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Tatort Bobstadt „Reichsbürger“ wegen 14-fachem Mordversuch vor Gericht

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Tonträger und Waffen, inklusive eines Hakenkreuzbayonets, die bei einer Hausdurchsuchung sichergestellt wurden.
Mehrere Waffen und Nazi-Devotionalien wurden bei den Ermittlungen gegen Ingo K. sichergestellt. (Quelle: picture alliance/dpa | Christoph Schmidt)

Mit Handschellen wird Ingo K. – 55 Jahre, Bart, grauschwarze Haare mit Zopf, im hellgrünen Longsleeve – kurz vor 10 Uhr in den Sitzungssaal 2 des Prozessgebäudes Stammheim geführt. Er blickt ins Publikum, nickt und grinst leicht. Offenbar sitzen Angehörige im Saal. Hinter einer Glaswand darf er Platz nehmen. Die Hand- und Fußfesseln werden abgenommen. Ein Polizist beaufsichtigt den Angeklagten.

Um Punkt 10 eröffnet der Vorsitzende Richter des 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart die Verhandlung. Er prüft die Anwesenheit von Ingo K. und fragt nach Name, Geburtsdatum, Wohnort. Zuletzt wohnte er in Boxberg-Bobstadt, einem Dorf im Main-Tauber-Kreis. Der Landkreis liegt im Nordosten Baden-Württembergs. Am 20. April 2022 wurde K. vorläufig festgenommen, seit 21. April 2022 sitzt er in der JVA Stuttgart. Die Fortdauer der Untersuchungshaft wurde mit der Fluchtgefahr begründet. Zuletzt schrieb der Bundesgerichtshof: „Die ideologische Ausrichtung des Angeschuldigten und seine Kontakte in die Reichsbürgerszene machen es […] hochwahrscheinlich, dass er auf ein Netzwerk Gleichgesinnter zurückgreift und im In- oder Ausland untertaucht.“

Waffen, Waffen, Waffen

Als der Vorsitzende Richter den Angeklagten anspricht, entgegnet der: „Guten Morgen, erstmal, Herr Richter!“ Insgesamt wirkt Ingo K. recht gelassen, immer wieder blickt er selbstbewusst ins Publikum. Verteidigt wird er von Thomas Seifert und Andrea Y. Combé. Seifert, der Rechtswissenschaften in Würzburg studierte, hat eine Kanzlei in Eupen (Belgien). Die Stadt ist rund 15 Kilometer von Aachen (Nordrhein-Westfalen) entfernt. Combé studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg (Baden-Württemberg) und arbeitet in einer Heidelberger Kanzlei. Sie wurde 2010/11 bekannt, als sie den Schweizer Meteorologen Jörg Kachelmann verteidigte. Damals war Kachelmann wegen Vergewaltigung angeklagt. Am Ende wurde er freigesprochen.

Am 22. April 2022 übernahm die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Ingo K. wegen der besonderen Bedeutung des Falles. Heute, knapp ein Jahr später, verliest der Staatsanwalt die Anklageschrift. Es heißt: Ingo K. sei Teil der „Reichsbürger“-Szene. Er sei überzeugt, bis heute existiere das Deutsche Reich. Die Bundesrepublik Deutschland sei bloß eine Firma. Zwar ist, als die Rede von der „Reichsbürger“-Szene ist, ein leichtes Kopfschütteln des Angeklagten zu sehen. Jedoch wurde seine Überzeugung in zwei Schreiben, die K. im Dezember 2021 an die Bußgeldstelle Bad Mergentheim und die Staatsanwaltschaft Ellwangen gerichtet hatte, deutlich. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt: Der Mann lehnt die Bundesrepublik und ihre Organe ab – und „befürwortet den Einsatz von Gewalt, um sich gegen staatliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen“.

Im Januar 2022 zog der „Reichsbürger“ in die Erdgeschosswohnung eines „Selbstverwaltungsbauernhofs“ nach Bobstadt. Auf dem Bauernhof der Familie A. wohnte er mietfrei. Im Grundstück des Bauernhofs und in seiner Wohnung sah er ein eigenständiges Gebiet. Um das Gebiet verteidigen zu können, soll er insgesamt neun Schusswaffen gekauft haben: drei Maschinenpistolen, zwei vollautomatische Gewehre, ein Maschinengewehr, eine Selbstladepistole, eine Schrotdoppelflinte und eine Langwaffe Repetierer. Ingo K. soll die Waffen samt 5.116 Schuss Munition im – mit den Hauseigentümer*innen gemeinsam genutzten – Treppenhaus gelagert haben, „um sich im Fall staatlicher Einflussnahme mit ihnen zu verteidigen“.

