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[tacheles_2] Rassismuskritische und antisemitismuskritische Bildungsarbeit – Die Knoten verbinden?

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(Quelle: Unsplash (bearbeitet))

Dieser Text fußt auf meinen Beobachtungen als langjähriger Vermittler rassismuskritischer und antisemitismuskritischer Bildung. Immer wieder sehe ich mich mit denselben Leerstellen bei meinem Zielpublikum konfrontiert. Rassismus und Antisemitismus werden mit den Wörtern Rasse, Rassentheorie, Hitler und Goebbels assoziiert. Die Folge: Antisemitismus und Rassismus werden nur wahrgenommen und benannt, wenn sie absichtlich und offen erfolgen, durch Akteure, die sich leicht als rassistisch oder antisemitisch zu erkennen geben: Der Neonazi mit Springerstiefeln, der mir mit der Baseballkeule eins überziehen möchte. Doch die Verorten von Rassismus und Antisemitismus als ein Phänomen des politisch extrem rechten Spektrums, macht viele Formen von Rassismus und Antisemitismus unsichtbar, die im Alltag von Betroffenen eine Rolle spielen.

Ebenso erschwert dieser verkürzte Blick eine ganzheitliche Erfassung. Die Folge: Rassismus und Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft, aus der postmigrantischen Gesellschaft oder aus dem politischen linken Spektrum werden nicht benannt oder erkannt. Dabei lassen sich diese vereinfachten Darstellungen durch das Heranziehen von reproduzierenden, wie widerständigen, zeitgenössischen, und historischen Quellen gut rekonstruieren. Das E-Learning-Tool „Connecting the dots“ bietet einen medienpädagogischen und innovativen Ansatz, um sich dieser Aufgabe der politischen Bildung anzunehmen.

Fangen wir mit den Basics an!

Rassismus und Antisemitismus sind zwei unterschiedliche Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Grob lassen sich zwei Analysekategorien von Rassismus unterscheiden: biologistischer und kulturalistischer Rassismus. Beim biologistischen Rassismus werden Menschen anhand ihrer „Hautfarbe“ unterschieden, um so eine Abwertung von zum Beispiel schwarzen oder asiatisch gelesenen Menschen zu legitimieren. Beim kulturalistischen Rassismus sollen „Herkunft“ und „Sprache“ zum Beispiel slawische, jüdische oder muslimisch gelesene Menschen diskreditieren. Beim Antisemitismus sind drei Kategorien insbesondere im Blick: primärer-, sekundärer-, und israelbezogener Antisemitismus. Der pimäre Antisemitismus – auch Antijudiasmus genannt – bedient antisemitische Narrative, die meist christlich religiös untermauert sind, wie etwa die Erzählung Juden seien „Jesusmörder“. Der sekundäre Antisemitismus umfasst holocaustleugnende oder shoa-realtivierende Erzählungen. Israelbezogener Antisemitismus hingegen umfasst Erzählungen die den jüdischen Staat deligitimieren, dämonisieren oder diesen mit doppelten Standards bewerten.

Die größte Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Formen von Rassismus ist das sogenannte Othering. So werden angeblich homogene Gruppen anhand von zugeschriebenen biologistischen oder kulturellen Differenzmerkmalen konstruiert, wie etwa „die Juden“, „die Schwarzen“ oder „die Muslime“ – und zu Fremden, zu Anderen gemacht. Den Anderen werden dann vermeintlich unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben, positive wie negative. Ein drastisches Beispiel: Über Jahrhunderte wurde behauptet, dass Schwarze Menschen eine besonders hohe Resilienz gegenüber körperlichen Schmerzen haben. Dies führte zur Legitimation von Zwangsarbeit und besonders harten körperlichen Tätigkeiten für Schwarze Menschen, angeordnet von europäischen Kolonialherren.

