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GTTO-Bericht Antisemitismus bei Impfgegner:innen in Polen

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(Quelle: Media Diversity Institute (MDI))

Dieser Auszug stammt aus dem Original-Bericht des Projektes „Get The Trolls Out“.

Kurze Zusammenfassung

Es gibt sichtbare Überschneidungen zwischen Bewegungen und Akteuren, die Fehlinformationen zum Impfstoff, COVID-19- Verschwörungsideologien und antisemitische Klischees in Polen fördern. Während viele Elemente sich in ganz Europa gleichen – wie z. B. antisemitische Verschwörungsideologien über die jüdische Vorherrschaft durch die Pandemie und antisemitische Vergleiche der COVID-19-Gesundheitsmaßnahmen mit Nazi-Deutschland – zeigt Polen einen außergewöhnlich hohen Anteil an offenem und extremem Antisemitismus auf allen wichtigen Social-Media-Plattformen (Facebook, Twitter und YouTube).

Der Antisemitismus in der bereits bestehenden Debatte über die Restaurierung von Immobilien aus der Zeit des Holocausts in Polen, die einen länderspezifischen Geschichtsrevisionismus beinhaltet, durchdringt und verstärkt Diskurse, die sich gegen Maßnahmen gegen die Pandemie richten. Infolgedessen verbreiten Impfgegner:innen und COVID-19- Leugner:innen Verschwörungsideologien, die besagen, dass eine ausländische Macht (ein verschlüsseltes Wort für jüdische Menschen) polnische Unternehmen und polnisches Territorium übernimmt, und zwar durch die Abriegelung und andere Maßnahmen gegen COVID-19 sowie durch die Rückgabe von Eigentum aus der Zeit des Holocaust.

Die einflussreichsten Persönlichkeiten, die Verschwörungsideologien über COVID-19 verbreiten und Hass gegen Juden:Jüdinnen schüren, sind rechtsextreme Politiker:innen, einschließlich aktueller Parlamentsabgeordneter und bekannter Medienpersönlichkeiten. Extremer Antisemitismus und COVID-19-Fehlinformationen werden auf öffentlichen Seiten, Gruppen und Konten auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen weit verbreitet. Obwohl sie gegen die Community-Standards und die Richtlinien für hasserfüllte Inhalte verstoßen, werden diese Inhalte nur selten entfernt.

Impfgegner:innen-Bewegungen und Verschwörungsideologien

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts waren etwa 53 Prozent der polnischen Bevölkerung vollständig geimpft – eine Quote, die unter dem EU-Durchschnitt liegt. Im Sommer 2021 waren die Provinzen mit den höchsten COVID-19-Infektionen und Krankenhausaufenthalten auch diejenigen mit den niedrigsten Impfraten (die Woiwodschaften Lublin, Karpatenvorland und Podlachien). In diesen Provinzen waren die Rechtsextremen in den letzten Monaten und Jahren besonders aktiv.

Viele Impfgegner:innen glauben, dass die Impfungen zum Tod führen und Teil eines geheimen Plans zur radikalen Reduzierung der Weltbevölkerung sind. Diese Verschwörungsideologien, die aus verschiedenen Varianten besteht, ist auch unter dem Namen des „Großen Neustarts“ bekannt. Sie behauptet, dass eine globale Finanzelite eine Neuordnung der derzeitigen Weltwirtschaftsordnung plant und die COVID-19-Pandemie als Rechtfertigung dafür benutzt oder sogar inszeniert hat. Microsoft-Gründer Bill Gates wird oft in den Mittelpunkt der Verschwörung gestellt, während der Finanzier George Soros ebenfalls auftaucht, allerdings in geringerem Maße. Es wird vermutet, dass die Lockdown-Maßnahmen darauf abzielen, Insolvenzen zu verursachen und die Übernahme kleiner Unternehmen durch Regierungen, globale Konzerne oder andere böswillige Akteure zu erleichtern. COVID-19- Leugner behaupten, dass COVID-19 nicht existiert oder nicht so gefährlich ist, wie es von den Behörden dargestellt wird.

