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Interview mit Hanna Veiler „Ein unglaubliches Gefühl der Zukunftslosigkeit“

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Im Gespräch: Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands und Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students
Im Gespräch: Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands und Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students (Quelle: Hanna Veiler)

Hanna Veiler, 25 Jahre alt, ist Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands und Vizepräsidentin der European Union of Jewish Students. Geboren wurde sie in Belarus. Als sie sieben war, wanderte ihre Familie nach Baden-Baden in Deutschland aus. Sie studiert an der University for Peace der UN.

Belltower.News: Die barbarische Gewalt der Hamas gegen Israel im Moment ist beispiellos. Was bedeutet das für Jüdinnen*Juden in Deutschland?

Hanna Veiler: Jüdinnen*Juden weltweit sind vollkommen paralysiert, wir stehen unter Schock. Gewalt gegen uns sind wir leider gewohnt, das war schon vorher unser Alltag. Aber das Ausmaß, das das Massaker und die Invasion der Hamas seit letzten Samstag erreicht hat, ist etwas, womit niemand gerechnet hätte. Noch nie wurden an einem Tag so viele Jüdinnen*Juden ermordet seit der Shoah. Und das wird sehr vieles mit uns machen, mit unserem Selbstverständnis in der Community. In Deutschland wird diese Gewalt teilweise sogar gefeiert. Das kennen wir schon: Immer, wenn es in Israel und Palästina eskaliert, werden Jüdinnen*Juden in der Diaspora zur Zielscheibe. Aber das, was wir gerade erleben, ist etwas völlig Neues.

Seit dem 7. Oktober musste der Schutz von jüdischen Einrichtungen in Deutschland nochmal verstärkt werden, Davidsterne werden vor den Häusern vermeintlicher Jüdinnen*Juden gemalt. Haben Sie Angst, als Jüdin in der Öffentlichkeit zu stehen?

Das war schon immer ein bestimmtes Risiko, aber eines, das ich bisher immer auf mich genommen habe. Ich hatte keine Angst. Aber das Gefühl, das ich jetzt habe, habe ich noch nie erlebt.

Nämlich?

Ich komme gerade von einer Solidaritätskundgebung für Israel. Wir hatten unsere JSUD-Pullis mit Davidstern an. Während der Kundgebung hatten wir Polizeischutz, aber dann war die Polizei weg und wir mussten in diesen Pullis wieder zurückfahren. Wir mussten auf dem Heimweg die Davidsterne irgendwie verstecken. Dieses Gefühl hatten wir bisher so nicht. Vor einer anderen Israel-Kundgebung vor dem Brandenburger Tor wurde ich von einer Gruppe Männer erkannt, die über mich geredet haben. Das hat mir einen völligen Schock versetzt. Ich bin erst mal losgerannt, weil ich nicht wusste, wer sie sind, was sie über mich und meine Statements zu Israel denken.

Was macht das mit Ihnen?

Natürlich habe ich Angst und Sorge, sowohl um mich als auch um meine Familie, meine Freund*innen, meine Community. Und gleichzeitig müssen wir weitermachen. Und bitte: Sicherheit kommt an erster Stelle. Aber wir werden trotzdem einen Weg finden. Denn wir können es nicht zulassen, dass jüdisches Leben verschwindet.

Wie geht es momentan vor allem jungen Jüdinnen*Juden, Studierenden?

Jüdische Studierende sind ohnehin schon mit einer Realität konfrontiert, mit der niemand in diesem Alter konfrontiert sein sollte. Wir sollten uns eigentlich mit ganz anderen Fragen beschäftigen, an die Zukunft denken, Spaß haben. Stattdessen fragen sich manche, ob sie das überhaupt noch können. Ob sie nicht woanders studieren müssen, wenn das Leben hier unmöglich wird. Ob sie überhaupt einen Job hier annehmen, oder doch nicht lieber auswandern. Ob sie überhaupt an Familienplanung, an die nächste Generation denken können, in einer Welt, die so furchtbar unsicher für Jüdinnen*Juden ist.

Wie reagieren Kommiliton*innen?

