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Ernst Berliner Ein jüdischer Radtrainer auf der Suche nach Gerechtigkeit für NS-Opfer Albert Richter

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Albert Richter um 1911 beim Kölner Stadtwaldrennen (Quelle: Horst Nordmann / www.coelner-zweiraeder.de)

„Es ist ein großer Verlust für Sie, auf Albert jetzt verzichten zu müssen, auch ein großer Verlust für Deutschland, ich meine für das freie neue Deutschland, denn keiner anderer als Ihr Sohn Albert wäre berufener gewesen, die sportlichen Beziehungen international wieder herzustellen.“ Man wird „seine freie, antifaschistische Auffassung zu würdigen“ verstehen.Brief Ernst Berliners an Albert Richters Eltern

Er war 75 Jahre alt, als er 1966 noch einmal von Miami aus in seine ehemalige Heimatstadt Köln reiste. Ernst Isidor Berliner war voller Ambivalenzen und Verletzungen: 1937 hatte der ehemalige Kölner Radmeister und renommierte Radtrainer mit seiner Familie in die Niederlande emigrieren müssen, 1940 ging er in den Untergrund und 1947 – da hatten die Nazis bereits den größten Teil seiner Familie, darunter sechs seiner sieben Geschwister, ermordet – emigrierte er weiter in die USA. Mit Köln wollte er wirklich nichts mehr zu tun haben. Diese Stadt hatte ihn ausgespuckt, nur mit sehr viel Glück hatten er, seine Frau und seine Tochter im niederländischen Untergrund überlebt.

Ernst Berliner, der überlebende Jude, reiste nach 29 Jahren nur aus einem einzigen Grund in die ihm fremd gewordene ehemalige Heimat: Er wollte die Ermordung seines ehemaligen Schülers und Schützlings Albert Richter in Gestapohaft vor ein deutsches Gericht bringen. Und er hielt Kontakt zu Richters betagten Eltern, die einen erbitterten Kampf um Entschädigungsgelder für den Mord führten. Ihr letzter Kampf scheiterte: Im Mai 1967 schließt die Staatsanwaltschaft endgültig die Akten. In dem Film Tigersprung ist Berliners vom Aufklärungswillen angetriebene Reise nach Köln in teils fiktiver Weise künstlerisch rekonstruiert worden. Nach einem Jahr stellte das Gericht den Prozess endgültig ein.
Alles war vergeblich gewesen. Deutschland war kein Land, das bereit war, wie man sich heute auszudrücken beliebt, seine Vergangenheit „aufzuarbeiten“. Deutschland blieb das Land, das den Mördern Schutz gewährte und die Opfer erneut und ein letztes mal entwertete. So zumindest musste es dem jüdischen Emigranten und ehemaligen Kölner Radprofi und Radrenntrainer Ernst Berliner erscheinen. Berliners Kampf um die „Gerechtigkeit“, um die Erinnerung an den vorsätzlich Ermordeten, war gescheitert. „Sein Name ist für alle Zeiten in unseren Reihen ­gelöscht“, hatte die Zeitung des deutschen Radsportverbands unmittelbar nach Richters Ermordung triumphiert. Sie hatte Recht behalten.

Biografische Anfänge im Kölner Griechenmarktviertel

Ernst Isidor Berliner wird am 25.1.1891 im Herzen Kölns, in der Alexianerstraße Nr. 34, geboren; diese liegt im eng gebauten, kölsch-jüdisch geprägten Griechenmarktviertel. Heute finden sich auf der Alexianerstraße 13 Stolpersteine, darunter vor dem Haus Nr. 34 einer, der an die 1905 geborene Meta Berliner, Ernst Berliners Schwägerin, erinnert. Die am 3.7.1905 in Helsen unter dem Namen Reinhard Geborene emigrierte nach Antwerpen, wurde dennoch gefasst und am 19.4.1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt; nach dem Krieg wurde sie für tot erklärt.