Durch die Konstruktion von Gruppen und die Verknüpfung mit vermeintlich „unveränderlichen Eigenschaften“ entsteht eine Hierarchisierung, die im schlimmsten Fall in Gewalt mündet. Millionen Menschen afrikanischer Herkunft wurden während der Kolonialzeit als Sklaven nach Nord- und Südamerika verschleppt. Auf der Berliner Konferenz 1884-1885 teilten sich europäische Mächte und das osmanische Reich den afrikanischen Kontinent auf, um diese Aneignung zu forcieren. Die damals willkürlich gezogenen „Landesgrenzen“ prägen noch heute den afrikanischen Kontinent. Die deutsche Kolonialmacht errichtete erste Konzentrationslager in Swakopmund und Windhoek (heutiges Namibia), in denen Schwarze Menschen Zwangsarbeit verrichten mussten. Im kontinentalen Europa fanden sogenannte „Völkerschauen“ statt, in denen Menschen aus den Kolonialgebieten wie Tiere ausgestellt wurden.

Antisemit:innen hingegen geht es um die systematische Auslöschung jüdischer Existenz auf Erden. Der Nationaslozialismus industrialisierte die Völkermordfantasien. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden so systematisch verfolgt und ermordet. Mit dem Ende des NS-Regimes verschwand der Antisemitismus nicht. Auch heute noch haben Auslöschungsnarrative auf deutschen Straßen ihren Platz, etwa durch Slogans wie „From the river to the sea, Palestine will be free“. Antisemitismus und Rassismus sind also an zentralen Punkten unterschiedlich und damit einzelne Kategorie der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeiten.

Dennoch werden Jüdinnen und Juden in der Politikwissenschaft auch als eine Betroffenengruppe von Rassismus beschrieben. 1492 fielen die spanischen Juden der Reconquista zum Opfer und wurden in Gänze aus Spanien vertrieben. Dabei spielte es für die Inquisition keine Rolle ob Jüdinnen und Juden als assimiliert schienen oder „biologisch“ als Spanier gelesen wurden, ja selbst eine Konversion zum Christentum schuf keine Abhilfe. Jüdinnen und Juden wurden hier kollektiv rassifiziert und vertrieben. Eine frühe Form des Rasse-Antisemitismus. Jüdinnen und Juden können also Opfer von rassistischer und antisemitischer Gewalt werden.

Doppelte Standards überall?

Wenn ich in meinen Workshops mit stigmatisierenden Halbsätzen arbeite wie „Menschen aus Südamerika können besonders gut…“, „Juden haben besonders viel…“, so beenden die meisten Teilnehmenden meiner Seminare diese Halbsätze sehr ähnlich. Woher kommt dieses vermeintliche Wissen über Menschen aus Südamerika oder über Jüdinnen und Juden? Der persönliche Bezug oder Kontakt zu Menschen mit jüdischen oder südamerikanischen Wurzeln ist es jedenfalls nicht. Es handelt sich vielmehr um erlernte Biases – Vorsteinstellungen über einzelne soziale Gruppen.  Diese Voreinstellungen tragen alle Menschen mit sich, ein Leben lang. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Personen selbst Teil von Betroffenengruppen sind.

Das Frau*-Sein etwa, schützt nicht davor, selbst antifeministische Positionen zu beziehen —das Muslim*-Sein nicht davor, selbst unterschiedliche Arten von Rassismus zu reproduzieren. Beispielsweise haben es Schwarze Muslim:innen auf dem Heiratsmarkt innerhalb der muslimischen Community in Deutschland oft schwerer, als Muslim:innen, die nicht von Antischwarzem Rassismus betroffen sind. Muslimisch gelesene Akteur*innen können selbst antimuslimischen Rassismus reproduzieren, wie beispielsweise Leyla Bilge von der AFD. Auch Jüdinnen und Juden können antisemitisch handeln. Zum Beispiel die ultraorthodoxe Neturei Karta Sekte. Ihre Mitglieder lehnen den Staat Israel ab und beteiligen sich etwa an Al-Quds-Demonstrationen, auf denen die Auslöschung des jüdischen Staates gefordert wird. Der jüdische Autor Norman Finkelstein relativiert immer wieder den Holocaust und ist mit seiner These von der „Holocaust-Industrie“ zum Stichwortgeber der extremen Rechten geworden.

