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Jahresrückblick 2023 Baden-Württemberg – Zwischen Reichsbürgern und Wutbürgern

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2023 war Flüchtlingsfeindlichkeit wieder ein Mobilisierungsthema in Baden-Württemberg. (Quelle: L. Teidelbaum)

 

AfD im Aufwind

Ebenso wie auf Bundesebene befindet sich auch die Südwest-AfD im Aufwind. In Umfragen kletterte die extrem rechte Partei auf bis zu 22 % Zustimmung. Damit ist Baden-Württemberg die westdeutsche Hochburg der Partei.

Der gesteigerte Zuspruch zeigte sich auch in steigenden Mitgliederzahlen, von denen berichtet wurde. Im März 2023 hat der Landesverband der AfD noch 3.814 Mitglieder, inzwischen dürften es mehr geworden sein, doch Nachweise fehlen. Die Südwest-AfD simuliert eine Art Dauerwahlkampf. Landauf, landab richtet die AfD Veranstaltungen aus, die sich an ihr Kern-Klientel richten, etwa in Form von „Bürgerdialogen“ mit Abgeordneten. Im ländlichen Raum bleiben die Veranstaltungen dabei häufig ohne Gegenprotest. Inhaltlich geht es oft um Untergangsbilder oder Hetze, etwa gegen politische Gegner*innen. Von der Abwertung künden bereits die Titel der Veranstaltungen. So fand beispielsweise am 6. April 2023 laut Ankündigung in Offenburg eine AfD-Veranstaltung zum Thema „Nazis und Grüne – mehr Gemeinsamkeiten als man denkt“ mit dem AfD-Landtagsabgeordneten Rüdiger Klos statt.

Ein besonderes Highlight für AfD-Hardliner war in diesem Zusammenhang sicherlich der Auftritt des Faschisten Björn Höcke im kleinen Rottweil. Am 29. Juni 2023 fand in der Stadthalle in Rottweil eine AfD-Veranstaltung u.a. mit dem AfD-Landesvorsitzenden Höcke statt, die von 1.000 Personen besucht wurde (vgl. Schwarzwälder Bote, NRWZ). Der breite Gegenprotest vor Ort zählte dafür aber 1.800 Beteiligte.

In der AfD bereitet man sich derzeit schon auf die Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 vor. Allerdings schaffte es der chronisch zerstrittene Landesverband nur zwei Kandidaten auf den aussichtsreicheren Plätzen der AfD-Europawahlliste zu platzieren.

Auf Platz 6 kandidiert der Marc Jongen. Der derzeitige AfD-Bundestagsabgeordnete galt einst als AfD-Parteiphilosoph, ist aber kaum noch wahrnehmbar und gilt unter partei-internen Kritiker*innen als Enttäuschung, da er zu wenig aktiv ist. Trotzdem nutzte Jongen immer wieder den Bundestag als Bühne. So begründete er im Oktober 2020 in einer Bundestagsrede die Ablehnung einer NS-Gedenkstätten: „Dennoch können wir dieser neuen Erinnerungsstätte neben den vielen bereits bestehenden auch nicht zustimmen. Das hat zunächst mit einem Unbehagen zu tun, das aus den Untertönen dieses Antrags aufsteigt. Die minutiöse Aufzählung der deutschen Untaten mit den vielen Superlativen und Horrorbegriffen, von der ‚Monstrosität der NS-Verbrechen‘ über den ‚Vernichtungskrieg‘ bis hin zu der deutschen ‚Tätergesellschaft‘ im Dritten Reich, lassen an ein Wort des Philosophen Hermann Lübbe denken, der vom ‚Sündenstolz‘ der Deutschen sprach. […]. Doch mit Sündenstolz, der bis zum Selbsthass reicht, wäscht man sich nicht von den historischen Sünden rein, sosehr man sich auch durch hypermoralisches Büßertum vor Gott oder der Geschichte selbst zu rechtfertigen trachtet, werte Kollegen.“ (vgl. Openparliament.tv)

Auf Platz 21 findet sich mit Lars Haise aus Winterbach (Rems-Murr-Kreis) ebenfalls ein Kandidat aus Baden-Württemberg. Auf dem AfD-Bundesparteitag am 6. August 2023 meinte er u.a. in seiner Bewerbungsrede: „Liebe Parteifreunde, das Volk – das kann ich als jemand aus dem Volk den ganz normalen Leuten sagen –, das Volk will nicht gendern, das Volk will keine Masseneinwanderung in die Sozialsysteme, es will keine Messerstecher, keinen Klima-Terror, und das Volk will vor allem keinen Krieg.“

Skandale versucht man zu vermeiden, aber sie passieren im Landesverband trotzdem. So sorgte kurzzeitig ein Gerichtsurteil in Baden-Baden gegen den AfD-Stadtrat Martin Kühne für bundesweite Schlagzeilen. Dieser hatte in mindestens zwei Fällen ukrainische Autos großflächig mit „Fuck UA“ und einem Hakenkreuz beschmierte und wurde dafür Ende August 2023 zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen verurteilt (vgl. BNN). Infolge der Verurteilung trat er von seinem Amt zurück.

