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NS-Relativierung Was hat es mit Nürnberg 2.0 und dem Nürnberger Kodex auf sich?

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Ein:e Demonstrant:in mit dem Verweis auf den "Nürnberger Kodex" auf dem Schirm. (Quelle: picture alliance / Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop)

Dieser Text entstand im Rahmen des Projektes „Get The Trolls Out“.

Immer wieder vergleichen sich Impf-Gegner:innen auf Demonstrationen oder in den Sozialen Medien mit den Verfolgten des Nationalsozialismus, mit Juden:Jüdinnen, Sinti:zze und Rom:nja, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen und politisch Verfolgten. Sie glauben, das gleiche Schicksal zu erleiden, das Millionen Menschen durch den Nationalsozialismus erleiden mussten. Antisemitische Vorfälle und die Verharmlosung des Holocaust sind im Pandemie-Kontext nichts Neues. 2021 stieg die Anzahl der antisemitischen Straftaten laut Bundesinnenministerium um 30 Prozent im Gegensatz zum Vorjahr – von 2351 auf 3028 Vorfälle und verzeichnet damit ein Rekordhoch. Zu den üblichen Relativierungen gehören Ungeimpft-Sterne auf dem Arm, Vergleiche mit Sophie Scholl und Anne Frank oder die Forderung eines „Nürnberg 2.0”. Also eine Wiederholung der Nürnberger Prozesse, bei denen sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Hauptverantwortlichen für die NS-Verbrechen verantworten mussten. Auf der Anklagebank heute sollen allerdings Virolog:innen, Wissenschaftler:innen, „die Impf-Lobby” und Politiker:innen sitzen.

Der Leiter des Memoriums Nürnberger Prozesse Imanuel Baumann findet gegenüber Belltower.News klare Worte: „Die Verbrechen des NS-Regimes werden verharmlost, wenn man die Shoah und die Politik während der Pandemie parallelisiert.” Darunter fällt auch der Ruf nach einem „Nürnberg 2.0”. Der Historiker beschäftigt sich mit Kriminalpolitik und Verbrechensgeschichte im 18. und 19. Jahrhundert und war schon in den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora tätig. Seit April 2021 leitet er das Memorium Nürnberger Prozesse, das am Originalschauplatz, im Nürnberger Justizpalast, über die Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof und die sogenannten Nachfolgeprozesse informiert.

Nürnberger Prozesse

Nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg standen im Saal 600 24 Hauptverantwortliche der nationalsozialistischen Verbrechen im ersten Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Großbritannien, Frankreich, USA und UdSSR stellten dabei die Richter. Die vier möglichen Anklagepunkte lauteten: Gemeinsamer Plan oder Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Zu der Forderung neuer Nürnberger Prozesse vonseiten der Impf-Gegner:innen sagt Baumann: „Die Nürnberger Prozesse ließen zum ersten Mal rechtmäßige Gerichtsverfahren für Hauptverantwortliche des Zweiten Weltkrieges zu. Wenn Menschen heute ein ‚‘Nürnberg 2.0’ fordern, dann wollen sie aber keine fairen Rechtsverfahren für Verantwortliche, sondern haben ein Rachemotiv. Das ist genau das Gegenteil von den Nürnberger Prozessen – dort fand Recht statt Rache statt, auch für solche Verbrecher.”

Unter den Angeklagten im ersten Prozess waren etwa NS-Luftfahrtminister Hermann Göring, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, Stürmer-Herausgeber Jullius Streicher und andere NS-Größen aus Militär, Wirtschaft und Politik. die Reste der Reichsregierung, das Führerkorps der NSDAP, von SS und Gestapo, sowie der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht. Am 20. November 1945 begann die Verhandlung, die Urteile wurden am 30. September und 1. Oktober 1946 verlesen. Zwölf Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, drei zu lebenslanger Haft, vier bekamen langjährige Haftstrafen und drei Angeklagte wurden freigesprochen.

Die Nachfolgeprozesse

Zwischen 1946 und 1949 fanden insgesamt zwölf Prozessen statt,185 Mediziner:innen, Jurist:innen, Militärs, Beamt:innen und Polizeioffizier:innen wurden vor US-Militärgerichten angeklagt. Der erste dieser Nachfolgeprozesse war von Dezember 1946 bis August 1947 der „Nürnberger Ärzteprozess”, in dem sich insgesamt 23 Ärzt:innen und SS-Funktionäre wegen brutalen Experimenten und grausamen Morden an Kindern und Erwachsenen verantworten mussten. Hunderttausende Menschen wurden in der NS-Zeit zwangssterilisiert oder aufgrund von Krankheiten oder Behinderungen in Krankenhäusern und KZs ermordet, nachdem sie als „lebensunwert” eingestuft wurden.

