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Interview Schließen sich Antirassismus und Antisemitismuskritik aus?

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Demonstrationen gegen Rassismus finden an vielen Orten statt. (Quelle: Pixabay)

 

Belltower.News: Teile von „Black Lives Matter“ positionieren sich antizionistisch. BLM-UK twittert etwa, die britische Regierung wäre „geknebelt“ und dürfe den Zionismus nicht kritisieren. Schwarze Menschenrechtsaktivist*innen wie Angela Davis unterstützen BDS. Was heißt das für Menschen, die gegen Antisemitismus stehen?

Anetta Kahane: Für Juden und Jüdinnen in Deutschland und überall auf der Welt ist es ein Gebot, ja eine Pflicht, sich mit Menschen zu solidarisieren, die diskriminiert und schlecht behandelt werden. Wir haben das in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erlebt, aber auch in der deutschen Geschichte, nach dem zweiten Weltkrieg, dass sich Juden und Jüdinnen immer wieder solidarisiert und Kämpfe unterstützt haben, die Minderheiten gegen Unterdrückung und für Gleichberechtigung geführt haben. Mit der Erfahrung der Schoah ist für Juden und Jüdinnen klar, dass man Solidarität braucht, weil man eine gemeinsame Erfahrung teilt, nämlich die des Verfolgtseins.

Der Kampf für Gleichwertigkeit ist Teil jüdischer Identität?

Es gehört zu den universalistischen Werten des Judentums, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wenden. Einige antirassistische Bewegungen haben aber Theorien entwickelt, die es für Juden und Jüdinnen sehr schwer machen, sich zu solidarisieren. Trotzdem ist es völlig klar, dass Rassismus und Unterdrückung von Schwarzen Menschen ohne Wenn und Aber kritisiert werden muss und dass man sich mit denjenigen, die dagegen auf die Straße gehen, solidarisieren muss. Das ist nicht ganz leicht, wenn einige antirassistische Theorien auf strukturellem Antisemitismus, getarnt als Kapitalismuskritik, beruhen.

Welche Theorien sind das und warum sind sie antisemitisch?

Dieses ganze Denken beruht auf der uralten Annahme, der Kapitalismus sei an der Unterdrückung schuld: Das Finanzkapital brauche diese Unterdrückung von Minderheiten sogar, um sein böses Spiel zu treiben. Als personifizierte Vertreter*innen dieses Kapitalismus und des Monopolkapitals werden Juden und Jüdinnen gesehen. Das ist eine uralte Denkformel. Wir stehen aber für eine liberale und offene Gesellschaft und es gibt bisher noch kein Beispiel für eine liberale und offene Gesellschaft, die ohne Kapitalismus funktioniert.

Einige Stimmen bei BLM konzentrieren sich konkret auf Israel, genau wie es auch in der Mbembe-Debatte um BDS und damit direkt um den jüdischen Staat ging. Hat das Feindbild Israel das von den „bösen Juden“ abgelöst?

Heute projiziert man das, was früher auf Juden und Jüdinnen projiziert wurde, zusätzlich auf den Staat Israel: Es sind die Rothschilds, George Soros, aber auch Israel als Institution. Das ist eine Komplexitätsreduktion, die auf Kosten von Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt geschieht und sie in eine furchtbare Situation bringt. Das heißt, wir dürfen zwar mitmachen und uns solidarisieren, aber nur wenn wir das „intrinsisch Böse“ unserer eigenen Existenz, also das Judentum, aka Israel, anerkennen. Wir müssen akzeptieren, dass Israel so stark kritisiert wird, wie kein anderer Staat der Welt. Wir unterstützen jedes Opfer von Rassismus bedingungslos. Aber wir lehnen antisemitische Einstellungen ab. Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen. Das Gleiche erwarten wir andersherum.

Muss man sich entscheiden? Antisemitismuskritische Arbeit oder Antirassismus?

Es muss möglich sein, gegen Rassismus zu kämpfen, ohne antisemitisch zu werden. Genauso wie es möglich sein muss, gegen Antisemitismus zu kämpfen, ohne rassistisch zu werden. Es gilt zwischen den Menschen, die unterdrückt werden und den Ideologien, die daraus entstehen, zu unterscheiden. Genauso wie zwischen israelischen Politiker*innen, die eine Politik machen, hinter der man selbst nicht steht, der Bedrohung Israels als solches und dem globalen Antisemitismus, der Juden und Jüdinnen unmittelbar bedroht. Das kann gelingen, aber es ist sehr schwer. Israelbezogener Antisemitismus ist eine Projektion, die wenig oder gar nichts mit den realen Verhältnissen zu tun hat.

Wie kann das praktisch funktionieren?

Wenn wir eine liberale und offenen Gesellschaft wollen, nutzt es nichts, sich über diese Ideologien zu streiten. Es muss am Ende doch darum gehen, konkrete Dinge zu tun, die echten Menschen helfen. Jede einzelne Person, die nicht von Racial Profiling belästigt wird, ist ein Fortschritt. Dafür muss man sich einsetzten. Umgekehrt muss niemand aus der jüdischen Community dulden, wegen seiner oder ihre Identität angefeindet oder attackiert zu werden, wenn man sich in einer Debatte äußert. Wenn Juden und Jüdinnen sich deutlich äußern, werden sie eher angegriffen.

