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Historikerstreit 2.0 „Der Holocaust ist präzedenzlos“

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Sibylle Steinbacher, Direktorin des Fritz Bauer Instituts. (Quelle: picture alliance / Frank Rumpenhorst/dpa | Frank Rumpenhorst)

Im sogenannten Historikerstreit 2.0 sieht sich die deutsche Erinnerungskultur heftigen Angriffen ausgesetzt: Die Singularität des Holocaust wird infrage gestellt. Es wird behauptet, es sei dogmatisch verboten, den Holocaust zu vergleichen, und auch, dass es einen deutschen „Schuldkult“ gebe. In diese hitzige Debatte greift jetzt die Direktorin des Fritz Bauer Instituts, Sybille Steinbacher, zusammen mit Saul Friedländer, Dan Diner und Norbert Frei ein, mit dem Band „Ein Verbrechen ohne Namen“. Über den „neuen Historikerstreit“, den Postkolonialismus und darüber, was das alles mit Israel zu tun hat, haben wir mit Sybille Steinbacher gesprochen.

Belltower.News: Frau Steinbacher, darf man den Holocaust vergleichen?
Sybille Steinbacher: Selbstverständlich darf man das. Der Vergleich ist ja eine ganz gängige historische Methode. Es wird zwar immer wieder behauptet, man dürfe den Holocaust nicht vergleichen, es gebe ein Vergleichsverbot oder der Vergleich sei per se tabu – zuletzt von Vertretern des Postkolonialismus. Das möchte ich aber zurückweisen. Selbstverständlich kann man einen Vergleich führen. Er muss nur sinnvoll sein.

Was bedeutet sinnvoll in diesem Zusammenhang?
Ein Vergleich kann Gemeinsamkeiten und Unterschiede verdeutlichen. Man muss also wissen, mit welchem Erkenntnisinteresse man einen Vergleich anstellt – also, was man herausfinden will. Außerdem haben Vergleiche immer eine gewisse Versuchsanordnung. Es werden dabei womöglich auch Fragen ausgeblendet, die aber eine Rolle spielen. Vergleiche können zudem durchaus interessengeleitet sein – das sehen wir am Beispiel der Totalitarismustheorie der 1950er Jahre. Beim Vergleich zwischen dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen System war es möglich, die großen Verbrechen des Dritten Reichs kurzerhand auszublenden. Solcher Blindstellen oder Unzulänglichkeiten, die in der Methode des Vergleichens aber angelegt sind, muss man sich bewusst sein.

Dennoch kann man Vergleiche anstellen. Die vergleichende Genozidforschung hat ja wichtige Erkenntnisse zutage befördert, beispielsweise indem sie nach Gewalttraditionen fragt oder nach Gewaltakteuren und jeweils vergleichende Bezüge herstellt. Oder auch, indem sie fragt, welche Heilsversprechen an Genozide, also an das Auslöschen von Bevölkerungsgruppen geknüpft sind. Da lassen sich interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf verschiedene Verbrechenskomplexe festmachen. Vergleiche können also durchaus fruchtbar sein, eben mit den Vorbehalten, die ich formuliert habe.

Können Sie etwas mehr zur vergleichenden Genozidforschung sagen?
Die vergleichende Genozidforschung gibt es seit etwa 30 Jahren. Die Entstehung hatte damals viel mit den Jugoslawienkriegen zu tun. Von den Forschungen hat man sich erhofft, gewappnet zu sein, früh genug erkennen und auch eingreifen zu können, wenn sich genozidale Muster abzeichnen. In dem interdisziplinär ausgerichteten Forschungsfeld sind Sozialwissenschaftler stark vertreten, auch Psychologen, Historiker spielen bei der Frage nach Prävention eine weniger zentrale Rolle.

Sie haben darauf hingewiesen, dass sich in Vergleichen politische Interessen verstecken können. Haben Sie dafür ein aktuelles Beispiel?
Wir kennen im Umgang mit der Geschichte des Holocaust schon sehr lange Relativierungsversuche von rechts, jetzt kommen sie zudem von links – das ist neu. Auch sie haben eine bestimmte Intention. Mit der Behauptung vom Vergleichsverbot gehen ja noch weitere Behauptungen einher. Etwa die, dass die Deutschen „besessen“ seien vom Holocaust. Auch heißt es, es gebe „deutsche Eliten“, die den Holocaust instrumentalisierten, um dadurch andere historische Verbrechenskomplexe auszublenden. Im Ergebnis geht es dabei darum zu erklären, dass der Holocaust ein Verbrechen wie jedes andere gewesen sei, was nach meinem Dafürhalten letztlich auf seine Einebnung hinausläuft. Insofern halte ich die postkoloniale Deutung für eine revisionistische Deutung, die aus geschichtspolitischen Interessen die Relativierung des Holocaust betreibt.