Auf den Straßen wird gleichermaßen kölsch wie jiddisch gesprochen. Der Radsport war seinerzeit die dominierende Sportart, noch vor Fußball, mit teils vielen Tausend Zuschauern. Auch Ernst Berliner begeistert sich früh für den Radsport. Sein Ehrgeiz und Fleiß zahlen sich aus: 1912, da ist er 21, wird er Kölner Stadtmeister auf der 400 Meter langen Köln-Lindenthaler Stadtwaldbahn.

Trainer des Ausnahmetalents Albert „Teddy“ Richter

Ernst Berliner gewinnt gemeinsam mit Jean Küster als Partner zahlreiche Siege im Mannschaftsrennen (Franz 2007a, S. 63), wendet sich jedoch bald vom aktiven Radnennsport ab. Jean Küster wird später, auf die Kölner Geschichtsschreibung und Stadtgesellschaft bezogen, eine Berühmtheit: Als langjähriger Schatzmeister im Kölner Festkomitee des Karnevals und heimlicher Begründer sowie späterer langjähriger Präsident der traditionsreichen „Lyskircher Jungs“, einer berühmten Kölner Karnevalsgesellschaft.
Nach seinem Abschied vom aktiven Leistungssport arbeitet Ernst Berliner als Journalist und Manager von Radsportlern. Berliner gilt rasch als „Multitalent“ (Franz 2007a, S. 62) und ist der Manager u.a. von Gottfried Hürtgen, Viktor Rausch, Hans Zims, Martin Küster, den Brüdern Suter, des Kölner „Fliegers“ Mathias Engel, Peter Steffes, Paul Oszmella sowie Paul Krewers.

Berliner, dessen Prinzipienfestigkeit und Strenge wohl teils gefürchtet war – so soll er es nicht gerne gesehen haben, wenn seine Schützlinge Alkohol tranken oder einmal eine Trainingsstunde verpassten – wirkt sich fördernd und ermutigend für den jungen Albert „Teddy“ Richter aus: Er erkennt das Talent des 1912 geborenen Autodidakten, bindet ihn an sich; bald verbindet sie eine enge Vater-Sohn-Beziehung.

Der proletarische Autodidakt Albert Richter, anfangs noch unsicher, wird vor allem aus finanziellen Motiven Radprofi. Sein Vater und Bruder sind in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise arbeitslos, mit seinen ersten Honoraren finanziert er den Familienhaushalt: „Meine Familienverhältnisse zwangen mich zum Wechsel ins Profilager“, zitiert ihn der Film Auf der Suche nach Albert Richter (1989). „Arbeit konnte ich keine mehr aufnehmen wollte ich den geliebten Sport nicht aufgeben.“ Er ist auf diesen Unterhalt angewiesen, „um meine Angehörigen besser unterstützen zu können.“

Schnell wird Richter in Köln ein gefeierter, von Tausenden umjubelter Star. Auf historischen Fotos und Filmen sieht man ihn in der Menschenmenge. „Wie Albert Weltmeister war, war Ehrenfeld zu klein für ihn“ erinnert sich im Film im breitestem kölschen Dialekt ein Weggefährt. Albert wächst schrittweise in Berliners Familie hinein: Erna Berliner bereitet für ihn Mahlzeiten, gemäß den sportlichen Vorstellungen ihres Ehemannes, also „rohes Gehacktes“.

Berliner handelt alle Verträge für den aus proletarischen Verhältnissen stammenden, mit Vorliebe Kölsch sprechenden Albert Richter aus, legt für ihn bald auch Konten in Radfahrmetropolen wie Amsterdam, Paris und der Schweiz an. Auf ihn kann Richter sich vorbehaltlos verlassen. Berliner ermutigt den proletarischen Jungen aus Köln-Ehrenfeld, für einige Monate nach Paris zu gehen. Die Millionenstadt ist zu diesem Zeitpunkt das Zentrum des Radsports, dort findet der junge Mann renommierte Radsportfreunde. Gemeinsam mit Jef Scherens und Louis Gérardin treten sie als „die drei Musketiere“ in der Öffentlichkeit auf. Da sind sie, gefördert durch Berliners professionellen Blick, bereits international als Radsportler bekannt.

