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[tacheles] Struktureller Antisemitismus als personalisierende Ökonomie- und Gesellschaftskritik

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Leser*innen spinnen den Scherz weiter und fragen, ob das am Ende dieselbe Person sei, die beispielsweise „heimlich in der Jackentasche die Kopfhörer verknotet“. Gar nicht scherzhaft werden bekanntermaßen Kondensstreifen von Flugzeugen zu „Chemtrails“ umgedeutet, eine aufwändigere Form der Personalisierung natürlicher Erscheinungen, die in verschiedene Verschwörungserzählungen eingebettet ist. Der sogenannte strukturelle Antisemitismus ist eine umfassende Personalisierung negativ bewerteter gesellschaftlicher Verhältnisse und Vorgänge vor allem in Wirtschaft und Politik als beabsichtigtes Ziel böswilligen menschlichen Handelns.

Personalisierung

Personalisierungen bestimmen nicht nur die Alltagskommunikation, sondern auch das gesellschaftspolitische Gespräch. Beispielsweise wird hohe Arbeitslosigkeit im populistischen Diskurs nicht als ein Effekt vieler Faktoren, die wiederum vielschichtig miteinander verknüpft sind, erklärt, sondern oft allein mit der schlechten Politik der jeweils regierenden Partei oder einer Elite dahinter: Diese wolle sich ohnehin nur selbst bereichern, und anstatt mit ihrem vielen Geld Arbeitsplätze zu schaffen, investiere sie nur in Aktien, Immobilien oder undurchschaubare Finanzprodukte, die schnelle Gewinne bringen sollen. Komplexe Sachverhalte werden durch Personalisierung extrem vereinfacht und auf die Ebene einer Bilderbucherzählung gebracht, in der Personen, Einzelne oder Gruppen, nicht nur verantwortlich, sondern meist im moralischen Sinne schuldig sind. Es gibt aber auch positive Personalisierungen, etwa die Erzählung, das „Wirtschaftswunder“ in der westdeutschen Nachkriegszeit gehe auf die fleißige Arbeit deutscher Männer und Frauen zurück, ohne die Kredite der Westmächte, die Zurückstellung von Reparationen, die grundlegende Modernisierung der Wirtschaft im Nationalsozialismus, die Gewinne aus Zwangsarbeit und Vieles mehr zu erwähnen. Abstrakte Zusammenhänge, zu deren Verständnis Wissen, Kompetenzen und intellektuelle Anstrengung erforderlich sind, werden auf einfache Handlungen von Personen mit ganz direkten Wirkungen heruntergebrochen.

„Geld regiert die Welt“, so eine verbreitete kritische Parole, aber das Geld lässt sich nicht zur Verantwortung ziehen. Zunehmend wird wieder öffentlich formuliert, dass es „die Juden“ seien, die wiederum das Geld regierten. So sagte etwa die Mutter des Attentäters von Halle, eine Lehrerin, in einem Interview über ihren Sohn: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ Wenn die Schuldigen entmachtet oder gleich ganz beseitigt werden, so die Logik der personalisierenden Gesellschaftskritik und des Attentäters, verschwinden auch die Probleme.

Der Übergang von der Personalisierung zum Antisemitismus

„Die Reichen sollen für die Krise zahlen“ ist ein häufiges Graffiti nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Hier und da ist „Reiche“ durchgestrichen und durch „Juden“ ersetzt. So einfach kann der Übergang zum Antisemitismus sein. Es ist, dies zeigt das Beispiel aber auch, eine Handlung dafür notwendig, aus den „Reichen“ die „Juden“ zu machen, ein Willensakt und ein bestimmtes Verständnis. Dies wird auch im folgenden Beispiel deutlich, zwei fast identische Karikaturen, die den Übertritt gut illustrieren. Der Hintergrund der Karikaturen lässt sich beispielsweise bei erinnern.at nachlesen, hier geht es nur um die Bilder und die in ihnen transportierten Vorstellungen.

Zu sehen sind beide Bilder, um die es geht hier. 