Sie würden also sagen, der Holocaust war einzigartig?
Ja, wobei ich den Begriff der Einzigartigkeit nicht verwenden würde. Der Begriff kommt aus einer innerjüdischen Diskussion und aus theologischen Zusammenhängen, und dort möchte ich ihn gerne belassen. Ich würde vielmehr von der Präzedenzlosigkeit des Holocaust sprechen. Diesen Begriff hat der israelische Historiker Yehuda Bauer eingeführt. Damit wird betont, dass es Besonderheiten gibt. Sie wurzelten im Antisemitismus, der aber vom Rassismus zu unterscheiden ist und der nicht irgendeine Unterform davon ist. Der Deutungszusammenhang ist ein ganz anderer: Antisemitismus ist ein Welterklärungsprinzip – mit den Juden als „Weltverschwörern“, als besondere „Feinde“, die es auszulöschen gilt, denn erst dann könne das allgemeine Seelenheil der Menschheit erlangt werden. Die Zusammenhänge, die präzedenzlos sind, lassen sich klar benennen.

Können Sie das ausführen? Was macht den Holocaust noch präzedenzlos?
Präzedenzlos war der unbedingte Vernichtungswille der Nationalsozialisten. Ein Beispiel: Auch noch 1944, also zu einer Zeit, als die Kriegsniederlage schon längst feststand, wurden Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Systematik dieser Organisation ist präzedenzlos. Ebenso die geografische Reichweite, die politisch-territoriale Entgrenzung, die der Mordpolitik zugrunde lag. Im ganzen deutsch-besetzten oder beeinflussten Europa hat man Juden, vom Säugling bis zum Greis, aufgespürt. Die Vernichtung aller aus dieser Opfergruppe ganz ohne Unterschied – das ist präzedenzlos.

Und: Ich würde ein besonderes Strukturmerkmal auch darin sehen, dass die deutsche „Volksgemeinschaft“ durchaus einbezogen war in die Verfolgungs- und Mordpolitik. Zumindest als Mitwisser und auch als Profiteure, wie wir aus der Forschung der letzten Jahre wissen.

Die Kritik an der Singularität bzw. Präzedenzlosigkeit des Holocaust kommt ja nicht mehr nur vom Postkolonialismus. Es heißt etwa, der Porajmos, also die systematische Ermordung der Sinti:zze und Rom:nja durch die Nationalsozialisten, stünde der Singularität entgegen. Gegen die Präzedenzlosigkeit spräche, dass die Gaskammern an Orten wie Hadamar bereits erprobt wurden. Was kann man solchen Überlegungen antworten?
Im Vordergrund steht hier der Gedanke einer solidarischen Gedenkkultur, alles ist quasi gleich. Das läuft als Plädoyer aber darauf hinaus, dass man Juden offenbar nicht als besondere Opfergruppe wahrnehmen darf – und ich frage mich, warum.

Sicherlich war die Verfolgung und Ermordung der Sinti:zze und Romn:ja ebenso ein Genozid, mit vielen Parallelen zum Holocaust. Die lange, antisemitische Tradition, die bis in die Antike zurückgeht und ein starkes Rechtfertigungsmoment für alle Antisemiten ist, haben wir so allerdings nicht in der Feindschaft gegen Sinti:zze und Romn:ja. Im Gegenteil, sie waren anerkannte Leute, es gab in der Antike und im Mittelalter noch keine derartige Geringschätzung ihnen gegenüber, wie das später der Fall war. Antisemitismus ist anders gestrickt, es geht um andere Wurzeln.

Genauso lässt sich bezogen auf die sogenannten Euthanasiemorde argumentieren. Auch hier haben wir schlicht andere Zusammenhänge. Das bedeutet nicht, dass es keine Überschneidungen gibt, die Vernichtung der Juden in der Aktion Reinhardt hat zu tun mit den sogenannten Euthanasiemorden in den Tötungsanstalten des Deutschen Reichs. Die Technik wurde kopiert und Personal ins besetzte Polen entsandt. Aber ich plädiere doch dafür, hier zu differenzieren.

