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Frauenhass, Rassismus, und Drohungen Was hinter dem Shitstorm gegen Sarah-Lee Heinrich steckt

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Sarah-Lee Heinrich, neue Bundessprecherin der Grünen Jugend. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow)

[Content Warnung: der Artikel thematisiert Rassismus, Misogynie und Hate Speech]

In einem besseren Land als diesem wäre die Wahl Sarah Lee Heinrichs zur Bundessprecherin der Grünen Jugend bis auf die in solchem Falle üblichen Gratulationen von Parteikolleg:innen, Freund:innen und politisch Verbündeten, auf ein paar Zeitungsartikel und eine Pressemitteilung, vergleichsweise ereignislos verlaufen. Eine junge Frau wird mit über 90 Prozent der Stimmen zur Sprecherin ihrer Parteijugend angenommen und beginnt mit ihrer politischen Arbeit.

Leider leben wir nicht in einem besseren Land als einem, in dem Rassismus und Misogynie nach wie vor virulent sind. Die Mutterpartei der Jugendorganisation der Sprecherin, die Grünen, ist seit Monaten einer beispiellosen Negativ-Kampagne von der konservativen bis zur extremen Rechten ausgesetzt.

Aktuelles Ziel ist die 20 Jahre alte Sarah-Lee Heinrich, seit dem 9. Oktober 2021 Bundessprecherin der Grünen Jugend. Es ist nicht der erste Angriff, den die Schwarze Aktivistin erlebt: bereits 2019 echauffierten sich reaktionäre Meinungsmacher wie Oliver Flesch (Antifeminismus und Verschwörungserzählungen) oder Miro Wolfsfeld (libertärer, rechtsoffener YouTuber) darüber, dass Heinrich in einem Fernsehinterview zu „Fridays For Future“ kritisiert hatte, dass es sich um eine primär weiße Bewegung handele. Im Laufe dieses Interviews verwendete sie die Worte „eklige, weiße Mehrheitsgesellschaft“, eine Formulierung, die jeder halbwegs empathische und in Bezug auf den omnipräsenten und strukturellen Rassismus in Deutschland bewanderte durchaus nachvollziehen kann. Kurz darauf erhielt die junge Frau zahlreiche empörte Nachrichten in ihrem antirassistischen Bewusstsein gekränkter Deutscher. Mit Nachrichten wie „Geh dahin zurück,  wo deine Wurzel (sic) sind“ wurde Heinrich erklärt, dass es keine systematische Diskriminierung gegen People of Colour in Deutschland mehr gäbe und sie doch lieber schweigen sollte.

Diese Angriffswelle war nur ein Vorgeschmack dessen, was Heinrich nach ihrer Wahl zur Bundessprecherin drohen würde. Es begann kurz nach der Verkündung ihres neuen Postens: der von über 20.000 Menschen – unter ihnen rechte Trolle, konservative Autor:innen und AfD-Politiker:innen – abonnierte Twitter-Account „Green Watch“ teilte um kurz nach 16:00 Uhr jenes Fernsehinterview, das sich bereits 2019 als erfolgreiches Mittel zur Stimmungsmache bewiesen hatte. Darüber der Kommentar: „Die Grüne Jugend hat heute Sarah-Lee Heinrich als Bundessprecherin gewählt. Wer das ist und warum das den Bürger interessieren sollte? Nun ja, sie hasst weiße Menschen, findet sie ekelig und steht dazu, zelebriert ihren Rassismus gar im Netz. Wir klären gerne auf.“ Dass eine Kritik an einer weißen Mehrheitsgesellschaft und Hass „gegen weiße Menschen“ nochmal zwei paar verschiedene Schuhe sind, geschenkt – aber Differenzierungen stehen dem gezielten Schüren von affekthafter Empörung  nun mal im Weg.

Quelle: Screenshot Twitter

Innerhalb kürzester Zeit kamen die ersten Beschwerden von der üblichen Mischung aus Trollen, Neonazis und „Weder Rechts noch Links“-User:innen, über die Dreistigkeit einer von Rassismus betroffenen Person, diesen und seinen Exekutoren gegenüber Abscheu zu artikulieren. „Rassismus gegen Weiße​​“. Wenige Stunden später legte der Account Green Watch nach: Er veröffentlichte eine Sammlung von vulgären, infantilen Tweets, die Heinrich im Alter von 13 und 14 Jahren gepostet hatte. Um diese Tatsache offenbar zu verschleiern, schnitt Green Watch das Datum der einzelnen Tweets heraus.