Erlebst du Solidarität von antirassistischer Seite, wenn es um Antisemitismus geht?

Ich würde mich freuen, wenn ich es noch erleben könnte, dass es aus der Community von Rassismus betroffener Personen öfter und eindeutigere Solidarität mit Juden und Jüdinnen gäbe. Das ist keine Bedingung, aber es ist spürbar, dass auch große Organisationen von Menschen mit migrantischem Background beredt schweigen, sobald es einen antisemitischen Vorfall gibt: „Dafür sind wir nicht zuständig“. Das ist bedauerlich, denn auch dort sollte gelten, dass jeder Angriff auf Minderheiten ein Problem ist.

Was machst du, um diesen Konflikt aufzulösen?

Netzwerkarbeit, ein ständiges Insistieren und es braucht die Fähigkeit, mit Rückschlägen umzugehen. Die Arbeit in Gremien gehört dazu, Gespräche mit Politiker*innen, Reden halten, Interviews geben. Projekte zum Thema initiieren und am Ende die Hoffnung, dass sich dadurch über die Zeit etwas am Diskurs ändert. Diskurse brauchen eine gewissen Schwungmasse, sonst werden sie nicht geführt. Und wenn sie nicht geführt werden, ändert sich nichts an der Wahrnehmung der Gesellschaft. Deswegen haben wir 1998 die Amadeu Antonio Stiftung gegründet: Weil wir nicht auf eine mediale Konjunktur für rechtsextreme Angriffe angewiesen sein können, die nur reagiert, wenn wieder etwas passiert ist und dann schnell verschwindet. Deswegen hat es die Stiftung gebraucht, um etwas medial zu bewirken, um Menschen zusammenzubringen und stärker zu machen und auch um Projekte zu finanzieren. Wir sammeln Geld, wir geben Geld, wir machen eigene Projekte und mediale Arbeit. Dabei geht es auch um Eigeninitiative. Wer das will, kann sich vor Ort engagieren, aber auch jede Person, die etwas spendet, hat einen aktiven Teil daran, dass der Diskurs weitergeführt wird.

Also Teil am Diskurs, dass weiter über Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus gesprochen wird?

Diese drei Bereiche gehören zweifelsohne zusammen, aber Antisemitismus und Rassismus gehen weit über den Rechtsextremismus hinaus und sind Teil der Gesellschaft. Deswegen ist es leider so, dass Juden und Jüdinnen vorher nie genau wissen, woher der nächste Schlag kommt. Vielleicht von jemandem, mit dem man sich solidarisch erklärt hat und der einen dann „Zionistensau“ schimpft. Das ist mir auch schon passiert.

Was machst du dann?

Weiter! Was denn sonst? Weitermachen heißt, ein neues Projekt planen, neue Partner finden, eine andere Idee entwickeln. Es gibt diese Vorstellung von dem Schalter, den man umlegt, diesem einen entscheidenden Punkt, den man treffen muss und dann ist alles erledigt. Es muss eine Lösung geben! Diese Hoffnung nach der einen Lösung deutet auf ein unterkomplexes Weltbild hin. Menschen wollen, dass Dinge eindeutig sind. Sind sie aber nicht. Manchmal ist es entweder, oder. Manchmal sowohl, als auch. Den Konflikt zwischen antirassistischer und antisemitismuskritischer Arbeit aufzulösen ist eine langwierige Arbeit. Aber wir sind dran, denn es gibt keine Alternative dazu.

Den Schalter haben wir jedenfalls noch nicht gefunden.

Es gibt ja Leute, die diesen Schalter, diese eindeutige Lösung anpreisen: „Man muss doch nur Israel auslöschen.“ Das sind ideologisierte, menschenverachtende Vorstellungen. Was an Juden und Jüdinnen vielleicht am meisten verachtet wird, ist ihr Mangel an „Komplexitätsverweigerung“. Das hat etwas mit dem Judentum zu tun, dass eine Externalisierung nicht kennt. Im jüdischen Glauben geht es ums Abwägen, man muss sich entscheiden, aber man muss auch die Dinge von allen Seiten betrachten und vor allem ist dieser Prozess nicht nach außen verlagert. Das Schlechte und das Böse sind keine Kräfte von außerhalb, sondern sie sind Teil unserer selbst. Das ist für manche Menschen schwer auszuhalten. Um das zu umgehen, braucht man das ausgelagerte Böse, jemand, der Schuld an allem hat. Das sind dann Juden und Jüdinnen. Das ist einer der Gedanken, der der Schoah zu Grunde liegt, dass man also das angebliche Böse in der Welt ausrotten könnte. Diese Idee spielt bis heute bei Antisemit*innen eine Rolle. Die Vorstellung, dass ohne Israel alles besser wäre, enthält immer Elemente davon.

