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Jahresrückblick 2022 2023 – (K)ein neues Jahr des Antisemitismus?

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Zu Beginn der Documenta wurde in Kassel ein antisemitisches Kunstwerk zunächst verhüllt und wenig später abgebaut. (Quelle: Wikimedia / C.Suthorn / CC BY-SA 4.0)

Seit 2020 wird ein Höchststand nach dem Anderen gemeldet und seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist Antisemitismus unüberseh– und unüberhörbar geworden. Verschwörungserzählungen finden ein Millionenpublikum und antisemitische Codes sind omnipräsent, nicht zuletzt auf Demonstrationen der Corona–Leugner*innen. Der Israelhass treibt in den sozialen Medien, aber auch auf deutschen Straßen neue Blüten und die desaströse Debatte über die Documenta fifteen hat gezeigt, dass Jüdinnen*Juden allzu oft nicht ernst genommen werden. Nein, so kann es nicht weitergehen. Neues Jahr, neues Glück?

Die ersten Wochen des neuen jüdischen Jahres verheißen wenig Frieden

Aus jüdischer Perspektive ist diese Hoffnung auf ein besseres Jahr vielleicht schon wieder verflogen. Ende September war Rosh Hashana, das jüdische Neujahrsfest. Das Jahr 5783 begann. Der eine Woche später gefeierte, höchste jüdische Feiertag, Jom Kippur, endete mit einem Schock. Mal wieder. In Hannover zerbrach während des Gottesdienstes die Scheibe einer Synagoge. Bis heute ist ungeklärt, was genau passierte. Die Polizei geht mittlerweile zwar offiziell von einem Vogel aus. Aber wenn am Jahrestag des Terroranschlags von Halle  und des Anschlagsplans von Hagen in einer Synagoge eine Scheibe zu Bruch geht, läuten bei Jüdinnen*Juden alle Alarmglocken. Kein guter Start ins jüdische Jahr.

Die Chronik antisemitischer Vorfälle der Amadeu Antonio Stiftung zeigt, dass die ersten Wochen dieses neuen jüdischen Jahres nicht besser wurden. Schändungen von Gedenkstätten, das Spielen mit antisemitischen Codes durch AfD-Politiker, Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte mit Hakenkreuz-Schmierereien, Bombendrohungen in der jüdischen Gemeinde in Flensburg, Schüsse auf das Rabbinerhaus der Synagoge in Essen und immer wieder auch körperliche Angriffe: In Köln wurde ein 22-jähriger Mann, der Kippa trug, in der Innenstadt ins Gesicht geschlagen, in Berlin Spandau wurden zwei Brüder mit Baseballschlägern und Messern attackiert, weil sie angeblich „Free Israel” riefen. Die Liste ist lang und dennoch nur ein Ausschnitt. Antisemitismus ist in diesem Land alltäglich und omnipräsent. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (kurz RIAS) zählte im Jahr 2021 mehr als sieben antisemitische Vorfälle pro Tag. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, schon allein weil es RIAS bislang erst in acht Bundesländern gibt. Das Bundesinnenministerium registrierte mehr als 3.000 antisemitische Straftaten im selben Jahr. Die Zahlen aus 2022 könnten noch einmal höher liegen. Nein, das kann so nicht weitergehen.

Antisemitismus nachhaltig bekämpfen

Damit sich das ändert, damit das Jahr 2023 anders wird und sich hier nicht nahtlos einreiht, wird es notwendig sein, mehr gegen Antisemitismus zu tun. Das ist sicher nicht allein die Aufgabe von Jüdinnen*Juden, die dieser unmittelbar bedroht. Die Bekämpfung von Antisemitismus in Form von Prävention, Intervention wie Repression ist die Aufgabe der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft; gerade in diesem Land mit dieser Geschichte. Nachhaltig bekämpft Antisemitismus nur, wer diesen in allen Milieus thematisiert und kritisiert, gerade auch in den eigenen Reihen. Allein den Antisemitismus der „Anderen” zu thematisieren, wie das die deutsche Rechte gerne tut, ist leicht – und dient allzuoft der Ablenkung vom eigenen Antisemitismus. Von der Antisemitismusbekämpfung von Rechts ist nichts zu halten.