Schüsse, Schüsse, Schüsse

Der „Reichsbürger“ verfügte seit Längerem über eine Handfeuerwaffe samt Munition, da er in der Vergangenheit im Bewachungsgewerbe tätig gewesen war. Er wurde mittels Schreiben vom 24. Juni 2021 in Kenntnis gesetzt, dass die Waffenbehörde den Widerruf der Waffenbesitzerlaubnis wegen „waffenrechtlicher Unzuverlässigkeit“ beabsichtige. Am 12. Juli 2021 besuchte er das Landratsamt Tauberbischofsheim, um anzukündigen, seine Waffen nicht herausgeben zu wollen. Schließlich sei die Behörde aufgrund ungültiger Gesetze nicht ermächtigt, die Waffenbesitzerlaubnis zu entziehen. Die Waffenbehörde widerrief am 26. August 2021 die Waffenbesitzerlaubnis – und Ingo K. behielt die Handfeuerwaffe.

Das Amtsgericht Mosbach ordnete ein halbes Jahr später, am 31. März 2022, wegen des Verdachts des unerlaubten Waffenbesitzes die Durchsuchung seiner Wohnung an. Die Polizei entschied aus Sicherheitsgründen, dass SEK-Beamt*innen den Durchsuchungsbeschluss vollstrecken sollten. So fuhren 14 SEK-Beamt*innen am Morgen des 20. April 2022 um ca. sechs Uhr zur Wohnung. Zunächst forderten die Beamt*innen den Mann mit Martinshorn und lauten „Polizei“-Rufen auf, das Haus zu verlassen. Später begann ein Beamter, den Rollladen der Terrassentür mithilfe eines Trennschleifers zu öffnen. Plötzlich soll der „Reichsbürger“ ein vollautomatisches Gewehr ergriffen und mindestens 21 Schüsse abgefeuert haben. Vom Wohnzimmer, durch den Rollladen, auf mehrere Beamt*innen.

Ein Beamter wurde an seinen Beinen getroffen. Er „sank unter lauten Schmerzschreien zu Boden“. Ein weiterer Beamter wurde getroffen, jedoch blieben die Projektile in der Schutzkleidung stecken. Die SEK-Beamt*innen liefen in Richtung ihres Transporters, um Schutz zu suchen. Ingo K. soll ins Schlafzimmer gegangen und neun weitere Schüsse abgefeuert haben. Dann soll er zum Wohnzimmerfenster gegangen und nochmals sechsmal geschossen haben. Mehrere Projektile trafen den Transporter. Kurze Zeit später soll er ins Schlafzimmer gegangen und zwei Dauerfeuersalven abgegeben haben. Erst zwei Stunden nach den ersten Schüssen verließ er das Wohnhaus.

Versuchter Mord und ein leichtes Kopfschütteln

Der Angeklagte ist, so lautet der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, des versuchten Mordes verdächtig. Er soll versucht haben, die 14 SEK-Beamt*innen zu erschießen. Als der Staatsanwalt das Wort „erschießen“ nutzt, runzelt der Angeklagte mit der Stirn. Ein leichtes Kopfschütteln ist zu sehen. Das Mordmerkmal sollen niedrige Beweggründe sein. Der „Reichsbürger“ soll in den Polizist*innen lediglich Repräsentant*innen der – angeblich nicht existenten – Bundesrepublik Deutschland gesehen haben. Im Falle der ersten Schüsse soll das Mordmerkmal der Heimtücke hinzukommen. Des Weiteren ist der Angeklagte des Widerstands gegen und des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie der gefährlichen Körperverletzung verdächtig. Zudem werden ihm zahlreiche Verstöße gegen das Waffenrecht (Kriegswaffenkontrollgesetz und Waffengesetz) zur Last gelegt.

Die Verlesung der Anklageschrift dauert eine gute Viertelstunde. Anschließend verliest der Vorsitzende Richter einige Bekanntgaben. Der Angeklagte hört geduldig zu. Kurz blickt er mit einem Augenzwinkern ins Publikum. In den Bekanntgaben wird deutlich: Ingo K. wird Angaben zu seiner Person machen. Eventuell wird seine Verteidigung eine Erklärung zum Waffenbesitz abgeben. Aber eine Aussage zur Abgabe der Schüsse sei, so verkündet Combé, vorerst nicht geplant. Bereits nach einer Dreiviertelstunde ist der Verhandlungstag beendet. Als dem Angeklagten die Hand- und Fußfesseln angelegt werden, schaut er ein letztes Mal ins Publikum. Er winkt, aus dem Publikum winkt eine Frau zurück. Dann wird der Angeklagte abgeführt. Bislang ist noch nicht abzusehen, wie lange der Strafprozess gegen K. dauern wird. Allerdings hat das Oberlandesgericht Stuttgart bereits zahlreiche Verhandlungstage angekündigt.

 

Bisher erschienene Prozessberichte zum Reichsbürger-Prozess zu Bobstadt:

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