Die Menschen, mit denen wir im Hörsaal sitzen, auch viele unserer Freund*innen, verstehen überhaupt nicht, was für eine Realität wir gerade durchmachen. Am Campus ist die antiisraelische Ideologie von Gruppen wie Hamas, Samidoun und Konsorten extrem breit vertreten – teilweise auch von Professor*innen. Das bedeutet auch, dass nach antisemitischen Vorfällen die Verantwortungstragenden immer wieder unfähig sind zu handeln. Deshalb ist ein großer Fokus von uns, mehr zu Antisemitismus zu sensibilisieren und Richtlinien im Umgang damit vorzugeben. Denn ich habe Angst, dass die antisemitische Stimmung, die wir an Hochschulen in den USA und Großbritannien sehen, auch hier langsam ankommt.

Israel gilt auch vielen Jüdinnen*Juden in der Diaspora als Schutzraum, als letzte Lebensversicherung. Hat sich dieses Gefühl seit jüngsten Angriffen auf den jüdischen Staat verändert?

Definitiv. Und das ruft in uns auch ein unglaubliches Gefühl der Zukunftslosigkeit hervor. Denn ich kann nur als Jüdin in der Öffentlichkeit in Deutschland stehen, mit den Positionen, die ich vertrete, weil ich weiß, dass es diesen Schutzraum Israel gibt. Weil ich immer weiß, wenn es zu schlimm wird: Es gibt einen Ort, an den ich fliehen kann. Wir lernen eh schon Hebräisch nebenbei für den Fall der Fälle. Aber dieser Schutzraum scheint nicht mehr gegeben zu sein, so wie er davor da war. Gleichzeitig jährte sich zwei Tage nach dem Angriff der Hamas der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle. Die AfD ist im Aufwind, hat auch in westdeutschen Bundesländern einen Höhenflug. Das zieht einem jeglichen Boden unter den Füßen weg. 

Erleben Sie auch Solidarität von der Zivilgesellschaft?

Absolut, wir haben ganz viele Partnerorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir erleben auch viel Unterstützung in großen Teilen der ukrainischen, iranischen oder Sinti*-und-Roma*-Community in Deutschland. Alle Jugendorganisationen der demokratischen Parteien fragen uns nach, was sie tun können, und kommen zu unseren Kundgebungen. Ich persönlich erfahre auch privat viel Solidarität, aber ich musste im Leben leider schon sehr häufig meinen Freundeskreis aussortieren. Gleichzeitig hören wir Geschichten von jungen Jüdinnen*Juden, dass nicht mal die besten Freund*innen nachfragen, wie es ihnen geht. Oder sie vertreten sogar Hamas-Positionen auf Social Media. Man trifft auch Kommiliton*innen an der Uni, die so tun, als wäre nichts gewesen. Das tut weh.

Erst im Mai haben Sie das Amt als Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) angetreten. Was haben Sie vor?

Ich könnte Ihnen erzählen, was ich alles bis zum 7. Oktober vorhatte. Ich wollte zum Beispiel einen großen Fokus auf Kontingentflüchtlinge legen. Der Großteil von uns in der jüdischen Community sind Kontingentflüchtlinge, wir sind aber sehr unterrepräsentiert in jüdischen Institutionen und Organisationen. Aber das wird sich angesichts der aktuellen Lage jetzt stark verändern.

Sie sind auch Vizepräsidentin der European Union of Jewish Student (EUJS). Welche Herausforderungen gibt es für junge Jüdinnen*Juden in anderen europäischen Ländern?

Das Problem des Antisemitismus gibt es in jedem Land. Das ist eine Herausforderung, vor allem, wenn wir über israelbezogenen Antisemitismus sprechen. Es gab in Vergangenheit wahnsinnig große Debatten, ob jüdische Studierende in Europa sich überhaupt zu Israel äußern sollten. Das wird sich jetzt vollkommen verändern. Aber eine der größten Herausforderung aktuell sind die Europawahlen im Juni 2024. Wir erleben einen krassen Rechtsruck europaweit. Vor dieser Herausforderung stehen wir alle.

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