Die erste Zeichnung zeigt drei Personen an einem Tisch, die auf Englisch als „Bevölkerung“, „Regierung“ und „Banken“ bezeichnet sind. Der dürre Mann aus dem einfachen Volk in ärmlicher, geflickter Kleidung hat einen kleinen Teller vor sich, darauf einen Knochen ohne eine einzige essbare Faser, Besteck gibt es nicht. Der Regierungsvertreter steht wie ein Butler in unterwürfiger Haltung beim Bankenvertreter und schenkt ihm aus gekühlter Flasche Champagner ein. Die gesamte Tischhälfte des äußerst korpulenten, gut gekleideten Bankiers ist übervoll gedeckt mit reichem, ungesundem Essen, einer vollständigen Gans und einer ganzen Torte. Er selbst ist schwitzend zur Mahlzeit vorgelehnt, die er sich mit gierigem Blick in großen Portionen mit der Gabel in den Mund schiebt. Die Karikatur aus 2012 will kritisieren, dass in der internationalen Banken- oder Finanz- oder Weltwirtschaftskrise ab 2007/08 über die Jahre und 2012 in der EU Maßnahmen ergriffen wurden, um mit riesigen Summen Banken zu stabilisieren. Würden die großen, international vielschichtig in verschiedenste Unternehmungen und Staatshaushalte involvierte Banken zusammenbrechen, so die Einschätzung der Regierungen, würde dies zum Kollaps der gesamten Weltwirtschaft führen. Es ging nicht darum, unersättlichen Bankiers eine neue Yachten- oder Privatjetflotte zu schenken.

In der zweiten Karikatur ist die Nase des Bankenvertreters zu einer dem antisemitischen Bildervorrat entnommenen Hakennase umgewandelt, seine Manschettenknöpfe sind mit sechseckigen Sternen versehen, im Kontext nicht anders denn als Verweis auf das Judentum zu lesen, und sein Blick ist stier auf das Volk gerichtet. Ist ein Bankier vielleicht einfach ein maßloser Egoist, soll man einen jüdischen Bankier als Person verstehen, die das Volk mit Absicht ins Visier nimmt.

Es sind kleinste zeichnerische Änderungen, die mit traditionellen Markierungen „Juden“ als diejenigen Funktionsträger in der Finanzsphäre identifizieren, die böse sind. Dies funktioniert so einfach, weil schon der ersten Karikatur gewissermaßen eine (Denk-)Schablone zugrunde liegt. Zwar bezieht sich die Ausgangszeichnung auf die konkreten Maßnahmen von 2012, findet ihren Resonanzboden aber in verbreiteten diffusen Vorstellungen. Nimmt man die Jahreszahl und auch die Bezeichnungen der Personen heraus und lässt das Bild interpretieren, einigen sich die Beteiligten meist schnell darauf, dass die Karikatur die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kritisieren soll: Die einfache Bevölkerung erarbeitet zwar den Reichtum, die Unternehmer, Bonzen, Kapitalisten, Finanzhaie, Spekulanten eignen ihn sich aber zur persönlichen Bereicherung an, und dafür sorgen die Politiker, die zwar das Volk vertreten sollen, in Wahrheit aber Handlanger „der Reichen“ sind. Komplexe gesellschaftliche Verhältnisse werden auf einfachste Beziehungen zwischen Personengruppen reduziert.

Personalisierung als Gesellschaftskritik und Missverständnis des Kapitalismus als reines Geldsystem