Dass die Vorwürfe an Heinrich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von Personen kommt, die sich selbst regelmäßig in menschenfeindlichen Fantasien ergehen, mag übrigens Ausdruck der bei autoritären Persönlichkeiten allseits beliebten pathischen Projektion sein: umso lauter ich’s bei anderen ankreide, desto weniger muss ich’s bei mir selbst erfassen.

Nach der Veröffentlichung der alten Tweets und nach massenhaft Bedrohungen, zog sich Heinrich vorerst aus der Öffentlichkeit zurück und löschte Tweets aus Jugend und Kindheit. „Die Löschorgie hat die Dame hinter sich gebracht. Aber keine Sorge, wir archivierten natürlich alles“, versichert der Account Green Watch-Account hämisch in einem Tweet, der auch als Warnung an andere Politiker:innen und Aktivist:innen verstanden werden muss: Ihr seid nicht sicher. Wir haben euch im Auge, und wir sammeln alles, mit dem wir euch diskreditieren können. Dass sich Heinrichs inzwischen für die antisemitischen, schwulenfeindlichen und ableistischen Tweets glaubhaft entschuldigt hat, spielt keine Rolle.

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Wenn die rechte Empörungsmaschine sich einmal warmgelaufen hat, kühlt sie so schnell nicht mehr ab. Die Postings von Green Watch wurden innerhalb weniger Stunden von zahlreichen großen rechtsradikalen Accounts wie dem verschwörungsideologischen Nachwuchs „Neverforget Niki” und dem AfD-Politiker Georg Pazderski, aber auch bürgerlichen Politiker:innen wie der ehemaligen Familienministerin Kristina Schröder (CDU) geteilt. Der Zorn schwappte auch auf andere Plattformen wie Telegram, Facebook, YouTube und rechtsextremen Medien wie Sezession und den Blog „Jouwatch“ über. „Identitären“-Frontmann Martin Sellner und obwohl in die Jahre gekommen, in der Szene immer noch einflussreich, veröffentlichte auf seinem Kanal ein hämisches Video und zahlreiche Nachrichten, in denen er die komplette Klaviatur reaktionärer Empörung bespielt: Er suggeriert, Heinrich würde für ihre Aussagen vom „Establishment“ gestützt werden, während Mitglieder rechter Parteien für rassistische Aussagen sofort geschasst würden. Er fordert Politiker:innen von AfD und FPÖ auf, gegen die junge Frau zu mobilisieren, pathologisiert sie. Was natürlich auch nicht fehlen darf bei einer Schwarzen Frau: die Aussage, sie solle doch nach Afrika auswandern.

In den Kommentaren ergießen sich Sellners Anhänger in rassistischen und sexistischen Hassfantasien, die sich in ähnlicher Form in unzähligen anderen Kanälen mit stellenweise über hunderttausend Abonnent:innen finden lassen. Stereotyp rassistische Aussagen wie der Rekurs auf Baumwollplantagen, die Verwendung des N-Wortes, Afrika-Bezüge oder Anspielungen auf abwesende Väter dominieren hier den Diskurs. Auch explizite Morddrohungen ließen nicht lange auf sich warten.

Quelle: Screenshots Telegram

Im Shitstorm gegen Sarah-Lee Heinrich zeichnen sich folgende Narrative ab, die bestimmte Funktionen haben:

1)      Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Rassismus

Ein sich immer wiederholendes Narrativ der Kampagne gegen Heinrich, das es tatsächlich zu einem eigenen Hashtag gebracht hat, ist der Vorwurf des Rassismus gegen Weiße. Da es anscheinend immer noch notwendig ist, dies zu erklären: Rassismus ist die politisch und ideologisch vermittelte und durchgesetzte systematische Ausbeutung und Abwertung von People of Colour durch Weiße Herrschaft. Es kann in einer weißen Mehrheitsgesellschaft keinen Rassismus gegen Weiße geben, da Weiße nicht von struktureller Diskriminierung und Othering betroffen sind, sondern von der seit dem Kolonialismus gewaltvoll durchgesetzten rassistischen Gewalt profitieren (weitere Materialien zum Thema finden Sie hier). Zu betonen, es gäbe jedoch diesen von reaktionären Kräften beklagten „Rassismus gegen Weiße“, hat vor allem eine Täter-Opfer-Umkehr zum Ziel: Rassist:innen spalten ihre eigenen Ressentiments gegen People of Colour von sich ab und projizieren sie auf Menschen, die zu Recht wütend über die von klein auf erfahrene strukturelle Gewalt sind. Wer Opfer ist, kann kein Täter sein, so die ideologische Rechtfertigung vor sich selbst. So muss man auch die Tatsache, von einem rassistischen System zu profitieren und dies im alltäglichen Leben durch rassistisches Denken und Handeln zu reproduzieren, nicht stellen, sondern kann sich vielmehr selbst als unterdrückter Kämpfer gegen eine antirassistische Meinungsdiktatur positionieren. Schwarze Menschen und die Grüne Partei, das sind die wahren Rassisten! Dies mündet letztendlich darin, dass die nach wie vor dringend notwendigen Kämpfe gegen eine rassistische Gesellschaft delegitimiert und ins Lächerliche gezogen werden. Anstatt über Racial Profiling durch Polizeibeamte, rassistische Diskriminierung in Schule und Beruf oder den Mangel an Aufarbeitung von Kolonialverbrechen, echauffiert sich die Öffentlichkeit jetzt über arme diskriminierte Weiße. Besonders eindeutig ist hier die Nachricht des rechtsradikalen YouTubers Tim Kellner, der sagt: „nie wieder dürfen von deutschem Boden Rassismus, Hass und Hetze so propagiert werden wie von dir​​“ – eine Relativierung des Nationalsozialismus.