Damit solche grausame Experimente und Morde nie mehr „im Namen der Wissenschaft” gerechtfertigt werden können, wurde der medizinethische Nürnberger Kodex erarbeitet: „Der Nürnberger Kodex besagt, dass es freiwilliger und aufgeklärter Zustimmung bei klinischen Studien bedarf. Menschen dürfen nicht mit Gewalt und in rechtsfreien Räumen gezwungen werden, an Studien und Experimenten teilzunehmen. Es wurden verbindliche Normen vereinbart, die auch bei den heutigen Studien noch eingehalten werden müssen”, erklärt Imanuel Baumann. Insgesamt zehn Leitsätze sollen Experimente am Menschen regeln und geben einen ethischen Rahmen unter anderem für Gentechnik, Transplantationen und Sterbebegleitung.

Diese Leitlinien sehen die Impf- und Maßnahmen-Gegner:innen verletzt. Sie werfen den Verantwortlichen vor, durch 2G. oder 3G-Regelungen Druck auszuüben und zu diskriminieren, Impfungen seie menschenunwürdige Experimenten. Geimpfte seien menschliche Versuchskaninchen. In den Impfungen vermutet die Szene Gift, mit dem Ziel des Genozids.

Der Leiter des Nürnberger Memoriums Baumann betont: „Menschen haben sich freiwillig dazu entschieden, an Studien teilzunehmen und sich die Impfstoffe während Testphasen verabreichen zu lassen. Impfstoffe wurden unter Einhaltung des Nürnberger Kodex klinisch geprüft, deswegen sind die Vorwürfe nach einer Verletzung eben nicht richtig.”

„Tribunal”-Forderungen schon vor der Pandemie

Dieses Narrativ ist nicht erst mit der Pandemie aufgekommen: Schon seit Jahren fordern Rechtsextreme und muslimfeindliche Aktivist:innen „Nürnberg 2.0”. Damals warfen sie den Politiker:innen vor, die „Islamisierung Deutschlands” zu verharmlosen und untätig zuzusehen, während eine „Umvolkung” stattfinde. Seit mindestens 2011 existiert eine Webseite mit dem Namen „Nürnberg 2.0”, 2020 wurde sie jedoch von der Bundesprüfstelle für jugendgefährende Medien indiziert.

Doch jetzt erlebt die Forderung ein Revival. Zum Beispiel auf Aufklebern, Posts auf Telegram oder juristischem Vorgehen, wie etwa durch Reiner Fuellmich. Fuellmich war Kanzlerkandidat der Querdenken”-Partei Die Basis” und ist als Anwalt in Deutschland und Kalifornien tätig. Seit Beginn der Pandemie will er ein „internationales Corona-Tribunal” für Verantwortliche der Maßnahmen und Hersteller:innen von PCR-Tests einberufen, einen neuen „Nürnberger Prozess”. Sein Ziel sind der Virologe Christian Drosten, Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler und Politiker:innen, die Ratschläge der Wissenschaft befolgten.

Fuellmich bewegt sich in einer verschwörungsideologischen Blase, spricht vom „Great Reset” und davon, dass Medien und Staatspropaganda lügen würden. Gemeinsam mit Anwältin Viviane Fischer hat er den „Corona-Ausschuss” gegründet will Verantwortliche für Pandemie-Maßnahmen verklagen. Laut den Recherchen von volksverpetzer hat Füllmich bereits mehrere Klagen in Kanada und den USA eingereicht, die sich mit der Zuverlässigkeit von PCR-Tests befassten. Alle blieben bisher erfolglos. Die nächste große Sammelklage vom „Corona Ausschuss” wird noch vorbereitet.

In diversen Telegram-Gruppen jubeln die Anhänger:innen jetzt schon und sind der Meinung, die nächste Klage sei „noch kein Nürnberg 2.0, aber es ist die Beweisaufnahme für ein mögliches Tribunal, das sehr viel größer werden könnte und hoffentlich wird, als die Nürnberger Prozesse von 1945.” So heißt es etwa in einem Kanal der Szene mit mehr als 25.000 Abonennt:innen.

Die Proteste gegen die Maßnahmen und Impfungen haben Verharmlosungen von NS-Verbrechen weiter normalisiert. Imanuel Baumann warnt: „Man darf nicht nur Rechtsextreme damit meinen und ansprechen, denn ein solches Gedankengut reicht in große Teile der Gesellschaft und bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Sie sehen sich als Opfer und bagatellisieren damit die Shoah”, so Baumann.

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