Was bezwecken Angriffe auf die Singularitätsthese?
Es geht nach meiner Einschätzung um die Einebnung der Verbrechen des Holocaust. Wird gesagt, dass der Holocaust nur eines von vielen Genozidverbrechen war, braucht es auch keinen besonderen Umgang damit, keine Gedenkkultur und vor allem kein kritisches Geschichtsbewusstsein in Bezug auf die Auseinandersetzung damit. Kritisches Geschichtsbewusstsein meint ja die Kenntnis darüber, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unmittelbar miteinander in Bezug stehen. Im Einebnungsversuch steckt zudem auch ein Bezug zu Israel, der aber wohl nicht der Kern der aktuellen Debatte ist.

Wie sieht dieser Bezug zu Israel aus?
In der postkolonialen Deutung kommt die Gründung des Staates Israel einer kolonialen Landnahme gleich, die jüdischen Bewohner sind demnach weiße Kolonialherren. Dadurch sei Israel eine Gefahr für den Weltfrieden. Was aber vollkommen – ich glaube absichtlich – ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass Palästina und später Israel Zufluchtsort derer gewesen ist, die in den europäischen Ländern verfolgt wurden. Das waren um 1900 vor allem die französischen und russischen Juden, die in Frankreich im Zusammenhang mit der Dreyfuss-Affäre, in Russland als Folge verschiedener Pogrome besonders verfolgt wurden. In der NS-Zeit war Palästina bis 1938 Zufluchtsort für Juden, die noch aus dem Deutschen Reich fliehen konnten. Und nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Überlebenden des Holocaust dort Schutz und Rettung. Dass die Existenz des Staates Israel durch den Holocaust eine eigene Legitimation hat, soll in der postkolonialen Deutung infrage gestellt werden. Die zionistische Legitimation Israels wird von postkolonialer Seite ja sowieso verleugnet.

Mit dieser neuen Debatte wird also, zumindest am Rande, die Frage nach dem Existenzrecht Israels mitgeführt – denn, wenn der Holocaust nicht präzedenzlos, also nicht besonders ist, es daher keine besondere Gedenkkultur geben muss, dann braucht es auch kein Land, das für die Verbrechen bzw. die Rettung der Überlebenden der Verbrechen steht.

Diese Angriffe auf Israel führen auch dazu, dass israelbezogener Antisemitismus systematisch verharmlost wird. Und es ist, glaube ich, kein Zufall, dass hier die gleichen Akteure auftreten. Es scheint ein Dreieck zu geben, bestehend aus dem eigenen Verhältnis zu Israel, israelbezogenem Antisemitismus und Erinnerungskultur. Würden Sie das auch so sehen?
Ja, da würde ich Ihnen zustimmen. Diese Bezüge bestehen.

Sind diese Auseinandersetzungen zwischen Holocaustforschung und Postkolonialismus neu?
Nein. Vielmehr ist auffallend, dass gerade jetzt wieder Behauptungen von der Kontinuität zwischen Kolonialverbrechen und nationalsozialistischen Verbrechen aufflammen. Die Diskussion gab es nämlich vor 15 Jahren schon einmal, damals von Jürgen Zimmerer angestoßen. Seine Idee bezog sich auf den Krieg und die Verbrechen gegen die Herero und Nama 1904/1905 in Südwestafrika. In „Von Windhuk nach Auschwitz“ schrieb er, dabei habe es sich um die koloniale Vorstufe des Holocaust gehandelt. Hier gebe es also einen Brückenschlag nach Auschwitz. Diese These hat Zimmerer in einem späteren Buch unter dem Eindruck der doch sehr kritischen Diskussionen dazu allerdings selbst mit einem Fragezeichen versehen.

Was ist heute anders an diesen Debatten?
Heute ist anders, dass die Diskussion in der breiten Öffentlichkeit geführt wird – damals wurde das nur in Historikerkreisen debattiert, das Thema stieß sonst nicht auf großes Interesse. Die Behauptungen von damals werden heute mobilisiert und reaktualisiert, ohne dass sie dadurch richtiger wären. Vieles davon ist in der intensiven Diskussion damals schon entkräftet worden, etwa dass es generationelle Bezüge oder auch institutionelle Bezüge zwischen Kolonialpolitik und Nationalsozialismus gegeben habe. Das lässt sich alles nicht festmachen. Die Annahme von Kontinuitäten steht auf ganz, ganz tönernen Füßen.