Auch wenn die Antisemitismusbekämpfung die Aufgabe der nicht–jüdischen Mehrheitsgesellschaft ist, kann nur zusammen mit Jüdinnen*Juden das Problem angegangen werden. Es ist die Perspektive der Betroffenen, die zu beschreiben vermag, wie der Antisemitismus sich in allen Felder des Alltags seinen Weg bahnt, wie er im Kleinen beginnt, mit Andeutungen und Chiffren spielt und die Grenzen des Sagbaren verschiebt. Jüdinnen*Juden, den jüdischen Gemeinden, Verbänden und Organisationen muss zugehört werden. Der Umgang mit Antisemitismus auf der Documenta ist ein Paradebeispiel dafür, wie es nicht sein darf. Trotz aller Mahnungen und Warnungen durch den Zentralrat der Juden in Deutschland sowie der Jüdischen Gemeinde in Kassel wurde der Antisemitismus auf der Kunstschau kleingeredet und verharmlost. Selbst die Empfehlungen des eingesetzten Experten*innengremiums, das mit der IHRA Definition von Antisemitismus argumentierte, wurden ignoriert. „Jews don’t count” kann man bedauerlicherweise mit dem Titel eines Buchs von David Baddiel sagen. Das muss sich ändern. Von besonderer Relevanz scheinen mir die Felder antisemitische Verschwörungserzählungen, der Antisemitismus in Kunst und Kultur sowie die erinnerungspolitischen Debatten.

Immer wieder lockt die antisemitische Verschwörungserzählung

Antisemitische Verschwörungserzählungen suchen sich seit Jahrzehnten immer neue Anlässe, um diese Welt zu erklären, indem gesellschaftliche Prozesse Personengruppen zugeschrieben werden, die davon angeblich profitieren und daran deshalb auch die Schuld tragen. Im neuen Jahr geht es nicht mehr nur um die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Stärker noch wird die Energieversorgungskrise und das ökonomische Umschlagen der Weltlage auf deutsche Haushalte die Verschwörungsideolog*innen antreiben. Das Thema hat durchaus Potenzial. Denn die Mobilisierungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass ein Schulterschluss extrem rechter Milieus mit der Mitte einfach gelingen kann. Der Hass ist gemeinschaftsstiftend: gemeinsam gegen die „Anderen”, gegen die „Arbeitsscheuen” wie gegen die „inneren Feinde”.

Für die Antisemitismusbekämpfung besteht eine Herausforderung darin zu zeigen, wie der offene Judenhass sich hier hinter Codes und Chiffren versteckt. Auch Verschwörungserzählungen, die nicht explizit von „den Juden” handeln, können ihrem Bauplan nach antisemitisch sein. Diesen strukturellen Antisemitismus, einen Antisemitismus (noch) ohne Juden, sichtbar zu machen, ist der erste Schritt zu seiner Bekämpfung. Diese Form des Antisemitismus ist nicht weniger gefährlich – für Jüdinnen*Juden und für den demokratischen Zusammenhalt in diesem Land.

Antisemitismus keine Bühne bereiten

Die Documenta hat mal wieder gezeigt, dass auch Kunst und Kultur Felder sind, in denen Antisemitismus eine Bühne bereitet wird. Antisemitism sells. Obwohl auf dieser Kunstschau etliche antisemitische Kunstwerke gezeigt wurden und es einen gesellschaftlichen Aufschrei durchaus gab, blieb das weitgehend konsequenzlos. Nur ein einziges Bild wurde abgehängt, nur eine einzige Person musste ihren Posten räumen. Das Verharmlosen und Kleinreden war nicht zuletzt deshalb so laut, weil es sich hier „nur” um israelbezogenen Antisemitismus handelt. Der wird seit Jahren zum Streitfall erklärt. Und tarnt sich erfolgreich als sogenannte Israelkritik. Das hat den Effekt, dass in Workshops Teilnehmer*innen mit nur sehr wenig Vorwissen, bei einem ganz sicher sind: Es sei wahnsinnig kompliziert israelbezogenen Antisemitismus zu bestimmen. Aber das stimmt nicht. Es gibt klare Kriterien und hilfreiche Tools wie die IHRA Definition.