Nach dieser Auffassung verbreiten Politiker:innen und Medien Lügen und handeln gegen die Interessen der „gewöhnlichen Menschen“. Die öffentliche Gesundheitspolitik ist in Polen nicht besonders streng, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Das digitale COVID-19- Zertifikat ist für den Zugang zu öffentlichen Veranstaltungsorten nicht erforderlich. Doch selbst kleinere Sicherheitsmaßnahmen, wie das Tragen des Mundschutzes, werden als „Segregation“ und „Diskriminierung“ verurteilt. Das ganze Jahr über fanden in Städten und Gemeinden in ganz Polen Straßendemonstrationen statt, die sich zunächst gegen die Abriegelung und dann gegen die Impfung richteten und an denen jedes Mal zwischen einigen Hundert und einigen Tausend Menschen teilnahmen. Bei neueren Protesten beschuldigten die Demonstrant:innen die Regierung, durch die Beschränkungen für Ungeimpfte eine „sanitäre Segregation“ zu betreiben; sie forderten, dass die als „medizinische Experimente“ bezeichneten Impfstoffe bis zum Vorliegen weiterer wissenschaftlicher Beweise für ihre Sicherheit gestoppt werden, und behaupteten, dass „die Regierung Menschen in einer ‚falschen Pandemie‘ tötet“.

Antisemitische Verschwörungsideologien zur jüdischen Herrschaft

Das klassische Klischee der jüdischen globalen Kontrolle wurde bei einigen Kundgebungen gegen das Impfprogramm deutlich. Am 18. August 2021 skandierten einige Demonstrant:innen in der westlichen Stadt Głogów, dass Juden:Jüdinnen „die Welt regieren“ und hinter der Pandemie stecken. Dieser konspirative Antisemitismus, der während des COVID-19-Ausbruchs dramatisch eskalierte ist tief in einer jahrhundertealten Tradition antisemitischer Unglücks- und Krisenbeschuldigungen verwurzelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Tendenz durch die „Protokolle der Weisen von Zion“ angeheizt, eine antisemitische Fälschung, die eine jüdische Weltverschwörung beweisen sollte und auch heute noch im Umlauf ist.

Im Zusammenhang mit der Pandemie wurde diese antisemitische Verschwörungsideologie von den Impfgegner:innen und den Gegnern der Lockdown-Maßnahmen übernommen, die die Juden:Jüdinnen beschuldigen, die COVID-19-Pandemie inszeniert zu haben, um ihren Herrschaftsplan in Polen umzusetzen. Manchmal werden bei diesen Anschuldigungen ausdrücklich Juden:Jüdinnen genannt, wie bei der Kundgebung in Głogów. In anderen Fällen werden stattdessen verschlüsselte Begriffe für jüdische Menschen verwendet, wie z. B. „Globalisten“ oder „ausländische Macht“. Diese antisemitische Ideologie ist auf allen wichtigen Social-Media-Plattformen weit verbreitet: Facebook, Twitter und YouTube.

Antisemitische Vergleiche mit Nazi-Deutschland

Der antisemitische Diskurs durchdringt die Ideologien von Impfgegner:innen auch auf eine andere Weise, nämlich durch die Verharmlosung des Holocausts. Polnische Impfgegner:innen haben die so genannte „Segregation“ und „Diskriminierung“ der Ungeimpften mit der Ghettoisierung der Juden:Jüdinnen während des Zweiten Weltkriegs verglichen und gleichgesetzt. Während solche Klischees auch in den Impfgegner:innen-Bewegungen anderer europäischer Länder zu finden sind, haben sie in Polen eine andere Konnotation, denn auf dem besetzten polnischen Gebiet errichtete Nazi-Deutschland die berüchtigtsten Todeslager.

In einem YouTube-Video vom August 2021 mit dem Titel „Grzegorz Brauns GERISSENE Rede: 1939 Armbinden, heute Masken. Eine Rede auf einer Demonstration in Warschau“, wurde Grzegorz Braun, polnischer Abgeordneter und einer der Anführer der rechtsextremen Konföderationspartei, während einer Rede auf einer Kundgebung gegen die Gesundheitsmaßnahmen COVID-19 aufgezeichnet. Er sagte: „Ich erlaube mir eine drastische Analogie. Es ist wie im Sommer 1939. Bisher haben sie nur einigen Leuten befohlen, Armbinden zu tragen, und wenn die Zeit gekommen ist, ins Ghetto zu gehen, wird es für Proteste zu spät sein.

Damals gab es in der Stadt Warschau nicht wenige, die der Meinung waren, dass die Armbinde ihre guten Seiten hat, denn sie klärt die Situation, sie erlaubt es einigen, sich deutlich vom gefallenen polnischen Anliegen zu distanzieren, einige von ihnen wählten die Armbinde, um für sich den Frieden zu wählen. Und so ist es auch heute, sie befehlen dem Volk, einen Mundschutz zu tragen.“ Eine weitere Analogie, die in den Impfgegner:innen-Netzwerken gezogen wird, ist die zu den Nürnberger Prozessen, bei denen die wichtigsten Naziführer:innen wegen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Einige Aktivist:innen schlagen vor, dass eine Art Nürnberger Prozess gegen die für die COVID-19-Präventionsmaßnahmen zuständigen Beamt:innen geführt wird.

