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Kommentar Der Dammbruch der „Israelkritik“

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Am 4. November 2023 liefen rund 10.000 Demonstrierende durch Berlin-Mitte - teils mit antisemitischen Plakaten
Am 4. November 2023 liefen rund 10.000 Demonstrierende durch Berlin-Mitte - teils mit antisemitischen Plakaten (Quelle: Recherchenetzwerk Berlin)

Geschichte wiederholt sich vielleicht nicht, sie reimt sich aber. Als die Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 in Deutschland ankam, begann ein Prozess der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Verschwörungsmythen und Antisemitismus. Wenige Monate vorher war das noch ein Spezialthema, kaum jemand kannte Reichsbürger, völkische Siedler oder QAnon. Die Pandemie war der Katalysator, um deren Ideen via Social Media und auf der Straße zu verbreiten. Das blieb aber nicht ohne Widerspruch. Gegendemonstrationen wurden angemeldet und es wurde breit aufgeklärt. Das führte zu einem erhöhten Problembewusstsein und einem gesellschaftlichen Konsens: Verschwörungserzählungen sind gefährlich und in den allermeisten Fällen antisemitisch. Und mit Akteur*innen, die solche Geschichten verbreiten, macht man sich politisch nicht gemein.

Gerade befinden wir uns in einer ähnlichen Situation. Seit dem 7. Oktober 2023 ist israelbezogener Antisemitismus in aller Munde. Wieder – muss man sagen. Denn Diskussionen über das Thema gibt es seit Jahren. Was ist anders? Es kann niemand mehr leugnen, dass diese Form des Antisemitismus existiert und gefährlich ist, dass Jüdinnen*Juden hier angegriffen wurden, Molotowcocktails auf Synagogen flogen, Häuser mit Davidsternen markiert, jüdische Friedhöfe geschändet und Gedenkstätten beschmiert wurden – im Namen einer „legitimen Israelkritik“.

Bis heute gibt es Wortmeldungen, die die Gefahr von israelbezogenem Antisemitismus leugnen und behaupten, das sei allein eine ideologische Waffe, um Kritik an Israel zu kriminalisieren. Seit einer gefühlten Ewigkeit werden die Ausschläge israelbezogenen Antisemitismus von Versuchen begleitet, diesen zu verharmlosen. Losgelöst von den tatsächlichen Ereignissen – oder besser gesagt blind für die Realität. Denn israelbezogener Antisemitismus zeigt nicht erst in diesem Jahr seine hässliche Fratze.

Das war auch im Mai 2021 so, als hier in Deutschland Tausende auf die Straße gingen sind. In Gelsenkirchen demonstrierte man vor einer Synagoge. In Berlin wurde „Scheiß Jude“ und „Kindermörder Israel“ gerufen, oder gefordert, Tel Aviv zu bombardieren und mit „Millionen Menschen in Jerusalem einzumarschieren“. Die Terrororganisationen Hamas und der Islamische Jihad haben seitdem Tausende Raketen auf Israel abgefeuert. Schon 2014 schrien Demonstrant*innen „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“. Die Beispiele zeigen deutlich, wie hier im Namen einer angeblich „legitimen Israelkritik“ Judenhass verbreitet wird.

Die Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sprechen eine eindeutige Sprache: Antisemitismus nahm in den letzten Wochen immens zu. Die Ereignisse in Israel dienen als Gelegenheit, um Antisemitismus zu verbreiten. Oder anders formuliert: angesichts des gesellschaftlichen Klimas trauen sich mehr Leute. Für Jüdinnen*Juden werden die sicheren Räume weniger. Das zeigen beispielsweise die Debatten um die Universitäten, in denen Aktivist*innen mit Besetzungen oder Happenings ihrem Israelhass Ausdruck verliehen. Oder die Beispiele aus der Club- und Kulturszene: In Berlin hatten sich jüdische Gruppen darum bemüht, Locations für eine Chanukka- und eine Purim-Party zu finden. Beide Male haben namhafte Locations erst unter fadenscheinigen Begründungen abgesagt und sich später nach einer Welle der Entrüstung dafür entschuldigt. Es ist unnötig, es zu betonen, aber dennoch: beide Partys haben keinen Bezug zu den aktuellen Ereignissen in Israel-Palästina.

Israelhass und Judenhass lassen sich analytisch nicht trennen. Das eine führt meist zum anderen. Mittlerweile haben selbst Studien diesen Zusammenhang belegt. Auch das ist keine neue Erkenntnis, aber hoffentlich eine, die sich endlich durchsetzt. Der Shoah-Überlebende Jean Améry hat schon 1969 geschrieben, dass der Antisemitismus im Antizionismus und Antiisraelismus enthalten ist wie das Gewitter in der Wolke. Dieses Gewitter kann jederzeit hervorbrechen. Daran hat sich seitdem nichts geändert. Um Antisemitismus nachhaltig bekämpfen zu können, muss man auch dieses Verhältnis verstehen.

Die genozidale Gewalt gegen Israel vom 7. Oktober hat erneut gezeigt, dass Antisemitismus keine Grenzen kennt, zur Tat drängt, zum Mord – und dass auch die Antisemiten von der Hamas einen globalen Kampf wünschen. Warum sonst hätten diese Leute zu einem weltweiten Tag des Hasses aufrufen sollen? Wie will man erklären, dass auf einer Demonstration gegen Israel Juden der Tod gewünscht wird, wenn nicht mit Antisemitismus?

Die aktuelle Situation ist durchaus analog zu der in 2020. Antisemitismus bricht sich wieder in ungesehenem Maß Bahn. Eines hat die Hamas schon geschafft: Die Hoffnung darauf zerstört, wenigstens in Israel, im einzigen jüdischen Staat sicher zu sein. Die gesellschaftliche Debatte verhält sich noch nicht analog zu der in 2020. Es findet noch keine gesamtgesellschaftliche Debatte über israelbezogenen Antisemitismus statt, von einem Konsens sind wir weit entfernt. Das hat sicherlich auch mit den Träger*innen dieser Variante zu tun. Mit den rechtsextremen Verschwörungsfanatikern will kaum jemand etwas zu tun haben. Aber mit den progressiven Professor*innen und Intendant*innen, den linken Gruppen und Initiativen hat man viel gemein.

Die dringend nötige Abgrenzung ist hier immer auch Selbstkritik. Sie tut weh, und ist dennoch notwendig. Hinzu kommen die unsäglichen Bündnisse dieser Leute mit islamistischen Gruppierungen. Schon um den deutschen Rechten nicht in die Karten zu spielen, halten sich viele hier zurück. Ein Fehler. Wenn wir aus 2020 eines gelernt haben, dann, dass einer antisemitischen Massenmobilisierung mit klarer Haltung, mit Abspaltung und scharfer Kritik am besten zu begegnen ist. Das gilt nicht nur im Falle von Verschwörungserzählungen. Das gilt ganz genauso im Fall des israelbezogenen Antisemitismus. Die Zeit, diese Erkenntnis in gesellschaftliche Praxis zu überführen, ist jetzt.

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