Quelle: Screenshot Telegram

2)      Versuch politischer Einflussnahme

Angesichts der massiven Angriffe, die die Grünen seitens der AfD immer wieder erdulden müssen und die sich im Rahmen der Bundestagswahl zunehmend zugespitzt haben, ist es leider nicht verwunderlich, dass die in ihrem Erfolgsstreben auf Bundesebene gekränkte AfD begeistert auf die Hasswelle gegen Heinrich aufspringt. Zahlreiche Politiker:innen einer Partei, die normalerweise über Rassismus schweigt oder selbst in der Vergangenheit eine ganze Reihe rassistische Äußerungen lanciert hat, möchten sich ausgerechnet jetzt sehr laut Rassismus unterhalten.

Mehrere Mitglieder der AfD adressierten in Facebook-Postings direkt den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, ob er es denn angesichts von Heinrichs Aussagen überhaupt wagen könne, mit den Grünen eine Koalition einzugehen. Der bayerische AfD-Politiker Andreas Winhart wünscht dem FDP-Chef „viel Spaß mit seinen neuen Spielkameraden Timon und Sarah-Lee“, dahinter ein Zwinkersmiley.  Er diskreditiert die FDP auch als „masochistisch“ für den Koalitionsversuch mit den „grünen Trümmergestalten und Deutschlandhassern“. Die AfD-Fraktion Mecklenburg-Vorpommern fordert gar, „die Kinder vor solchen Menschenfeinden“ wie Sarah Lee Heinrich und Christian Lindner zu schützen. Heinrich wird im Sharepic als Rassistin bezeichnet, die zu einem „radikalen Linksrutsch“ der FDP führe.

Hierbei ist es wichtig, sich eines der erklärten Ziele der AfD in Erinnerung zu rufen: das Torpedieren der parlamentarischen Demokratie. Der Versuch, die Grünen zur Partei non grata zu deklarieren und Solidaritätsbekundungen mit Heinrich schon im Voraus zu verurteilen, soll letztendlich im Zerwürfnis demokratischer Parteien münden.

3)      Misogynoir

Der Angriff gegen Sarah-Lee Heinrichs verläuft so erfolgreich, weil er gesellschaftlich weit verbreitete Ressentiments, nämlich Rassismus und Misogynie, bedient. Die Wissenschaftlerin Kate Manne benennt in ihrem Werk „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ (Suhrkamp 2020) Misogynie als Herrschafts- und Kontrollmechanismus der patriarchalen Vorherrschaft. Historisch betrachtet ist jede öffentliche Sphäre eine männlich dominierte.  Frauen und queere Menschen, die angestrebt haben, diese Sphäre zu betreten, sahen sich tragischerweise immer Gewalt und Anfeindungen ausgesetzt. Sie verlassen die ihnen zugeschriebene Rolle und fordern Sichtbarkeit und Teilhabe am öffentlichen, politischen Diskurs ein. Dies widerspricht, so Manne, den patriarchalen Anforderungen an Weiblichkeit und stellt für jenen Typ Mann eine Bedrohung dar, der in seiner fragilen Männlichkeit immer wieder die Abwertung des Nichtmännlichen – also Frauen und queere Menschen – reproduzieren muss, um sich als richtiger Mann fühlen zu können.