Der Abgeordnete Grzegorz Braun hat vor kurzem eine neue Initiative und eine Facebook-Seite mit dem Namen „Norymberga 2.0“ („Nürnberg 2.0“) ins Leben gerufen. Bei der Eröffnung der Initiative am 22. September 2021 sprach Braun wiederholt von einer „angeblichen Pandemie“, bezeichnete die Gesundheitsmaßnahmen als „Völkermord“ und forderte die Bestrafung der „behördlichen Verursacher“. Die Facebook-Seite „Norymberga 2.0“ enthält einen Link zum Spendenaufruf für die Initiative, der innerhalb weniger Tage mehr als 100.000 Euro eingebracht hat. Durch die Freigabe dieser Seite und des Links hat Facebook die Mittelbeschaffung für diese rechtsradikale Verschwörungsbewegung ermöglicht.

Populäre Figuren, die Verschwörungsideologien verbreiten

In Polen gibt es unter den Impfgegner:innen, die antisemitische Verschwörungen verbreiten, mehrere bekannte Personen, die seit langem hasserfüllte Aktivist:innen sind und in der polnischen Gesellschaft ein hohes Ansehen genießen. Es handelt sich dabei um rechtsextreme Politiker:innen, darunter auch derzeitige Parlamentsabgeordnete, und bekannte Medienvertreter:innen. Sie haben ein großes Online-Publikum und nutzen Facebook, Twitter und YouTube als Hauptinstrumente zur Verbreitung von Verschwörungsideologien und Fehlinformationen.

Eines der Hauptgesichter der rechtsextremen konspirativen Bewegung ist der oben erwähnte Grzegorz Braun, derzeitiger Abgeordneter, einer der Anführer der rechtsextremen Bundespartei und ehemaliger Präsidentschaftskandidat. Braun hat 220.000 Follower:innen auf Facebook, 59.000 auf Twitter und 122.000 Abonnent:innen auf YouTube. Auf seinen Seiten werden in nationalistischen Beiträgen Polen, polnische Familien und die polnische Wirtschaft als Opfer einer Regierung dargestellt, die sie durch Abriegelungen und Segregation zugunsten des „ausländischen Kapitals“ zerschlagen will. Andere Beiträge sind politische Interventionen anderer Art mit explizitem Antisemitismus und Holocaust-Revisionismus, wie z. B. eine Reihe von Veranstaltungen, die darauf abzielen, die historischen Fakten der antisemitischen Pogrome in Ostpolen während des Zweiten Weltkriegs zu leugnen. Bereits zu Beginn der Pandemie verband Braun extremen Antisemitismus mit COVID-19-Verschwörungsideologien.

In einem YouTube-Interview im April 2020 beschuldigte er „Jewcommies“ (jüdische Kommunisten), zu versuchen, „das Coronavirus zu benutzen, um Trump loszuwerden“. Während einer Rede im Parlament im September 2021 sprach Braun als Reaktion auf die COVID-19- Sicherheitspolitik Morddrohungen gegen den Gesundheitsminister Andrzej Niedzielski aus (er drohte auch dem damaligen Gesundheitsminister Łukasz Szumowski im Mai 2020 mit dem Tod). Einige von Brauns Verbindungen in das Impfgegner:innen-Milieu und in die rechtsextreme Szene sind auch antisemitische Hassverbrecher:innen.