Genau jene Akteur:innen, welche die eigenen Unterdrückungsformen internalisieren und reproduzieren, werden zu „Verbündeten“ von Antisemiten. Neturei-Karta-Anhänger auf antiisraelischen Kundgebungen sollen beweisen, dass es sich beim Ruf nach der Auslöschung Israels nicht um Antisemitismus handelt. Gleichsam werden von denselben Akteur:innen arabische Stimmen aus Israel, wie die der Koalitionspartei „Ra´am“ kategorisch abgelehnt. Eine solche „Reinwaschung“ von Antisemitismus wird zu recht kritisch rezipiert und von Betroffenen als „tokenisierend“ wahrgenommen.

Antirassismus für alle?

Es gibt unterschiedliche Formen von Rassismus: Antimuslimischer Rassismus, Antischwarzer Rassismus, Antiasiatischer Rassismus, Antislawischer Rassismus, Antiziganismus. Und auch Jüdinnen und Juden können „rassifiziert“ werden. Diese Auflistung zeigt auch: Bestimmte Gruppen von Menschen können Rassismus erleben, obwohl sie weiß gelesen werden. Also etwa Menschen denen eine Zugehörigkeit zur slawischen oder eben aschkenasisch-jüdischen Kultur zugeschrieben wird. Rassismus gegen biologisch weiß wahrgenommene Jüdinnen und Juden, Slaw:innen, Roma und Sinti oder Asiat:innen gibt es sehr wohl. Rassismus gegen weiße Deutsche hingegen gibt es nicht. Die Begriffe „Schwarz“ und „weiß“ dienen in der Politikwissenschaft der Verortung von Identitäten im gesellschaftlichen Machtgefüge und verstehen sich explizit nicht als biologische Beschreibungen.

Immer wieder erklären Juden:Jüdinnen, dass sie sich seitens antirassistischer Aktivist:innen oft nicht mitgedacht fühlen. Um sich diesem Auseinanderdividieren entgegen zu stellen, haben über 20 Organisationen und Einzelpersonen im Mai 2021 einen Offenen Brief unter dem Motto „Wir lassen uns nicht trennen“ veröffentlicht. Der Brief ruft zu einer nüchternen Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt auf, ohne Antimuslimischem Rassismus und ohne Antisemitismus.

Antirassistische Bewegungen in Deutschland orientieren sich oft am US-Amerikanischen Diskurs. Das heißt Begriffe wie zum Beispiel „BIPOC“, die in einem US-Kontext sehr sinnvoll sein können, werden ohne kritische Reflexion, auf einen deutschen oder europäischen Kontext übertragen. BIPOC steht für Black, Indigenous and People of Color. Diese Abkürzung birgt die Gefahr, dass Rechtspopulist:innen oder Rechtsextreme sich als „indigen“ beschreiben und somit argumentativ einen Raum schaffen für das Narrativ des „Umgekehrten Rassismus“. Diesem Versuch einer Täter-Opfer Umkehr ist entschieden entgegen zu wirken. Vor diesem Hintergrund ist es eine der zukünftigen Kernaufgaben politischer Bildung, die Begriffe „Schwarz“, „weiß“ und „POC“, als rein politische Begriffe und nicht als vermeintlich biologische Zuschreibungen zu verstehen und zu lehren. Die kognitive Assoziation, Rassismus hätte ausschließlich und zwingend etwas mit der Hautfarbe, zu tun, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

In meiner Arbeit als politischer Bildner mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Betroffene wie Nichtbetroffene von Rassismus den Begriff POC mit biologistischen Beschreibungen vorstellen und mit Hautfarben assoziieren. Bezeichnen sich dann Menschen, denen eine Zugehörigkeit zur aschkenasisch-jüdischen Kultur zugeschrieben wird – und die weiß gelesen werden –, als POC, löst dies seitens vieler selbsternannter Antirassist*innen Unbehagen aus. Dabei sind alle Betroffenengruppen von Rassismus und Antisemitismus im antirassistischen Kampf mitzudenken, also Romn:ja und Sinti:zze, Jüdinnen und Juden, Schwarze, asiatisch, slawisch und muslimisch gelesene Personen.