War Kolonialismus Teil des Programms im Nationalsozialismus?
Koloniale Utopien haben für den Nationalsozialismus in Osteuropa eine wichtige Rolle gespielt. Zum Beispiel im Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Die Idee vom „Lebensraum im Osten“ lief darauf hinaus, dass das gesamte Land bis zum Ural, der gewissermaßen als „Frontier“ galt, „germanisiert“ werden solle. Ja, das waren koloniale Utopien. In den Grundzügen ist das aber schon seit den 1960er Jahren bekannt, also nichts Neues, was erst mit der vergleichenden Genozidforschung aufgekommen wäre. Hier besteht aber durchaus weiterhin Forschungsbedarf.

Ohne diesen konkret benannt zu haben, reden wir über den sogenannten Historikerstreit 2.0. Können Sie zusammenfassen, worum es darin geht?
Der Name ist nicht besonders glücklich, finde ich, er hat sich medial aber verbreitet. Damit wird ein Bezug zum „ersten“ Historikerstreit 1986/1987 hergestellt, der allerdings anders gelagert war. Es ging damals nicht um den Holocaust selbst, sondern um das historisch-politische Selbstverständnis der Bundesrepublik. Aber es ging auch schon um die Frage des Vergleichens. Ausgangspunkt war die Behauptung des Historikers Ernst Nolte vom sogenannten „kausalen Nexus“ zwischen den stalinistischen und den nationalsozialistischen Verbrechen. Demnach war der „Rassenmord“ an den Juden eine Folge des „Klassenmords“.

In der aktuellen Debatte geht es letzten Endes um den Umgang mit dem Holocaust, so wie er in den letzten 20 bis 30 Jahren in der Bundesrepublik gepflegt wird. Das wird infrage gestellt und angegriffen, es ist die Rede von einem aufgezwungenen „Katechismus“, dessen Einhaltung von angeblichen „Hohepriestern“ überwacht wird. Ich sehe übrigens einen antisemitischen Topos in der Einführung der Figur von Hohepriestern, die ja aus der jüdischen Religionslehre kommen. Behauptet wird die übertriebene Rolle des Holocaust in der politischen Kultur. Daran geknüpft ist der Vorwurf, die Deutschen hätten durch die „Fixierung“ auf den Holocaust keine anderen Genozidverbrechen im Blick und würden sich auch nicht trauen, etwas mit dem Holocaust zu vergleichen.

Was steht dadurch auf dem Spiel?
Das alles ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Rechten. Etwa der Gruppe um die neurechte Zeitschrift Sezession. Da ist vielfach die Rede vom „Schuldkult“ – was nun bestärkt wird von ganz links. Darum ist es wichtig, dagegenzuhalten und Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wem man sich andient, wenn man, salopp gesagt, solche Sprüche klopft.

Können Sie das weiter ausführen?
Von postkolonialer Seite ist das vor allem auch ein Angriff auf die in den letzten 20 bis 30 Jahren etablierte Gedenkstättenarbeit in Deutschland. Diese ist hart erkämpft, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass auf diese Weise an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert wird. Das zu entwickeln und anzuerkennen hat Jahre, ja Jahrzehnte gedauert. Man galt ja in Westdeutschland lange Zeit als Nestbeschmutzer, wenn man sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Das alles wird in der postkolonialen Deutung ausgeblendet und in die genannten Vorwürfe gekleidet.

Wir müssen von einer Unabschließbarkeit in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocaust und seiner Nachgeschichte ausgehen. Der Holocaust lässt sich nicht einebnen. Versuche, den systematischen Mord an den europäischen Juden gleichzumachen mit anderen Verbrechen, haben immer eine ideologische Botschaft. Zudem ist es gar nicht notwendig, den Bezug zum Holocaust herzustellen, um Aufmerksamkeit auf die Verbrechen der Kolonialzeit zu lenken. Natürlich ist es wichtig, sich ebenso mit diesen Verbrechenskomplexen auseinander zu setzen und sie zu erforschen und an die Opfer zu erinnern. Da könnte man sicherlich sehr viel mehr tun. Die Kolonialforschung ist hier gefordert. Aber es ist nicht erforderlich, den Bogen zum Holocaust zu schlagen und schon gar nicht ist es erforderlich, diesen zu relativieren, um mehr Forschung über die Kolonialverbrechen und ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für sie zu erreichen.

Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust, 94 Seiten, 12,00 Euro, C.H. Beck, ISBN 978-3-406-78449-1. Hier bestellen.

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