Mit Ernst Berliner als Trainer gewinnt Albert Richter 1933 seinen ersten Deutschen Meistersprint, 1934 und 1935 wird er Vizeweltmeister. Offiziell jedoch muss der Jude Berliner nach der Selbstgleichschaltung des Bundes Deutscher Radfahrer unter Vorsitz von Ferry Orthmann am 13. April 1934 sowie wegen der nationalsozialistischen Rassegesetze seine Trainertätigkeit für Richter niederlegen. Die Selbstgleichschaltung der deutschen Radsportler wird im Eiltempo vollzogen. Der „Arierparagraph“ wird unverzüglich als verbindlich übernommen und angewendet.

Selbstauflösung und Selbstanpassung

1934 publiziert die Illus das letzte Foto, auf dem Berliner – als Trainer in schwarzem Jacket beim Start neben einem Rennfahrer stehend – zu sehen ist. Die 35 Verbände des DRV werden aufgelöst, Führungspositionen gemäß dem „Arierparagraphen“ besetzt. Der bisherige Chefredakteur des 1921 in Breslau gegründeten, wöchentlich erscheinenden Vereinsblattes „Illustrierte Radrenn-Sport“ (Illus), Erich Kroner (1888-1937), Organisator zentraler Rennen und nebenberuflicher Verfasser von Radio-Reportagen, wird wegen seiner jüdischen Abstammung im Februar 1933 entlassen und ins KZ Sachsenhausen verbracht. Dessen Nierenleiden verschlimmert sich in der Haft; kurz nach seiner Entlassung verstirbt der erst 49-Jährige.

Kronauers Nachfolger wird der Radsport-Journalist Fredy Budzinski (1879-1970), seit 1924 Chefredakteur des Verbandsorgans BDR und seit 1926 Pressesprecher des „Vereins Deutscher Fahrradindustrieller“ (VDFI). Für Richter war er, neben Richters Vater Johann und Ernst Berliner, eine dritte Vaterfigur. Budzinski, der mit der Jüdin Emma Grau verheiratet ist, muss nach nur einem Jahr gleichfalls seine Stellung aufgeben. Budzinskis Posten übernimmt der SS-Mann Viktor Brack (1904 – 1948), dessen Titel fortan Reichsradsportführer lautet. Brack, Mitglied der NSDAP sowie der SS und zeitweise Chauffeur Himmlers, vereinigte die Ämter des deutschen Amateur- und Berufsradsports in einer Person. Ab 1939 ist er Mitorganisator der Aktion T4, also der Vorbereitung und Durchführung der massenhaften Tötung von „Geisteskranken“ und von Behinderten. Nach der Ermordung Richters – und von Mord sollten wir nur noch sprechen – lässt er falsche Gerüchte und Meldungen über den Tod Richters verbreiten. Nach dem Krieg ist er Angeklagter im Nürnberger Ärzteprozess und wird am 20.8.1947 zum Tode verurteilt.

In Frankreich, dem der aus proletarischen Verhältnissen stammende Weltbürger Richter sich bald innerlich verbunden fühlt, wird dieser nach dem zweimaligen Gewinn des Grand Prix de Paris eine Berühmtheit, das französische Publikum jubelt dem „deutschen Acht­zylinder“ zu. Ernst Berliner, der dessen vorhandenes Talent durch eine Mischung aus Disziplin, Strenge und familiärer Verbundenheit gefördert hatte, ist zwischenzeitlich zum väterlichen Freund Richters avanciert. Berliners Tochter Doris sagte Richters Biographin Renate Franz: „Albert war der Sohn, den mein Vater nie hatte.“