Chancen und Herausforderungen für die politische Bildung

Rassismuskritische Bildungsarbeit steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Lediglich rudimentär fand der Kolonialismus seinen Weg in den Geschichtsunterricht. Dabei beschränkt sich die Geschichtsschreibung stark auf die Kolonialverbrechen von Briten, Franzosen oder Portugiesen. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den deutschen Kolonialverbrechen findet nicht statt. In Berlin alleine gibt es bis heute rund 300 Straßen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. In den letzten Jahren gab es einige Initiativen, in der Regel von Betroffenengruppen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Straßen umzubenennen oder kritische Texte zur Einordnung ergänzt an den jeweiligen Straßen anzubringen. Auch die angeführten Beispiele deutscher Kolonialverbrechen wie die Konzentrationslager in Swakopmund und Windhuk sind breiten Teilen der Bevölkerung kein Begriff. Debatten um Themen wie „Migration“ und „Integration“ kommen zwar im Politikunterricht vor. Eine dezidierte, rassismuskritische Auseinandersetzung zu „60 Jahre Anwerbeabkommen“, „Kettenduldungen“ oder „Gastarbeiterschaft“ findet aber nicht statt.

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit muss genauso neugedacht werden. Jüdinnen und Juden finden im Geschichtsunterricht nur als Opfer der Shoa ihren Platz. Widerständige jüdische Stimmen vor, während oder nach der NS-Zeit spielen im kollektiven Gedächtnistheater der deutschen Erinnerungskultur und in den Lehrplänen der Bundesländer so gut wie keine Rolle. Antisemitismus wird so mitunter zu einem Phänomen vergangener Zeit erklärt. Jüdische Menschen in Deutschland werden in diese Geschichtserzählung inkludiert. Dabei wird oft gar nicht beachtet, dass über 90 Prozent der Jüdinnen und Juden in Deutschland aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion als sogenannte Kontingentflüchtlinge eingewandert sind. Natürlich spielt die Shoa in diesen Familien auch eine Rolle. Für viele gilt aber auch: Sie wurden nicht befreit, sie haben befreit, da Angehörige mitunter für die Rote Armee gekämpft haben. Jene widerständige Perspektiven fehlen in der deutschen Erinnerungskultur.

Nichtbetroffene haben oft ein verkürztes Verständnis von Antisemitismus. Jüdinnen und Juden werden noch immer als „religiöse Gruppe“ und nicht als Ethnie verstanden. Somit wird lediglich der primäre Antisemitismus (auch Antijudaismus genannt), sowie der Antisemitismus des Nationalsozialismus mitgedacht. Eine Auseinandersetzung mit dem sekundären- und israelbezogenen Antisemitismus findet seltener statt.

Und auch eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit aktivem jüdischen Leben in Deutschland blieb 2021 im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ aus. Dabei sind zeitgenössische jüdische Stimmen in ihrer Vielfalt erfahrbar. Das MuJew Festivals 2021 in Berlin hat das mit über 50 Beiträgen zum Beispiel aus Musik, Tanz, Theater, Comedy oder Poetry bewiesen. Das Festival bot einen Einblick in das zeitgenössische Schaffen von jüdischen und muslimischen Kunstschaffenden. Ich habe das Festival gemeinsam mit einem paritätisch besetzten Team aus jüdischen und muslimischen Expert:innen initiiert. Alle Beiträge sind unter diesem Link verfügbar. Einen vertiefenden Einblick über aktives, jüdisches Leben in Deutschland bietet auch der Podcast zum Festjahr „2021 JLID“.

Die Knoten verknüpfen

Das E-Learning-Tool „Connecting the dots“, verfügbar auf Deutsch, Englisch und Arabisch, verknüpft die verschiedenen Perspektiven antirassistischer und antisemitismuskritischer Bildungsarbeit. Durch die Arbeit mit reproduzierenden, wie auch widerständigen, historischen, wie zeitgenössischen Quellen können hier erste Anreize geschaffen werden, sich dezidiert mit den Gemeinsamkeiten aber auch Unterschieden von Antisemitismus und Rassismus auseinanderzusetzen. Gleichsam bieten die Quellen einen Einblick in die oft vernachlässigten Betroffenenperspektiven, wie etwa die von Gusta Dawidsohn-Draenger. Die Quellen wurden sorgsam ausgewählt, um so primären, sekundären wie israelbezogenen Antisemitismus besprechen zu können. Das E-Learning-Tool steht zu freien Verwendung online verfügbar.

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