Auch progressive Milieus nicht aussparen

In der Antisemitismusbekämpfung ist es wichtig, diese Kriterien immer wieder offenzulegen und für sie zu streiten. Wir kommen in diesem Feld aber nur weiter, wenn wir auch die immense Abwehr und die Normalisierung von (israelbezogenem) Antisemitismus in progressiven Milieus angehen und kritisieren. Diese Prozesse anzugehen, ist tatsächlich kompliziert. Die Bildungs– und Aktionswochen gegen Antisemitismus, ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung und des Anne Frank Zentrums, haben das mit ihrer Kampagne #AntisemitismusStoppen im vergangenen Jahr versucht. Ausgehend von weitverbreiteten antiisraelischen Ressentiments haben wir in Plakaten und Kurzvideos thematisiert, warum das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen*Juden für Israel, NS-Gleichsetzungen und Fantasien von einem „befreiten Palästina vom Fluss bis zum Meer” mehr als nur verkehrt sind, sondern antisemitisch. Gegenreaktionen blieben nicht aus. Etliche Plakate wurden abgerissen, überklebt oder beschmiert. Der Kampf gegen israelbezogenen Antisemitismus ist ganz offensichtlich mit viel Widerstand verbunden. Umso wichtiger, dass er gekämpft wird.

Erinnerungskulturelle Debatten

In den letzten Jahren entbrannten auch erinnerungspolitische Debatten, die die Antisemitismusbekämpfung erschweren. Denn im Eintreten für die Erinnerung an koloniale Verbrechen der Deutschen wird zunehmend auch die deutsche Erinnerung an die Shoah angegriffen. Dabei werden die wenigen Errungenschaften in Frage gestellt.

Sicher, die „Wiedergutwerdung” (Eike Geisel) des Aufarbeitungsweltmeisters hat viel Kritik verdient. Die Geschichte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seines Nachlebens ist keine Erfolgsstory. Viel zu spät und viel zu zaghaft wurden die Kontinuitäten personeller wie ideologischer Art untersucht, seltener noch aufgearbeitet. Dass es dennoch heute eine kritische Erinnerungskultur gibt, ist das Verdienst des Engagements von unten sowie von Jüdinnen*Juden, die dem Vergessen und Verdrängen der Mehrheitsgesellschaft trotzten.

Die Angriffe auf diese kritische Erinnerungskultur, wie man am Abstreiten der Präzedenslosigkeit der Shoah sehen kann, erschweren auch die Antisemitismusbekämpfung, weil sie den Zweck haben, israelbezogenen Antisemitismus zu enttabuisieren. Sie richten sich auch „gegen Israel, das stellvertretend gemeint ist, wenn es um den Topos der Einzigartigkeit des Holocaust geht”, schreibt Sybille Steinbacher im Band Ein Verbrechen ohne Namen. Denn der Holocaust darf aus der Perspektive derer, die die Erinnerungskultur so vehement angreifen, „nichts Besonderes sein, weil sich dann – und erst dann – die Legitimität des jüdischen Staates in Frage stellen lässt.”

Die erinnerungskulturellen Debatten sind damit auch Antisemitismusdebatten, in denen viel auf dem Spiel steht. Für Erinnerungsorte und Gedenkstätten heißt das, dass sie sich nicht nur zunehmend mit Schuldabwehr-Antisemitismus auseinandersetzen müssen, sondern eben auch mit israelbezogenem Antisemitismus, zumal die beiden miteinander verwoben sind. Eine kritische Erinnerungskultur kann sich nicht allein um vergangenen Antisemitismus kümmern, sie muss auch den gegenwärtigen ins Blickfeld rücken.

Die Entwicklungen der letzten Jahre sind zutiefst besorgniserregend. Mit Blick auf die erste Jahreshälfte 2021 sagte Laura Cazés einmal in einem Gespräch zu mir, dass sie die „Frequenz und Dichte der Ausdrucksformen antisemitischer Vorfälle” erschüttert hat. Die antiisraelischen Mobilisierungen im Mai und die großen Corona–Leugner–Demonstrationen schufen ein besorgniserregendes Nebeneinander, das sich später mehrmals wiederholte. Aber mehr noch: „Wahnsinn” ist, so Laura Cazés weiter, „dass die Leute es dennoch nicht verstehen, dass die Mehrheitsgesellschaft das nicht als antisemitisch erkennt”.

Das neue Jahr muss anders werden. Es muss sich dringend etwas ändern. Wir alle sind dazu aufgefordert in unserem Alltag, in unseren Betrieben und Organisationen Antisemitismus etwas entgegenzusetzen – bevor es zu spät ist.

 

Nikolas Lelle leitet die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.

Foto oben: Wikimedia / C.Suthorn / CC BY-SA 4.0

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