Albert Richters sportliche Triumphe reißen nicht ab. In den Jahren von 1933 – 1939 wird er ununterbrochen Deutscher Meister. Der Mitzwanziger Albert Richter nimmt bewusst wahr, dass die Nazis Ernst Berliner bedrohen. Der mehr oder weniger deutlich formulierten Forderung, sich als „Arier“ von seinem jüdischen Trainer zu trennen, lehnt Richter nicht nur ab: Er verachtet sie. Richter weiß, wem er seinen kometenhaften Aufstieg zur internationalen Radsportlegende verdankt. Ernst Berliner bleibt er innerlich loyal – und zeigt sich auch bei internationalen Rennen in europäischen Metropolen gemeinsam mit seinem jüdischen Trainer. Und er zeigte keine Angst vor den Nationalsozialisten: Öffentlich bezeichnet er diese als „Verbrecherbande“, 1934 verweigert er bei einer Siegerehrung in Hannover den Hitlergruß. Das Foto erscheint in der Weltpresse, sehr zum Ärger der Nationalsozialisten. Bei Auftritten im Ausland weigert Richter sich, ein Trikot mit dem Hakenkreuz zu tragen oder den Hitlergruß zu zeigen.

1937: Emigration in die Niederlande

Als Berliner infolge der Rassegesetze Berufsverbot erteilt wird, emigriert er im September 1937 mit Ehefrau Erna und der achtjährigen Tochter Doris in die Niederlande. Wohl keine ­Sekunde zu früh, denn an den Hauswänden vor seiner früheren Wohnung hängen wenig später Flugblätter mit der Parole „Der Jüd ist entflohen“.

Anfangs lebt Berliner mit seiner Familie im niederländischen Hulsberg. Vorausschauend hatte er zuvor einen Teil seiner Ersparnisse in die Niederlande bringen können. Neben Richter, über dessen Aufenthalt und Starts er weiterhin regelmäßig informiert war, betreut Berliner niederländische Radsportler. Bei internationalen Auftritten Richters bleibt er weiterhin dessen Trainer. Dies ruft den Neid „arischer“, weniger erfolgreicher Kollegen hervor. Diese erkennen, dass nur die „Betreuung“ des Ausnahmetalents Richter ihnen eine finanzielle Unabhängigkeit gewähren könnte. Experten und ehemalige Weggefährten sehen hierin eine der Motive für Richters Ermordung wenige Jahre später.

Im August 1938 zieht Ernst Berliner mit seiner Frau und seiner inzwischen neunjährigen Tochter Doris nach Amsterdam, wo er weiterhin, wegen seines ungesicherten Status als „feindlicher Staatsangehöriger“ (in den bedrohten Niederlanden galt der Jude Berliner weiterhin zuvörderst als Deutscher) mehr oder weniger „illegal“ bzw. hinter den Kulissen, als Radsportmanager arbeitet. Im Juli 1939, sechs Wochen vor Kriegsbeginn, emigriert er mit seiner Tochter weiter nach England; seine Frau bleibt auf eigenem Wunsch zusammen mit ihrer Mutter in Amsterdam. Nach einem Hilferuf seiner Frau kehrt er wieder in die Niederlande zurück.

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande im Mai 1940 taucht die Familie bei einer holländischen Familie unter, muss mehrfach ihr Versteck wechseln. Ihre Tochter Doris wird zeitweise getrennt von ihren Eltern untergebracht; sie verteilt dennoch Flugblätter gegen die deutschen Nationalsozialisten.

Albert Richter hält zu seinem im niederländischen Exil lebenden jüdischen Trainer weiterhin vertrauensvollen und engen Kontakt. 1938 – er fährt sowohl bei den „Fliegern“ als auch im Stehersport Erfolg nach Erfolg heraus und wird vom Standesmagazin „Deutscher Radfahrer“ in einer sechsteiligen Folge hymnisch gefeiert – treten sie bei der UCI Bahn-Weltmeisterschaft im Olympiastadion Amsterdams gemeinsam auf, trotz der hierdurch bedingten Gefährdung Richters durch die Nationalsozialisten. Der politisch erfahrenere Berliner achtet darauf, dass er bei internationalen Starts auf keinem Pressefoto gemeinsam mit Albert Richter zu sehen ist. Dennoch sieht man sie vereinzelt gemeinsam auf Filmaufnahmen; in der eindrücklichen frühen Filmdokumentation Auf der Suche nach Albert Richter  ist eine solche Filmaufnahme eingearbeitet worden.

