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Rechtsextremismus Bilanz: Vom Osten lernen heißt Siegen lernen?

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Rechtsextremismus entschieden entgegentreten; Foto: Holger Kulick

 

Natürlich wird es in naher Zukunft keinen nationalsozialistischen Staatsstreich geben. Rechtsextreme Parteien haben mittelfristig keine Aussicht auf Mehrheiten in Landesparlamenten oder gar im Bundestag. Nach wie vor ist das Risiko, Todesopfer eines Verkehrsunfalls zu werden, erheblich größer als das, durch einen rechtsextremen Gewaltakt zu sterben. Natürlich ist das Risiko noch geringer, wenn man eben nicht schwarz, jüdisch, homosexuell, behindert, obdachlos oder womöglich alles zusammen ist. Unsere repräsentative Demokratie gilt als eine der stabilsten der Welt. Lohnt es sich noch, über jene Reste von Ewiggestrigen, Ideologen und Gewalttätern zu berichten, wie es das Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ jetzt sogar als Länderserie vorgemacht hat?

Die Antwort hängt vielleicht von unserem Demokratiebild ab. Sind unser Staat und seine Organe in ihrer realen Gestalt per se schon das Höchstmaß an Demokratie, wie wir sie leben wollen? Dann können wir sagen, es existiert keine reale Gefahr eines rechtsextremen legalen oder illegalen Staatssturzes. Wir hätten dieses Problem im Griff.

Oder bedeutet uns Demokratie doch mehr: nämlich die Erfüllung jenes normativen Versprechens der Grundrechte, dass der Mensch in seiner Würde geschützt werde und dies nicht nur vor der Willkür des Staates, sondern auch vor der Gewalt und der ideologischen Verblendung des anderen. Eine demokratische Kultur wäre dann eine gesellschaftliche Grundstimmung im Alltag der Menschen, die Minderheiten explizit schützt und Pluralismus als Bereicherung begreift. Blicken wir vor dem Hintergrund dieses Verständnisses einmal auf die Ergebnisse der Länderserie.

Der Westen lernt vom Osten

Zunächst fällt auf: Eine Insel der Seligen gibt es nicht. Rechtsextremismus gibt es in allen Bundesländern und nirgends nimmt er deutlich ab. Er ist weder ein ost- noch ein nord-, süd- oder westdeutsches Problem. Die Vereinigung kann hier als gelungen bezeichnet werden. Und er ist häufig jung und somit keine Resterscheinung des Nationalsozialismus, mehr sondern eine moderne Bewegung. Das überrascht vielleicht weniger als eine andere Beobachtung: Der westdeutsche Rechtsextremismus befindet sich in einem radikalen Wandlungsprozess. Bis weit in die 1990er Jahre hinein konzentrierte er sich auf die Bildung zumeist legalistisch orientierter Vereine oder Parteien, während der ostdeutsche Rechtsextremismus als anarchisch verschrien und dabei schon besser organisiert war, als mancher ahnte. Nur zeigte sich das ostdeutsche Modell nach einem kurzen Höhenflug bei westdeutschen Wahlen langfristig als erfolgreicher. Es basierte auf wenigen Grundkonstanten:

· Bildung von Zellenstrukturen (Kameradschaften) und Netzwerken (z. B. als Aktionsfront, Freier Widerstand oder Bündnis) mit regionaler Verankerung
· Konzentration auf eine Strategie der kulturellen Subversion im Alltag der Menschen mit dem Ziel, den „Kampf um die Köpfe“ (NPD-Jargon) zu gewinnen
· Organisation einer eigenen rechtsextremen Erlebnis- und Kulturwelt besonders für Jugendliche
· Propagandistische Verächtlichmachung von demokratischen Strukturen

Ziel: Abschaffung der Demokratie

Bei der Herausbildung dieses Organisationsprinzips war nicht alleine die Angst vor staatlichen Verboten handlungsleitend, sondern auch ein alter Gedanke: Wenn das Staatsvolk sich in erdrückender Mehrheit von den staatlichen Ideen und Organisationen abwendet, haben nur Diktaturen Chancen auf Fortbestand. Das Ziel der rechtsextremen Seite war es deshalb, eine solche kritische Masse für ihr Ziel zu erreichen, die Überwindung des demokratischen Systems zugunsten eines völkisch definierten, autoritären Staats. Dieses schien ihr nur möglich, indem sie dort ansetzte, wo Teile dieser Masse erreichbar waren: im Alltag der Menschen und in der Jugend der Gesellschaft.