Gerhard-Hess-Verlag und Kopp-Verlag

Besonders im Höcke-Flügel wird die Bedeutung des Aufbaus eines eigenen Vorfelds für die Partei betont. Zu dem AfD-Vorfeld gehört sicherlich der Gerhard-Hess-Verlag (GHV) mit Sitz in Uhingen (Kreis Göppingen), der seit Anfang 2023 von dem ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Volker Münz geführt wird. Hier erschienen Sammelbände wie „Warum Soldaten die AfD wählen“ (2021), „Was Juden zur AfD treibt. Neues Judentum und neuer Konservatismus. Jüdische Stimmen aus Deutschland“ (2019) oder „Die AfD und die Klimafrage“ (2019). Aber auch Bücher wie „Wir und die anderen“ des neurechten Vordenkers Alain de Benoist aus Frankreich.

Wichtiger als der GHV ist der Kopp-Verlag mit Sitz in Rottenburg am Neckar (Kreis Tübingen), der vermutlich der größte rechte Verlag Deutschlands ist. Laut Eigenangabe auf der Business-Plattform Linkedin hat der Verlag 200 Mitarbeiter*innen. Sein Verlags-Kerngeschäft sind Bücher, die Verschwörungserzählungen verbreiten. Darüber hinaus liefert er alles von Prepper-Zubehör bis Nahrungsergänzungsmittel.

Im Jahr 2023 erschienen im Kopp-Verlag Bücher wie „Demozid. Will eine selbsternannte Elite die Menschheit reduzieren“ von Peter Orzechowski oder „Rückkehr nach Beuteland. Deutschland und das Spiel um Macht, Geld und Schuld“ von Dr. Bruno Bandulet. Ebenso erschien das Buch „George Soros‘ Krieg“ von ‚Richard Abelson‘. Bei ‚Richard Abelson‘ soll es sich um das Pseudonym von Collin McMahon handeln, der seit Mai 2018 Pressesprecher des bayrischen Landtagsabgeordneten Petr Bystron und mindestens seit Februar 2021 Assistent des baden-württembergischen AfD-Europaabgeordneten Joachim Kuhs ist (vgl. t-online).

Der Kopp-Verlag bewirbt auch seine Buch-Titel, indem er ein rechtes Publikum anspricht. So hieß es etwa im Mai 2023  in der Online-Buchwerbung für das die deutsche Ausgabe von „Dreamland“ von dem US-Ufologen Bob Lazar: „Dem verrückten Usurpator Joe Biden und seinen sklavischen Gefolgsleuten von den Demokraten stehen die Trumpisten gegenüber, die das normale Amerika repräsentieren und nicht wollen, dass ihr Land in einer transhumanistischen Eine-Welt-Dystopie untergeht. Genau wie die anderen verwurzelten Gesellschaften wollen sie ihre altehrwürdige Lebensweise inmitten der würgenden Tentakel von hysterischen Trans- und Homosexuellen, verräterischen antiweißen Hetzern und mörderischen Black-Lives-Matter-Gaunern und Terroristen bewahren.“

Hochburg der Reichsbürger*innen

Baden-Württemberg gilt weiterhin als Hochburg der Reichsbürger-Bewegung. Die Sicherheitsbehörden schätzen die Gesamtzahl auf knapp 4.000 Personen.

Diese zersplitterte Strömung der extremen Rechten fällt immer wieder durch Gewalt auf. Das zeigte sich auch in Baden-Württemberg. Bei einer Razzia gegen den Reichsbürger Markus L. in Reutlingen-Ringelbach am 22. März 2023 im Zuge der bundesweiten Razzien eröffnete L. das Feuer und verletzte eine SEK-Beamten am Arm.

Immer wieder waren Orte in Baden-Württemberg von den Razzien gegen Reichsbürger*innen betroffen.

So fanden am 20. Juni 2023 auch in Tübingen, Ebersbach/Fils, Empfingen (Kreis Freudenstadt), St. Johann-Ohnastetten und Aldingen-Aixheim Hausdurchsuchungen gegen Personen aus der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß statt.

Inzwischen reagiert auch der Staat. Vom April bis Oktober 2023 fand in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen den Reichsbürger  Ingo K. statt. Er hatte am 20. April 2022 in Boxberg-Bobstadt (Main-Tauber-Kreis) bei einem SEK-Einsatz zur Beschlagnahmung mit einem vollautomatischen Gewehr dutzende Schüsse auf die 14 SEK-Beamten abgegeben und zwei verletzt. Deswegen war er angeklagt in 14 tateinheitlichen Fällen versucht zu haben einen Menschen aus „sonstigen niedrigen Motiven“ zu töten. Am 15. November 2023 wurde das Urteil verkündet: 14 Jahren und 6 Monaten, sowie eine anschließende Sicherungsverwahrung. (vgl. Belltower.News)

Das Oberlandesgericht Stuttgart erhält einen weiteren Senat, was unter anderem mit der
Zunahme an Fällen gegen Reichsbürger begründet wird (vgl. SWR).