Am 9. Dezember 1939 gewinnt Richter noch einmal, von der Menge um­jubelt, bei den Profis den Großen Preis von Berlin. In seinem letzten Brief an seinen Freund Berliner versicherte er diesem: „Das ist mein letzter Start, meine letzte Reise nach Deutschland.“ Richter plant seine Flucht. Die Gestapo versucht, ihn bei Hausbesuchen unter Verweis auf seine Freundschaft mit Berliner zu erpressen – vergeblich. Nun weiß er, dass er möglichst rasch ins Ausland emigrieren muss. Bekannte eines jüdischen Freundes, des Kölner Textilhändlers Alfred Schweizer, der 1938 ins Ausland geflohen war, vertrauen ihm 12 700 Reichsmark, Schweizers letzten Ersparnisse, an; diese möchte er über die Grenze schmuggeln und übergeben (vgl. Franz 2007a, S. 121). Als die Geldübergabe aus widrigen Umständen mehrfach verschoben werden muss, plagen Richter Gewissensbisse. Ernst Berliner warnt ihn vor dieser „illegalen“ Aktion und bittet ihn nachdrücklich, das Geld wegen der Eigengefährdung nicht in die Schweiz zu überbringen, sondern es Alfred Schweizers weiterhin in Köln lebender Mutter zurück zu bringen.

Die Flucht in den Tod – und mutmaßliche Denunzianten

Am 31. Dezember 1939 bricht Richter mit dem Zug in die Schweiz auf, das Geld hat er in die Reifen seines Rennrades eingenäht. Richter wird in Lörrach gezielt kontrolliert, das Geld entdeckt. Es kann als gesichert betrachtet werden, dass Albert Richter verraten worden ist, die Namen der mutmaßlichen Denunzianten, Werner Miete und Werner Steffes, sind in der Literatur und in Filmen immer wieder genannt worden; Ernst Berliner sollte die Namen in einem Brief an den Kölner Oberbürgermeister bei seiner Strafanzeige zur Aufklärung der Ermordung Richters im Jahr 1966 ebenfalls nennen.

„Auf der Suche nach Albert Richter“: Das Interview mit dem Ehepaar Steffes

1989, 50 Jahre nach Richters Ermordung entsteht der eindrückliche NDR-Film Auf der Suche nach Albert Richter – Radrennfahrer von Raimund Weber und Tillmann Scholl; dieser ist eine auch heute noch wertvolle Quelle, um mögliche Denunzianten und Täter zu benennen. Denn Täter muss es gegeben haben. Es werden in dem Film zahlreiche Freunde und Kollegen Richters aus Köln sowie aus der internationalen Radsportszene interviewt. Nahezu alle schließen es aus, dass Richter, wie die Nationalsozialisten kolportierten, Suizid begangen haben. Insbesondere die letzten bildlichen Szenen des Films, das die filmische Rekonstruktion abschließende Interview mit dem Ehepaar Steffes, könnte wesentliche Aspekte zur Aufhellung der Ermordung Richters und möglicher Denunzianten liefern. Interviewt werden Peter Steffes und dessen Ehefrau – also einer der Männer, die Berliner als mögliche Zeugen oder Denunzianten benannte. 1992, drei Jahre nach Erscheinen des Filmes, verstarb Steffes.
Steffes, fünf Jahre älter als Richter, war Ende der 1930er Jahre als Radmanager letztlich gescheitert: Richter wollte sich nicht durch ihn vertreten lassen, er hielt weiterhin zu Berliner. Sowohl in der Literatur als auch im besagtem Film wird hervorgehoben, dass aus Richters unmittelbarem Umfeld letztlich nur eine Person Grund zum Neid gehabt habe: Peter Steffes. Obwohl Berliner Steffes in seiner Strafanzeige zumindest als Zeugen benannt hatte, wurde dieser von der Staatsanwaltschaft nie vernommen.

Steffes, der an mehreren Stellen des Interviews lieber seine Ehefrau Trude über die Umstände des Todes seines langjährigen Radfahrerkollegen Richter sprechen lässt, gerät beim Interview zunehmend in emotionale Aufregung; seine Ehefrau gleichfalls. Empört sind sie vor allem über Ernst Berliner: „Das war ein Schweinehund! Der hat uns sehr zugesetzt. (…) Der ist doch ausgewandert, der Berliner. Dem ist doch nichts passiert“, ruft Trude Steffes erregt über den jüdischen Emigranten und Überlebenden.