Eine weitere berüchtigte Figur, die antisemitische Inhalte von Impfgegner:innen verbreitet, ist Wojciech Sumliński, ein bekannter rechtsextremer Journalist, Autor, Filmemacher und ehemaliger Mitarbeiter des polnischen Fernsehens (TVP). In den letzten Jahren wurde er aktiv, um die Fakten der antisemitischen Pogrome in Polen während des Zweiten Weltkriegs zu leugnen, insbesondere das Pogrom von Jedwabne im Jahr 1941, bei dem die polnischen Einwohner:innen fast alle ihre jüdischen Nachbarn ermordeten. Mit der Pandemie verband Sumliński den antisemitischen Holocaust-Revisionismus mit COVID‑19-Verschwörungsideologien. Sumliński hat mehr als 79.000 Follower:innen auf Facebook, 28.000 auf Twitter und 123.000 Abonnent:innen auf YouTube. Im Mai 2021 wurde Sumliński auf dem YouTube-Kanal der rechtsextremen Media Narodowe (Nationale Medien) in einer Sendung mit dem Titel „ANTI-Polnische Aktion der Juden:Jüdinnen! >Es ist kein Zufall!< Israelische Besetzung Polens?“ interviewt. Auf die antisemitischen Äußerungen des Moderators, der die jüdische Gemeinschaft beschuldigte, zu versuchen, „das Ansehen Polens in der Welt zu zerstören oder das polnische Land zu übernehmen“, antwortete Sumliński, indem er Antisemitismus mit COVID-19- Verschwörungsideologien vermischte: „Wenn wir […] ein bisschen graben, dann werden wir im Hintergrund dieses ganzen Wahnsinns vor allem, oder eigentlich fast vor allem, Vertreter einer einzigen nationalen Gruppe feststellen, nämlich der Juden:Jüdinnen.“ Bis September 2021 verzeichnete das Interview mit Sumlinksi mehr als 65.000 Aufrufe. 2021 erhielt die „Independence March Association“, die Organisation, die die nationalen Medien betreibt und mehr als 240.000 Abonnent:innen auf YouTube hat, Zuschüsse von Einrichtungen des polnischen Kulturministeriums in Höhe von fast 1.500.000 polnischen Zloty (ca. 330.000 Euro).

In einem weiteren Interview, das auf dem rechtsextremen YouTube-Kanal wRealu24 (DieWahrheit24) über die Beherrschung von „Polin“ durch jüdischen Menschen ausgestrahlt wurde, stellte Sumliński Verbindungen zur Pandemie her. Er sagte: „Es ist ein seltsamer Zufall, wenn wir uns die verschiedenen Stiftungen ansehen, die Rockefellers, all diese Gates, die an der Quelle dieser Pandemie – Nicht-Pandemie – stehen, dann sehen wir, dass sie gemeinsame Wurzeln haben, alles kommt von einer Nationalität. […] Wir müssen uns dagegen wehren. […] Es ist klar, wohin das führt, sowohl die Pandemie als auch das, was die Juden:Jüdinnen tun.“ Dieses Interview wurde in weniger als einer Woche mehr als 40.000 Mal aufgerufen und enthielt zahlreiche gewalttätige antisemitische Kommentare von gewöhnlichen Nutzer:innen.

Andere populäre Impfgegner:innen mit rechtsextremen Ansichten, die antisemitische Klischees verwendet haben, sind die Popsängerin Edyta Górniak (485.000 Follower:innen auf Instagram), der Herausgeber von wRealu24 Marcin Rola (514.000 Abonnent:innen auf YouTube) und der rechtsextreme Journalist Tomasz Sommer (78.000 Abonnent:innen auf YouTube).

Plattformen und mangelnde Moderation

Antisemitische Verschwörungsideologien und antisemitische Holocaust-Vergleiche sind in den wichtigsten sozialen Netzwerken in Polen weit verbreitet. Obwohl sie gegen die Community-Standards und die Richtlinien für hasserfüllte Inhalte auf Facebook, Twitter und YouTube verstoßen, werden diese Inhalte nur selten entfernt. Es hat den Anschein, dass die Plattformen auf dem polnischen Markt der Moderation und Entfernung solcher Inhalte wenig Aufmerksamkeit schenken. Dieses Muster wurde von der Vereinigung NEVER AGAIN bei ihrer Beobachtung und Berichterstattung in den sozialen Medien beobachtet, aber auch von Ärzt:innen, die infolge von Impfgegner:innenPropaganda im Internet bedroht wurden. Fälle von verbalen und körperlichen Übergriffen, wie der Angriff auf eine:n Reporter:in von Wirtualna Polska, weil er:sie eine Maske trug, zeigen, dass die Auswirkungen dieser Narrative eindeutig nicht auf Online-Missbrauch beschränkt sind.

Wie auch in anderen europäischen Ländern sind rechtsextreme, impfgegnerische, verschwörerische und antisemitische Gruppen auf Facebook aktiv, weil es dort Online-Räume gibt, die sich bis zu einem gewissen Grad der Moderation entziehen können, wenn sie privat sind. In Polen wird diese Art von Inhalten jedoch auch häufig auf öffentlichen Seiten, Gruppen und Konten geteilt. Diese Untersuchung konzentrierte sich vor allem auf die Facebook-Seiten und YouTube-Kanäle populärer rechtsextremer Anführer:innen. Hashtags scheinen keine große Rolle bei der Förderung von Inhalten und der Vernetzung von Menschen zu spielen, aber ein häufig verwendetes Schlüsselwort in verschiedenen antisemitischen Netzwerken von Impfgegner:innen ist „plandemia“ („eine Plandemie“).

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