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Lagebild Antisemitismus Die „Erinnerungskultur“ der extremen Rechten

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Nazi-Gedenken: Im Jahr 2023 dürfen Neonazis weitgehend ungestört durch Dresden laufen - ein Trauerspiel, kein "Trauermarsch". (Quelle: BTN/SR)

Bereits seit Jahren ist zu beobachten, dass die extreme Rechte neben den Angriffen auf die Erinnerung auch ein eigenes Gedenken pflegt. Der Kern des Gedenkens: die Revision der Geschichte. Das Ziel ist, die deutsche Geschichte umzuschreiben. In den rechten Gedenkpraktiken wird sichtbar wie eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, die Höcke im Jahr 2017 propagierte, im Sinne der extremen Rechten aussehen soll. Die extreme Rechte nutzt Gedenk-, Jahres- und Todestage, um ihre Ideologie zur Schau zu stellen.

Beispielsweise mobilisierten NPD (heute: Die Heimat) und Junge Nationalisten in den vergangenen Jahren in ihren Social-Media-Kanälen zum Volkstrauertag. Der Volkstrauertag – ein staatlicher Gedenktag, erstmals 1925 in der Weimarer Republik begangen – wurde 1934 in „Heldengedenktag“ umbenannt. Für die Umbenennung war NS-Propagandaminister Joseph Goebbels verantwortlich. Aus stillem Totengedenken wurde martialische Heldenverehrung. Bereits das: eine erinnerungspolitische Wende.

Wenn Neonazi-Parteien heute zum Volkstrauertag mobilisieren, nennen sie das in nationalsozialistischer Tradition: „Heldengedenken“. Neonazis besuchen zu diesem Anlass Kriegsdenkmäler und Friedhofsgräber, hissen Fahnen und Transparente, singen Lieder und lesen Gedichte, stellen Kerzen auf und legen Kränze ab. Danach werden Fotos in den Social-Media-Kanälen gepostet. Was die Neonazis antreibt: Aus Täter*innen sollen Märtyrer*innen gemacht werden – und die Opfer des NS-Terrors und der Shoah werden verschwiegen.

Neben staatlichen Gedenktagen, die instrumentalisiert werden, werden auch eigene „Aktionstage“ initiiert. So führte die Neonazi- Partei Der Dritte Weg am 10. September 2023 einen „Heimatvertriebenen- Aktionstag“ durch, um „der deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung“ zu gedenken. Der baden-württembergische „Stützpunkt“ der Partei veröffentlichte via Telegram eine Karte des Deutschen Reiches mit der gebietsrevisionistischen Parole „VERZICHT IST VERRAT!“. Die Parole will also die Grenzen der Bundesrepublik wieder gegen die des Deutschen Reichs austauschen.

Das Aktionsbündnis gegen das Vergessen, ein Bündnis der Neonazi-Szene, lädt seit Jahren anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg zum „Trauermarsch“ durch die sächsische Landeshauptstadt. Am Ende des „Trauermarsches“ findet ein Gedenken statt. Mitglieder der Artgemeinschaft („Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“) – einer antisemitischen Neonazi-Sekte, die am 27. September 2023 von Bundesinnenministerin Nancy Faeser bundesweit verboten wurde– spielten in den vergangenen Jahren im Rahmen des Gedenkens eine führende Rolle. Am 11. Februar 2023 nahmen knapp 1.000 Neonazis teil.

In einem Bericht, der nach dem Gedenken veröffentlicht wurde, schrieben Neonazis: Der „Bombenterror über Dresden“ habe „das größte Menschenfeuer der Menschheitsgeschichte entfacht“. Es wird deutlich: Die Neonazi-Szene nutzt die Bombardierung Dresdens, um eine Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Nicht die Deutschen, sondern die Amerikaner*innen und Brit*innen hätten einen Völkermord begangen. Die Täter-Opfer-Umkehr tritt im Terminus „Bombenholocaust“ – einem Begriff, der seit Jahren im Kontext der Bombardierung Dresdens genannt wird – besonders stark hervor.

Seit einigen Jahren kopiert die AfD das erinnerungspolitische Opfernarrativ der Neonazi-Szene. 2019 geriet die Partei in die Schlagzeilen, weil sie einen Kranz mit der Aufschrift „Den zivilen Opfern des Alliierten Bombenterrors / In stillem Gedenken – AfD Bundestagsfraktion“ ablegte.

„Bombenterror“ – das ist ein ideologischer Terminus der Neonazis. Nicht nur in Dresden findet ein alljährliches Gedenken an die Bombardierung deutscher Städte statt, sondern auch in Heilbronn und Pforzheim (beide Baden-Württemberg) sowie in Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Kundgebungen zu Ehren nationalsozialistischer Täter*innen, an denen deutsche Neonazis teilnehmen, werden auch europaweit durchgeführt. Exemplarisch seien der „Tag der Ehre“ in Budapest (Ungarn) und der „Marsch der Legionäre“ in Riga (Lettland) genannt.