Zugkräftiges Mobilisierungs-Thema: Feindbild Flüchtling

Die Mobilisierungsstärke der verschwörungsideologischen Pandemie-Leugner*innen scheint trotz des Aufgreifen neuer Themen (z.B. Ukraine-Krieg) stark nachgelassen zu haben. Selbst langfristig beworbene Demonstrationen in Baden-Württemberg mobilisierten in der Spitze nur 1.000 Personen.

Zugkräftiger dagegen sind lokale Unterbringungen von Geflüchteten.

In Tamm (Kreis Ludwigsburg) wurde gegen eine Landeserstaufnahmestelle (Lea) mobilisiert. Ging es anfangs noch um vorgeblichen Naturschutz wurden mit der Zeit immer mehr rassistische Klischees über Geflüchtete und deren Gefährlichkeit bedient. Am 7. Mai 2023 fand eine 3. Demonstration gegen eine Landeserstaufnahme-Stelle statt, an der zwischen 2.000[7] bis 4.000[8] Personen teilnahmen (Stuttgarter Zeitung, Bietigheimer Zeitung). Veranstalter war die Initiative „Gemeinsam Gegen Lea Tamm Asperg“, die sich von der AfD distanzierte. Organisierte extreme Rechte waren auf der Kundgebung tatsächlich kaum präsent.

In Albstadt (Zollernalbkreis) trieb die Möglichkeit der Unterbringung von Geflüchteten in einer Turnhalle rassistisch besorgte Bürger*innen hundertfach auf die Straße. So fand am 22. Oktober 2023 in Albstadt-Ebingen eine Anti-Asyl-Demo mit bis zu 800 Personen statt (vgl. ZAK).

In Albstadt-Ebingen traten auch mehrere AfD-Landtagsabgeordnete an das Mikrofon.

Überdies wurden einige dieser Unterbringungen oder Gewalttaten einzelner Geflüchteter in Baden-Württemberg bundesweit von der extremen Rechten instrumentalisiert, oft verbunden mit Desinformationen.

Etwa die im Februar 2023 verbreitete Behauptung in Lörrach müssten Bewohner*innen ihr Haus für Geflüchtete räumen. Das stimmte zwar, aber die 40 Mieter*innen landeten nicht auf der Straße wie suggeriert wurde, sondern wurden andernorts untergebracht (vgl. t-online).

Es droht im Windschatten von gesteigerten Anti-Asyl-Protesten auch wieder ein Wachstum neonazistischer und neofaschistischer Jugendgruppen. Derzeit ist deren Zahl und Größe in Baden-Württemberg noch sehr überschaubar. Die ursprünglich im Umfeld der „Identitären Bewegung“ (IB) entstandene Gruppe „Revolte Pforzheim“ scheint sich immer mehr zum klassischen Neonazismus hin zu orientieren und weist Verbindungen zu „Die Heimat“ (ehemals: NPD) und „Der III. Weg“ auf. Aufnahmen aus Stuttgart vom 31. Oktober zeigen um die 30 Personen. Das Video dazu ist mit mit „Heimattreue Jugend Süddeutschland“ betitelt, was an die 2009 verbotene „Heimattreue Deutsche Jugend“ erinnert.

Als „Reconquista21“ firmiert seit Oktober 2023 die IB-Tarngruppe „Wackere Schwaben“. Gegen die „Wackeren Schwaben“ fanden am 31. August 2023 in Stuttgart bei Michael S. und im Regierungsbezirk Freiburg bei einer Aktivistin Hausdurchsuchungen statt. Anlass waren Ermittlungen wegen einer rassistische Propaganda-Aktion im bayrischen Peutenhausen am 9. Februar 2023 (vgl. ZVW).

Die „Grauen Wölfe“ heulen weiter

„Graue Wölfe“-Graffiti am Bahnhof

Wenig thematisiert wird, dass Baden-Württemberg eine Hochburg der türkischen ultranationalistischen „Grauen Wölfe“ (türkisch: „Bozkurtlar“) ist. Schätzungen der Behörden gehen von 50 Vereinen und 2.000 Mitgliedern aus. Die Mobilisierungsstärke ist allerdings größer. Zur ‚Mutterpartei‘ „Milliyetçi Hareket Partisi“ (MHP, „Partei der Nationalistischen Bewegung“), der wichtigsten extrem rechten Partei in der Türkei, behält man eine enge Anbindung bei. So besuchte beispielsweise am 26. März 2023 Cemal Cetin, türkischer MHP-Abgeordneter, die Gemeinde der „Türk Federasyon“ in Ludwigsburg bei Stuttgart und nahm am gemeinsamen Fastenbrechen teil (vgl. FR).

Auf einem Foto dieser Veranstaltung ist eine Bestuhlung für etwa 750 Personen zu sehen.

Der Gaza-Konflikt hat auch die „Grauen Wölfe“ auf den Plan gerufen und ihre Anhänger*innen nehmen auch an Pro-Palästina-Demos teil.

 

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