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Kommentar Wie viel eigentlich im Argen liegt

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Vor zehn Jahren im Juni 2000 wurde Alberto Adriano in Dessau von Nazis erschlagen. Der stern berichtete darüber und andere Medien auch – nicht alle, aber doch viele. Eine der ersten Reaktionen des damaligen Bürgermeisters auf den Mord und das folgende Medienecho war ein verzweifeltes: „Das hat unsere Stadt nicht verdient!“. Das klang wie: Dessau hat sich doch immer Mühe gegeben, die Sache mit den Nazis in den Griff zu kriegen. Und: Jetzt fallen die Medien über uns her. Das haben wir nicht verdient. So ungefähr war damals die Reaktionsreizleitung. Damals – das weiß ich noch – verschlug es mir vollkommen die Sprache. Der Tod von Alberto Adriano war nicht Auslöser des späteren „Aufstands der Anständigen“, ebenso wenig wie die Morde zuvor. Dessau liegt im Osten. Die Öffentlichkeit im Westen hatte sich daran gewöhnt, solche Nachrichten von dort zu lesen. Aber auch die Morde im Westen galten lange als Einzeltaten, begangen von „Ewig-Gestrigen“. Der Tod Adrianos löste Bestürzung aus, nicht aber die Erkenntnis, dass der Rechtsextremismus mehr sei und bedrohlicher, als die sinnlose Gewalt von einigen Skinheads. Das kam erst schrittweise. Denn in diesem Sommer schafften es noch weitere Nachrichten auf die Titelseiten der Zeitungen. Es war schließlich der Sprengstoffanschlag auf jüdische Flüchtlinge in Düsseldorf im August 2000, der den „Aufstand“ aus löste. Was ist seither geschehen?

Nazis investieren in politische Kultur

Es hat weitere Tote gegeben in den vergangenen zehn Jahren. Der NPD gelang es, taktisch und strategisch mit den freien Kameradschaften zu kooperieren. Sie ließ das Image der Altnazis hinter sich und begann sich in Richtung der national-revolutionären Bewegung zu öffnen. Die passte nämlich besser in den post-sozialistischen Osten mit seinen demokratieskeptischen Bürgern, denen der Kapitalismus selbst nach zehn Jahren deutscher Vereinigung als Zumutung vorkam. Ebenso wie die Migranten und Flüchtlinge, die nun vereinzelt in ihren Städten auftauchten. So begann die NPD nun mit der Hilfe der ansässigen Kameradschaften den Osten als Versuchfeld zu behandeln. Sie tat damit genau das, was die Vertreter der Demokratie bis dahin ihrerseits für überflüssig hielten: Investieren in die politische Kultur. Die Gründe hier so zu versagen, lagen auch an dem Unwillen, sich ein weiteres Mal mit der deutschen Geschichte auseinander zu setzen – diesmal einschließlich der Konflikte um die DDR. Der Kalte Krieg hatte so manche nötige Debatte ausgeblendet und nun entfloh man ihr zugunsten des Aufbaus Ost. Vielleicht geschah dies in der Hoffnung auf eine Wiederholung der Folgen des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik West. Das Resultat: die neuen Länder wurden zu blühenden, national befreiten Landschaften für Kameradschaften und NPD, wie es spätere Wahlerfolge auch den politischen Mandatsträgern der demokratischen Parteien eindrücklich zeigten. Die Schlussfolgerung der Demokratie: die NPD gehört verboten. Punkt. Darüber konnte dann gefahrlos gestritten werden, während die Rechtsextremisten sich weiter Schritt für Schritt in den Kommunen und Regionen festsetzten. Und dabei in den meisten Fällen nur auf hilflose Reaktionen jener stießen, die wie der Bürgermeister von Dessau diese Entwicklung für einen persönlichen Affront hielten.

Doch es gab noch etwas anderes. Das Wort Zivilgesellschaft begann, einen wirklichen Sinn zu bekommen. Die Stimmen derer, die schon lange Zeit besorgt waren über eine Art sozialer Bewegung gegen die Demokratie, drangen nun durch das Verleugnen hindurch. Sie forderten Programme, die nun nicht mehr Gewalt von Nazis mit Zuwendungen für deren Jugendarbeit belohnen sollte, sondern diejenigen vor Ort zu unterstützen hatte, deren Ziel es war ihre Kommunen demokratisch zu stärken und zu gestalten. Dieser unbequeme Weg sollte dem Rechtsextremismus den Nährboden aus Ressentiment und Gemeinschaftsseligkeit entziehen. Gemeinsam mit der Bundesregierung kamen diese innovativen Programme in Gang. Beratungsteams, Projekte, kleine Initiativen – es entstanden Aktivitäten, wo bislang nur Nazis waren und Bürgermeister konnten sich fachliche Beratung holen. Es kam Leben in die Bude. Mal holperig, mal großartig aber immer lernend, wie der Vorsprung der Nazis aufzuholen sei.

Zumindest als normative Haltung…

Ehrlich gesagt, ist trotz aller Rückschläge und der wiederholten Versuche der Politik die Zivilgesellschaft zu domestizieren, doch eine breite oder breitere Bereitschaft entstanden, den Rechtsextremismus und die Demokratielosigkeit inmitten eines Rechtsstaates nicht mehr einfach so hinzunehmen. Schauen wir uns um: Niemand bestreitet mehr ernsthaft, dass in Ost und West viel zu tun bleibt. Dass die neuen Nazis zumindest dadurch indirekt gefährlich sind, weil man ihre Ansteckungsgefahr ignoriert und sie gewähren lässt. Ohne unsere Anstrengungen hätte es in den Schulen keine Veränderung gegeben, auch nicht in den Jugendzentren. Ohne die vielen langwierigen Projekte und Kampagnen gäbe es keine klare Ablehnung des Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit – zumindest als normative Haltung ist dies inzwischen angekommen. Wir haben viele Menschen einbezogen und andere erreicht, wir haben den Ämtern auf die Füße getreten und Verwaltungen überzeugt. Wir haben uns in Fragen der Stadtentwicklung hinein gedacht, Quartiere beraten, Lehrer fortgebildet ebenso wie Hebammen. Wir haben die Lokalgeschichte aufgewühlt und Kindern zu ihren Rechten verholfen, wir haben Aussteigern einen Weg gezeigt und Opfer unterstützt. Wir haben Häuser aus- und so einige nach Anschlägen wieder aufgebaut. Wir haben Nazi-Demonstrationen blockiert und Menschen nach Gewalttaten den Umzug bezahlt. Wir haben sehr viel Zeit in Gremien verbracht, aufgepasst und das Wort ergriffen.

In der Lage sein, zu trauern

Wir sind dabei erwachsen geworden. Damit meine ich zweierlei. Zum einen sehen wir jetzt genauer und schmerzhafter, wie viel eigentlich im Argen liegt und was es angesichts von Krisen in Politik und Wirtschaft noch braucht, um den Demokratiefeinden entgegentreten zu können – auch bei uns selbst. Und zum anderen finde ich, sollten wir nun auch in der Lage sein zu trauern. Nur das. Einfach so. Um jeden der 149 Menschen, die umgebracht wurden. Ganz und gar unverdient, lieber Bürgermeister. Alberto Adriano starb am 11. Juni 2000 als er auf dem Weg nach Hause den Park durchquerte. Auch wir sind seine Familie.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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