Andere rechtsextreme Institutionen stellen das Gedenken durch Vermittlung einer geschichtsrevisionistischen Perspektive in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. Zwei Vereine spielen hier seit Jahren eine zentrale Rolle: Gesellschaft für freie Publizistik (kurz: GfP, Sitz: Bayern) und Gedächtnisstätte (Sitz: Thüringen). Die GfP wurde 1960 von ehemaligen Angehörigen der SS und der Wehrmacht gegründet. Vorsitzender ist Martin Pfeiffer. Er stammt aus Bayern, lebt in Österreich und war Herausgeber der rechtsextremen Zeitschrift Die Aula.

„Freie Publizistik“: Die Bezeichnung der GfP behauptet, es geht um die Meinungsfreiheit – aber in Sachen Shoah. Das bedeutet konkret: Der Verein will die Shoah relativieren und leugnen dürfen ohne wegen Volksverhetzung bestraft zu werden. Alljährlich veranstaltet er einen „Jahres-Kongreß“. Bereits an den Titeln der Kongresse wird die geschichtsrevisionistische Ausrichtung deutlich: „60 Jahre nach Kriegsende – Befreiung von der ‚Befreiung‘“ (2005) oder „Missbrauchte Geschichte – Deutschland ewig am Pranger?“ (2014).

Im Rahmen der Kongresse verleiht der Verein einen Preis, der Menschen gewidmet ist, die sich „besonders stark für die Freiheit der Meinungsäußerung und die historische Wahrheit in der Zeitgeschichte eingesetzt“ hätten. 2007 erhielt Erich Priebke den Preis. Priebke war ein SS-Hauptsturmführer und Kriegsverbrecher. Er war am Massaker in den Ardeatinischen Höhlen (24.03.1944) beteiligt. 2022 bekam Fred Duswald den Preis. Duswald, Autor der Zeitschrift Die Aula, bezeichnete ehemalige KZ-Häftlinge als „Landplage“. Die GfP liefert die ideologische Grundlage für die Gedächtnisstätte. Jener Verein wurde von Ursula Haverbeck gegründet, eine der prominentesten Shoahleugner*innen Deutschlands. Sie wurde mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt. Der Vorsitzende der Gedächtnisstätte ist Wolfram S. Er ist seit Jahren in der extremen Rechten aktiv und soll Mitglied der Patriotischen Union, eines mutmaßlich rechtsterroristischen „Reichsbürger“-Netzwerks, gewesen sein. Das Netzwerk um Heinrich XIII. Prinz Reuß soll einen Putsch geplant und Waffen gehortet haben.

Im Dezember 2022 fanden bundesweite Razzien gegen die Patriotische Union statt. Die Gedächtnisstätte besitzt seit 2014 ein Mahnmal zum Gedenken an die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges. In der Widmung steht: „Den 12 Millionen zivilen deutschen Todesopfern im und nach dem 2. Weltkrieg, umgekommen durch Bomben, Verschleppung, Vertreibung und in Gefangenenlagern. Den Müttern, Vätern, Töchtern und Söhnen des deutschen Volkes, vergewaltigt, verscharrt, erschlagen, erfroren, ertrunken, verhungert, verbrannt, verendet durch millionenfaches Leid an gebrochenem Herzen.“

Das Mahnmal besteht aus einem Obelisken und 12 Steintafeln. Die Tafeln sollen „Trauersteine mit Inschriften für die Opfergruppen“ sein. Am Sockel des Obelisken steht ein Gedicht des Arbeiterdichters und Sozialdemokraten Karl Bröger (1886–1944): „Nichts kann uns rauben / Liebe und Glauben / Zu unserm Land / Es zu erhalten / Und zu Gestalten / Sind wir gesandt / Mögen wir sterben / Unseren Erben / Gilt dann die Pflicht / Es zu erhalten / Und zu gestalten / Deutschland stirbt nicht“. Das Gedicht stammt aus dem Jahr 1923 und bezieht sich auf die Ruhrbesetzung. Bereits die Nationalsozialist*innen haben etliche seiner Gedichte entkontextualisiert und vereinnahmt.

Das Mahnmal veranschaulicht, wie die extreme Rechte den Fokus des Gedenkens verschiebt. Von den deutschen Täter*innen und den Opfern der Shoah gibt es keine Spur. Stattdessen werden bloß „deutsche“ Opfer betrauert. Das Mahnmal zeigt exemplarisch, wie der geschichtliche Kontext unerwähnt bleibt, um aus Deutschen ein Volk von Held*innen und Märtyrer*innen zu machen. Das gibt einen Einblick, wie die Gedenkkultur und das Geschichtsbild der extremen Rechten aussieht – und in welche Erinnerungskultur sie uns führen, wenn sie es dürfen.


Dieser Text ist ein Auszug aus dem „Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #12“ der Amadeu Antonio Stiftung.

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