Im Judentum ist die wichtigste Mitzwa, das wichtigste Gebot, für Gerechtigkeit zu sorgen. Das Judentum beschäftigt sich eigentlich gar nicht so sehr mit dem Messias, weil auch hier klar ist, dass diese perfekte Erlösung nicht passieren kann, sondern jeder einzelne selbst verantwortlich ist. Wenn man überhaupt an einen Messias denken kann, dann erst, wenn die Menschen für Gerechtigkeit gesorgt haben, wenn das Lamm und der Löwe zusammen sein können, ohne dass der eine das andere frisst. Dann kann die Erlösung kommen. Aber dann brauchen wir sie eigentlich nicht mehr. Deswegen bewege ich mit dem „Weitermachen“ in jüdischer Tradition, die da heißt: Widrigkeiten ins Auge zu blicken macht stark zum Weiterhandeln.

In der Debatte um die Ruhrtriennale und Achille Mbembe ist deutlich geworden, dass Antisemitismus in Kunst und Kultur weit verbreitet ist. Warum redet darüber eigentlich niemand?

Wir haben in der Stiftung das Projekt „Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst„, in dem es genau darum geht. Die Kunstwelt will fortschrittlich, kritisch sein, will Gesellschaft verändern: Kunst ist Aufklärung. Ein ziemlich unkritisches Selbstbild. Gerade in der Kunst gibt es diese Ideologieformel „Kapitalismus gleich Juden gleich Israel gleich Unterdrückung“. Antisemitismus taucht im Kunst- und Kulturbereich immer wieder und überall auf. Dazu kommt: Antisemitismus und Rassismus werden oft gegeneinander ausgespielt.

Wieso funktioniert das so gut?

Weil die heute weitverbreitetste Form des Antisemitismus – der israelbezogene Antisemitismus – geleugnet wird. Das ist weder analytisch noch irgendwie anders wissenschaftlich zu begründen. Im Gegenteil. Die Einstellungsforschung, zum Beispiel die Mitte-Studie, zeigt immer wieder, dass Antisemitismus dort am stärksten blüht, wo er die Umwegskommunikation über Israel nutzen kann. Wenn man nun behauptet, das sei kein Antisemitismus, weil man nicht die eigenen Paradigmen verletzten will, die den Kapitalismus als großes Weltübel sehen, von dem Israel ein Symptom ist, dann ist das eine historische Verdrehung, die alle antisemitischen Klischees bedient.

Postkolonialismus ist zentral für antirassistische Arbeit, aber er will Israel auch unbedingt als koloniales Projekt begreifen. Wie kann man damit umgehen?

Man kann diesen Konflikt vermutlich nicht lösen. Denn wenn man sich mit der Frage beschäftigt, ob Israel ein koloniales Projekt ist, dann müsste man sich mit Israel beschäftigen. Aber das machen die wenigsten. Israel wurde nach dem Zweiten Weltkrieg – unter dem Eindruck dieses Krieges und der Schoah – gegründet, in einer Zeit, in der viele Staaten neu oder anders entstanden sind. Mit der gleichen Vehemenz könnte man über andere Staaten sprechen. Aber es gibt den einen Unterschied, dass Juden und Jüdinnen vorher keinen eigenen Staat hatten. Es war ein Beschluss des Völkerbundes, der die Gründung möglich gemacht hat, mit den bekannten Folgen. Gleich nach der Gründung wurde das Land angegriffen und es war von Anfang klar, dass die benachbarten arabischen Länder den Staat nicht akzeptieren werden. Das hat sich bis heute nicht geändert. Wenn man das jetzt umdreht und Israel die Alleinschuld an diesem Konflikt gibt und damit zum einzigen Problem in der Region macht, entspricht das einfach nicht der Realität. Israel hat sicherlich einen Anteil an der komplizierten Situation, aber zu behaupten das Land sei alleine verantwortlich ist böswillig und falsch.

Was kann man dem erwidern?

Wenn man auf dieser Grundlage argumentiert, dass die Araber*innen ja gar nichts anders können und das alles eine kulturelle Frage ist, dann ist das herablassend und rassistisch. Wenn arabische oder muslimische Länder sagen, dass sie Israel von der Landkarte tilgen wollen, dann sollte man sie ernst nehmen und das nicht abtun, wie es diejenigen machen, die Israel Kolonialismus vorwerfen. Gerade diese Aktivist*innen sind dann dazu bereit, sich mit Organisationen und Institutionen gemein zu machen, die antiemanzipatorische Ideologien vertreten. Wenn man sich mit Menschen gemein macht, die Frauen misshandeln, Schwule ermorden, Minderheiten diskriminieren – wenn man sich mit der Hamas, der Hisbollah oder dem Iran solidarisiert, nur um Israel zu kritisieren – dann ist das das Gegenteil des eigenen behaupteten emanzipatorischen Selbstverständnisses.

In der Arbeit gegen Rassismus und Antisemitismus geht es immer um emanzipatorische Werte. Jeder Mensch ist gleich viel wert. Bedingungslos. Das betrifft sexuelle Orientierung, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion. Gleichwertigkeit muss der Standard sein, an dem sich alles misst. Und dieser Standard muss an alle gleichermaßen angelegt werden.

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