Schuld an den schlechten Verhältnissen, in denen große Bevölkerungsteile leben, sind im Alltagsbewusstsein meist „die Reichen“, „die da oben“, „die 1 Prozent“, verschiedene „Eliten“ und andere kleine Gruppen, die deutlich von einem guten und benachteiligten, ausgebeuteten, entrechteten Mehrheits-Wir abgegrenzt werden. Besondere Feindbilder sind „Finanzkapitalisten“, „Spekulanten“, „Börsianer“, „Banker“ und Vergleichbare. Das heißt, es geht in dieser Form von Kritik nicht um Unternehmer, die ihr Geld in eine Fabrik oder andere Betriebe investieren würden, um Arbeitsplätze, Produkte und Werte für die Allgemeinheit zu schaffen, sondern in den Blick geraten allein die Finanzen. Das Geld oder Kapital wird so gedanklich und in vielen Theorien seit Beginn der Kritik von Kapitalismus oder „reiner Marktwirtschaft“ explizit von der materiellen Produktion abgetrennt, und Geldgeschäfte erscheinen verwerflich: Die Zinsen für einen Kredit, die Preise im Handel und die Courtage für eine*n Makler*in werden als Ausbeutung empfunden. Klein- und Großhändler, Banker und Makler, quasi immer männlich gedacht und bebildert, scheinen ohne eigener Hände Arbeit unverhältnismäßig viel Geld aus den Nöten und Grundbedürfnissen der Menschen zu ziehen. Durch das Geld haben Banken, Börsen und Investoren auch die Arbeitgeber in der Hand und erscheinen als eigentliche Lenker. Forderungen wie „gerechter Lohn für gute Arbeit“ bestärken demgegenüber die Vorstellung, es gebe einen gerechten Tausch im Bereich der Produktion, der Dienstleistungen und anderer Arbeitsverhältnisse, aber dann nehmen Verkäufer, Vermieter und Konsorten einem alles weg – und die Regierung hilft ihnen dabei, statt im Interesse des „kleinen Mannes“ Grenzen zu setzen. Die Absprachen dazu sollen hinter der demokratischen Fassade im Geheimen und als Verschwörung stattfinden.

Identifikation von Juden und Geld

Diese Form einer gefühlten Gesellschaftskritik wird oft als „verkürzte“, auch „regressive“ oder „personalisierende Kapitalismuskritik“ bezeichnet oder, zurück zum Anfang, als „struktureller Antisemitismus“, weil sie, wie die Beispiele zeigen, fast nahtlos in direkte Judenfeindschaft übergehen kann. Traditionell sind es männliche (aber wenig maskulin dargestellte) Juden, mit denen Banker, Börsenmakler, Spekulanten und andere „Geldmenschen“ in eins gesetzt werden, basierend auf dem christlichen Feindbild des „jüdischen Wucherers“. Zinsgeschäfte sind eigentlich in allen drei abrahamitischen Religionen verboten, bzw. nur unter bestimmten Bedingungen oder in indirekten Formen erlaubt. Als Wucher, zunächst der Zins selbst, galt zunehmend ein als zu hoch empfundener Zins, und das Wuchern wurde zur jüdischen Eigenart erklärt, auch weil jüdische Geldleiher*innen teilweise höhere Zinsen nahmen als christliche. Die Entwicklung des Geldverleihs zum modernen Bankenwesen erfolgte zwar im 14. Jahrhundert in den christlichen Stadtstaaten des heutigen Norditaliens nahe Papst und Kirchenstaat, die „Sünde“ des Zinsnehmens wurde in der eigenen Gemeinschaft aber negiert und auf das Judentum projiziert. Als „Christusmörder“ und Personifikation des Bösen waren „die Juden“ ohnehin schon ein Feindbild und blieben bis heute mit Handel, (unlauteren) Geldgeschäften, Banken und einem sich immer weiter ausdifferenzierendem Finanzwesen identifiziert.

Mit wenigen Stiftstrichen lässt sich im Beispiel eine eindeutige antisemitische Aufladung der Ausgangskarikatur erzeugen, weil die personalisierende Kapitalismuskritik historisch bedingt zur Identifikation der Finanzakteure als „Juden“ quasi schon hinführt. Der Weg muss aber gegangen werden, und nicht zufällig wurde die antisemitische Karikatur u.a. von einem rechtsextremen Politiker verbreitet. Der ursprünglichen Karikatur hingegen fehlen einige Bildelemente, die für einen eindeutig antisemitischen Hintergrund typisch sind: Politiker*innen und Regierungen werden oft als Marionetten oder Aufziehpuppen gezeichnet oder selbst als jüdisch, das Volk wird meist als zwar ärmlich, aber als kräftiger Arbeiter oder auch Bauer dem körperlich entstellten Juden entgegengesetzt. In dieser Karikatur ist nicht bebildert, dass der Reichtum aus der Arbeit des Volkes stammt, während antisemitische Bilder den „Finanzkapitalisten“ oft als parasitären „Blutsauger“ zeichnen und so die Ausbeutung visualisieren. Eine einfache Gleichsetzung zwischen personalisierender Gesellschaftskritik und Antisemitismus gibt es wiederum nicht.