Mittel: Die Biedermänner

Seitdem greift auch die alte Biedermannidee des lieben, engagierten Nazis von nebenan wieder um sich, der noch jede Oma sicher über die Straße gebracht und – zumindest gedanklich – jeden Ausländer an die Wand gestellt hat, der Kinderfeste organisiert, im Elternrat mitredet und sich dort im Gemeinwesen engagiert, wo es anderen zu anstrengend oder unbequem geworden ist. Er wird noch gestört durch jene Horden von frei schaffenden Rechtsextremisten, deren politischer Ausdruck lediglich Gewalt ist und deren soziale Phantasie sich im Wort Auschwitz trefflich zusammenfassen lässt. Beide Gruppen stimmen in grundlegenden ideologischen Mustern und Feindbildbestimmungen überein, vertragen sich temporär und stören sich doch langfristig. Aussteiger berichteten immer wieder, dass in Zukunftsfantasien organisierter Rechtsextremer die erste Opfergruppe für die neu zu bildenden Konzentrationslager diese nicht organisationswilligen Rechtsextremisten sein sollten. Sie hatten das Problem der Koexistenz erkannt und auf ihre Weise lösen wollen.

NPD und Graswurzeln

Die Ausweitung der NPD erfolgt auf der Basis der Graswurzelarbeit durch die rechtsextremen Zellen und Netzwerke. Teilweise baut sie auf ihr auf, teilweise tritt sie in temporärer Konkurrenz zu ihr (z. B. wenn es ums Geld geht) oder sie arbeitet mit ihr Hand in Hand. Die Kraft der NPD erwächst somit nicht aus sich selbst heraus, sondern sie ist sichtbares Symbol für eine gesellschaftliche Strömung, die sich neu formiert, neue – besonders jugendliche und damit zukunftsfähige – Bevölkerungsschichten erreicht und sogar wählbar wird. Zuletzt gab es eine solche Form der Neuerung des Parteiensystems „von unten“ durch die Gründung der Grünen.

Ob die Rechtsextremen an Einfluss gewinnen, bestimmt nicht die Strategie
Die Länderserie zeigt eindrücklich, dass diese Strategie der Graswurzelarbeit weitgehend Standard des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus geworden ist. Der Westen hat somit vom Osten gelernt. Hat er damit aber auch Siegen gelernt? Diese Frage ist noch nicht zu beantworten, denn sie ist weniger von der Qualität des Rechtsextremismus abhängig, sondern von den Einstellungen und der Qualität des demokratischen Bewusstseins in der Bevölkerung. Auch ein „gutes“ Angebot wird sich schließlich nicht durchsetzen, wenn es keine Nachfrage gibt. Hier wird von entscheidender Bedeutung sein, in welcher Form Einstellungen wie die vom Forscherteam Heitmeyer gemessene „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ oder das von Bernd Wagner formulierte „völkische Syndrom“ in Teilen der Gesellschaft politikfähig werden. Anders ausgedrückt: Gelingt es den Graswurzelaktivisten der rechtsextremen Seite, politisch brach liegende Ressentiments in Teilen der Gesellschaft politisch zu motivieren und zu organisieren oder nicht?

Wir wissen noch nicht, wann die Rassisten unter uns ihrer Gesinnung gemäß wählen. Sollte dieses mittelfristig passieren, würde sich ruckartig die politische Großwetterlage verändern und auch die Frage der Demokratie neu gestellt. Derzeitig gefährdet der Rechtsextremismus die demokratische Kultur, indem er seine Ideologie der Ungleichwertigkeit der Menschen dem Prinzip der Würde aller Menschen entgegenstellt. Die Opfer sind zumeist Minderheiten und Schwache der Gesellschaft. Die politische Kultur soll jetzt der Hebel der Rechtsextremisten sein, um auch politisch mächtig zu werden. Ob dieses gelingt, hängt damit auch entschieden vom Verhalten der Demokraten in der Sphäre der Zivilgesellschaft ab. Gelingt Ihnen der lebendige Entwurf einer demokratischen Zivilgesellschaft mit Sympathie für den Anderen und Herz für den Schwachen? Dies dürfte für die dauerhafte Sicherung der Demokratie von eminenter Bedeutung sein.

Der Rechtsextremismus-Experte und Demokratieforscher Dr. Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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