Misogyne Attacken sollen gerade Feminist:innen gewaltvoll daran erinnern, dass sie sich aus männlich dominierten Sphären lieber zurückziehen sollten. Sie sind eine Form von Bestrafung für die Dreistigkeit, politisch partizipieren und den Status Quo progressiv überwinden zu wollen. Gleichzeitig soll dieses Bestrafen von Frauen und queeren Menschen, die sich den patriarchalen Vorstellungen von Frausein verweigern, als Warnung an andere verstanden werden: Wenn du dich öffentlich äußern und in der Politik mitmischen möchtest, dann solltest du dich warm anziehen. Frauen und queere Menschen werden von Anfang an entmutigt, diesen Schritt überhaupt zu gehen.

Erschwerend kommt bei Heinrich hinzu, dass es sich bei ihr um eine Schwarze Frau handelt, die Rassismus kritisiert: Hier findet eine Verflechtung von Rassismus und Sexismus statt. Die feministische Aktivistin Moya Bailey spricht bei sowohl misogynen, als auch rassistischen Attacken von „Misogynoir“, da Schwarze Frauen gesellschaftlich anders betrachtet und beurteilt würden als Weiße. Durch ihre bloße Sichtbarkeit auf dem politischen Parkett fühlen sich Reaktionäre sowohl in ihrem Frauenhass, als auch ihrem Wunsch nach Weißen Suprematismus vor den Kopf gestoßen und reagieren darauf mit Gewalt. Was sich ebenfalls häufig wiederfindet, ist die Verachtung gegenüber arbeitslosen Menschen oder jenen mit wenig Geld und Einkommen. Denn eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Hasskommentare nehmen auf das Engagement Heinrichs gegen Hartz IV und die finanziellen Verhältnisse ihrer Familie Bezug. Die Botschaft ist eindeutig: Eine Schwarze Frau aus armen Verhältnissen soll gefälligst kein politisches Amt innehaben.

Zudem gilt es auch zu benennen, dass die Teilhabe an einem Shitstorm in den Angreifern selbst das massenpsychologisch vermittelte Gefühl moralischer Überlegenheit evoziert, sogar wenn man gerade Gewaltandrohungen an eine Zwanzigjährige verfasst. Der Gedankengang dahinter: Die hat eine Transgression begangen, und ist demzufolge selbst daran schuld, wenn sie dafür bestraft wird. Ich bin auf der richtigen Seite, diese Strafe zu exerzieren.  Als einer Masse von Hunderten von Menschen, Reihe an Reihe mit etablierten Meinungsführer:innen der Medienlandschaft wie den Kommentator:innen Jan Fleischhauer oder Annabel Schunke, spaltet der oder die Einzelne Eigenverantwortung für die eigenen Äußerungen ab und überträgt sie auf den Mob. Empathie oder Reflexion darüber, was die Hassnachrichten, die mit schäumendem Mund in die Tastatur getippt werden, verschwinden unter dem Taumel vermeintlich aufrechter Empörung gegen eine unbotmäßige junge Schwarze Frau.

Quelle: Screenshot Telegram

4)      Demoralisierung

Neben ihren politischen Zielen haben Shitstorms auch immer die Intention, die betroffene Person emotional und psychisch niederzumachen. Shitstorms führen oftmals dazu, dass betroffene Personen beginnen, ihr eigenes Selbstbild in Frage zu stellen. Sie fühlen sich für das Erlebte verantwortlich, schuldig, beginnen, an der eigenen Kompetenz zu zweifeln.

Opfer von Shitstorms fühlen sich oft ohnmächtig der auf sie einprasselnden Hetze ausgesetzt, schämen sich, über die psychischen Auswirkungen der Angriffe zu sprechen und ziehen sich politisch zurück. Genau das versuchen die Initiator:innen zu erreichen. Deswegen ist es im Kampf gegen Hate Speech dringend notwendig, solidarisch an der Seite der Betroffenen zu stehen und ihnen zu vermitteln, dass sie nicht alleine sind.

Zum Ende stellt sich die Frage, ob es sich bei der Kampagne gegen Sarah-Lee Heinrich um eine koordinierte Attacke handelt, oder um ein sich gegenseitiges Beflügeln großer Akteur:innen, die darüber ihre Unterstützer:innen agitiert haben (die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl analysiert in diesem Artikel die Entstehung von Shitstorms). Klar ist das zu diesem Zeitpunkt nicht, die Motivation hinter dem Twitter-Account Green Watch, von dem die Veröffentlichungen ausgingen, hingegen schon eher: Die konsequente Schädigung der Grünen Partei, deren Mitglieder und Sympathisant:innen.

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