Als Einzige der im Film Interviewten Zeitzeugen, dafür jedoch mit großem Nachdruck, insistieren sie beim Gespräch über Richters Tod auf die von der Gestapo – bzw. von der NS-Sportführung – kolportierte Version, dass Richter Suizid begangen habe.

Der Ermordete und die Legenden

Richter wird im Lörracher Grenzgefängnis inhaftiert, drei Tage später ist er tot; wir sollten es als gesichert betrachten, dass er von der Gestapo ermordet worden ist. Die Vehemenz, mit der die Nationalsozialisten unmittelbar nach Richters Ermordung immer neue Legenden zu den Umständen seines Todes verbreiten – anfangs lancieren sie die Formulierung, Richter sei „plötzlich aus dem Leben geschieden“, es folgen Meldung vom Ski-Unfall, dann vom „Freitod“ – spricht eine eindeutige Sprache.

Das NS-treue Magazin Der deutsche Radfahrer vermeldet Richters Tod – verknüpft mit einer gezielten Verhöhnung des Ermordeten. „Im Interesse des deutschen Radsports“ müsse festgehalten werden, dass Richter „ein Verbrechen begangen“ habe, „von dem der deutsche Radsport in seiner Gesamtheit nicht weit genug abrücken“ könne. Richter habe – damit spielte das NS-treue Radfahrermagazin unmittelbar auf den geflohenen Ernst Berliner an – „für einen Kölner Juden zu wiederholtem Male“ den Versuch unternommen, „größere Markbeträge in die Schweiz zu verschieben“. Damit habe er sich „außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft und selbstverständlich genau so kraß außerhalb der Gemeinschaft des deutschen Sports gestellt. Daraus hat er die einzig mögliche Konsequenz gezogen und den Freitod gesucht.“

1947: Emigration in die USA

Ernst Berliner, mit seiner gesamten jüdischen Familie selbst existentiell gefährdet, erfährt im niederländischen Exil vom Tod seines Schützlings und Freundes – und ist zutiefst deprimiert. 1947 emigriert der 56-jährige mit seiner Ehefrau Erna und seiner Tochter in die USA; nur seinem jüngeren Bruder Theodor sollte die Flucht in die USA noch gelingen, alle anderen sechs Geschwister wurden ermordet. Zahlreiche weitere Familienmitglieder wurden im Auftrag der Deutschen ermordet. Dennoch besucht Berliner wenige Jahre später seine frühere Heimatstadt, um das Schicksal seines Freundes aufzuklären. Er stößt nur auf Schweigen.

Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang „nach 1945“ innerhalb der Gilde der Radsportler, dazu gab es wenig Anlass – eine Einschätzung, die für wohl alle Berufsgruppen der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik galt. Das „neue“ Führungspersonal der Radsportfunktionäre setzte sich ganz überwiegend aus ehemaligen Nationalsozialisten zusammen. Gerhard Schulze (1899 – 1976) etwa, von 1955 – 1959 Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR), war zwischen 1933 und 1945 „Reichsjugendfachwart“ des „Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen“ gewesen und verfasste entsprechende enthusiastische Lobeshymnen auf die Hitlerjugend (HJ).

Der letzte Kampf des Vertriebenen

Richters betagter Vater Johann, den Berliner sogar noch aus den USA finanziell unterstützt, führt in der Nachkriegszeit einen erbitterten Kampf um Entschädigung und Rehabilitation seines ermordeten Sohnes. 1960 schreibt er an den Kölner Regierungspräsidenten – und bezieht sich hierbei auch auf den emigrierten jüdischen Trainer: „Alle Sportkameraden meines Sohnes erklären anschließend, daß mein Sohn sterben mußte, weil er der damaligen Regierung nicht zu Willen war und sich nicht in das Spionagenetz einspannen ließ. Ebenfalls berichtet der Manager meines Sohnes, der Jude Ernst Berliner, jetzt New York, von dem Druck, dem mein Sohn ausgesetzt war, und daß mein Sohn aus diesem die Absicht hatte, Deutschland zu verlassen. (…) Deshalb mußte mein Sohn sterben.“

