und ebenso die Bekämpfung. Die Antwort der Postcolonial Studies auf einen begründeten Antisemitismusvorwurf darf deshalb nicht darin bestehen, Rassismus gegen Antisemitismus auszuspielen. Hingegen bedarf es eines anderen Verständnisses von Antisemitismus. Dann steht eine Kritik des Antisemitismus einer Kritik des Rassismus nicht mehr im Wege.

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