„… wer hat das nicht?“

Wie sich in Workshops zeigt, lässt sich in der Erwachsenenbildung einerseits sehr gut mit den Karikaturen arbeiten, weil sich schnell und augenfällig der leichte Übergang zu antisemitischen Vorstellungen im Kontext von Ökonomie- und Gesellschaftskritik zeigen lässt. Mehr oder weniger Vorwissen über die stereotype Identifikation von „Juden“ mit Geld und entsprechenden Berufen bringen die meisten Zielgruppen mit. Auf Ebene dieser Zu-Schreibung, die in den Bildern durch das Hinzu-Fügen bestimmter Zeichen quasi buchstäblich vorgeführt wird, lässt sich leicht die Herstellung eines Feind-Bildes erkennen.

Interessanterweise bleiben fast alle Skandalisierungen der antisemitischen Karikatur auf Ebene der antisemitischen Markierungen des Bankiers stehen, und nur selten wird die erste Karikatur bereits als problematisch beschrieben. Die Grundfehler der Personalisierung komplexer ökonomischer und politischer Zusammenhänge, der falschen Konkretisierung abstrakter Vorgänge und Effekte als absichtsvolle menschliche Handlungen und der unmöglichen Abtrennung der Finanzsphäre von der oft so genannten Realökonomie werden kaum je zum Thema. Sie lassen sich nicht in wenigen Sätzen erklären, und auch in den üblichen Formaten von Fortbildungen ist wenig Raum. Dabei geht es nicht nur um fehlendes Vorwissen, sondern stärker scheint meist die emotionale Dimension zu sein: Viele Teilnehmer*innen fühlen sich durch den Hinweis auf die Vereinfachungen der ersten Karikatur oder auch andere Beispiele für personalisierende Ökonomiekritik stark angegriffen und sehen darin eine Legitimation bestehender Politiken und Verhältnisse. Die reale Entfremdung und Ausbeutung in der kapitalistischen Wirtschafts- und gesamten Lebensweise können viele nur als Aneignungsprozess durch „die Reichen“ oder die Steuern auf den hart erarbeiteten Lohn verstehen. Der Einsatz der Karikaturen kann daher andererseits dazu führen, dass viele Teilnehmer*innen sich in ihren vereinfachenden Vorstellungen über die Funktionsweise des Kapitalismus 2012, heute und generell bestätigt fühlen und lediglich mitnehmen, dass es vollkommen egal ist, ob „die Reichen“ zufällig auch mal Juden sind oder nicht. Die Ungeheuerlichkeit der Aussage der Mutter des Attentäters „Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen“, liegt nicht nur in ihrer Rechtfertigung des geplanten Massakers, sondern sozialpsychologisch tiefergehend im Zusatz „wer hat das nicht“. Diese Worte beschreiben die Banalität des Bösen, über die nicht zufällig so wenig gesprochen wird. Der Attentäter stürmte dann eine Synagoge, nicht die Europäische Zentralbank.

Literatur und Methoden zur Auseinandersetzung mit der Identifikation von Juden mit Geld sowie mit Grundlagen des Wirtschaftskreislaufes finden sich in:

Widerspruchstoleranz 3. Ein Methodenhandbuch zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. (PDF) Hrsg. v. d. Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus e.V. Berlin 2019. 

Auf www.anders-denken.info finden sich unter dem Schlagwort „Ökonomie“ einige Texte und Methoden zur personalisierenden Kapitalismuskritik.

Vertiefend zur antisemitischen Verknüpfung „Jude/Zins“ auch in antisemitismuskritischer Literatur: Wolfgang Geiger (2010): Christen, Juden und das Geld. Über die Permanenz eines Vorurteils und seine Wurzeln. In: Einsicht 04. Bulletin des Fritz Bauer Instituts. S 30-37.  (PDF)

 

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