Johann Richters Kampf bleibt ­erfolglos. Der Kampf um die „Wiedergutmachung“ ist der letzte Akt einer verzweifelten Würdelosigkeit. Der aus Köln vertriebene Jude Berliner, dessen Familie zum größten Teil von den Deutschen ermordet worden ist, findet auch 26 Jahre nach der Ermordung seines Schützlings keine Ruhe. Er fühlt sich dem ermordeten Kölner Ausnahmetalent weiterhin verpflichtet und erstattet im Februar 1966 von Miami aus in Bonn Anzeige „gegen Unbekannt“ wegen der Ermordung Richters. Er benennt anzunehmende Hauptschuldige und Zeugen. 1966 reist Berliner, 75 Jahre alt, noch einmal nach Köln und spricht in seiner ehemaligen, ihm fremd gewordenen Heimatstadt mit „früheren“ Nationalsozialisten sowie mit Weggefährten Richters.

Es ist ein letztes Aufbäumen des Mittsiebzigers gegen das millionenfache Unrecht, den millionenfachen Mord, ein sprachloser Aufschrei eines vertriebenen Juden, der das Unrecht nicht hinnehmen möchte. Und es ist ein erschütterndes Dokument eines letzten verzweifelten Protestes, das nur auf deutsches Schweigen, Hohn und Erniedrigung stößt. Der ehemalige Kölner Publikumsliebling Albert „Teddy“ Richter soll in Köln endgültig vergessen werden. Der letztlich Einzige, der den kollektiven deutschen Frieden stört, ist der Jude Berliner. Es ist eine Geschichte, die sich in den Jahrzehnten danach immer wieder wiederholen sollte, mit anderen Protagonisten und der gleichen Leidenschaft zum Vergessen und zur Schuldumkehr. Der Antisemitismus lebt weiter, er hat nie aufgehört zu existieren.

Im Mai 1967, ein Jahr nach Ernst Berliners letzter Reise nach Köln, schließt die Staatsanwaltschaft die Akten. Ein NS-Gewaltverbrechen sei auszuschließen.

Der Rest ist ein Epilog. Den Eltern von Albert Richter schreibt Berliner: „Es ist ein großer Verlust für Sie, auf Albert jetzt verzichten zu müssen, aber auch ein großer Verlust für Deutschland, ich meine für das freie neue Deutschland, denn keiner anderer als Ihr Sohn Albert wäre berufener gewesen, die sportlichen Beziehungen international wieder herzustellen.“

Für Michael Hokkeler, Vorsitzender des Kölner Radsportvereins „Racing Team Cölle dasimmerdabei“ (RTC DSD), ist Albert Richter in seinem Mut und Gradlinigkeit ein Vorbild an Zivilcourage: „Das Verhältnis zwischen Sportler*innen und ihren Trainer*innen ist häufig besonders, aber eine Verbundenheit wie bei Albert Richter und Ernst Berliner über den Sport und alle Widrigkeiten hinaus findet man in der Geschichte vermutlich kein zweites Mal. Mutig und bedingungslos angesichts der damit verbundenen Risiken in der Nazi-Diktatur standen beide zueinander. Dass Ernst Berliner sich erneut ins Land der Täter aufgemacht hat, um den Tod seines Freundes aufzuklären, spricht für sich.  Auch wenn der ohnehin schwere und demütigende Gang an die stummen Stammtische der einstigen Weggefährten, unter denen mutmaßlich auch die Missgünstigen und die Verräter saßen, erfolglos blieb, so setzte er damit doch ein unglaubliches Zeichen der Zuneigung und Verbundenheit. Ich empfinde es daher als Verpflichtung nicht nur an den großen Sportler Albert Richter zu erinnern sondern im gleichen Atemzug an den großen Menschen Ernst Berliner.“

Dieser Text ist in einer längeren Version zuerst bei haGalil erschienen.

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