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Dortmunder Neonazi-Maskottchen „SS-Siggi“ ist tot

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Das Neonazi-Maskottchen: SS-Siggi auf einer rechtsextremen Demonstration in der Dortmunder Innenstadt 2018.
Das Neonazi-Maskottchen: SS-Siggi auf einer rechtsextremen Demonstration in der Dortmunder Innenstadt 2018. (Quelle: picture alliance/dpa/Ina Fassbender)

Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt ist der bundesweit bekannte Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt mit 67 Jahren verstorben: Das teilte seine Partei „Die Rechte“ am Sonntag, den 3. Oktober 2021 auf Telegram mit. Die Nachricht sei ein Schock für die Partei: „Wir verlieren einen jahrzehntelangen Kämpfer der nationalen Bewegung, der als Kamerad und Freund geschätzt war.“ In Borchardts letzter Nachricht auf Telegram am 2. Oktober beschwerte sich der Neonazi über „tierische Schmerzen im Bein“ und vermutete eine Thrombose. An Borchardts letzter Wohnadresse im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld, dem sogenannten „Nazi-Kiez“, wurden Blumen und Kerzen gelegt.

Eigentlich wäre ihm „SA-Siggi“ lieber gewesen, seinen Spitzennamen soll Borchardt nach eigenen Angaben von einem Journalisten erhalten haben. Borchardt war einer der bekanntesten Gesichter der Neonazi-Szene: Gemeinsam mit anderen gründete er 1982 die rechtsextreme Hooligangruppe „Borussenfront“ in der mit nationalsozialistischen Symbolen geschmückten Dortmunder Kneipe „Grobschmied“. Bereits bei der Gründung nahm die Polizei 13 Mitglieder fest. Einige der Mitglieder waren ebenfalls in der NPD organisiert: So unterstützen die Borussenfans im Februar 1983 eine NPD-Wahlkundgebung auf dem Alten Markt, indem sie als Schutztruppe fungierten und beim Aufbau der Rednertribüne halfen. Die Bevölkerung wurde mit „Heil-Hitler“- und „Ausländer-raus“-Rufen bedacht.

Die Borussenfront trat vor allem als Schlägertrupp in Erscheinung. So überfiel die Gruppe am 21. August 1983 das türkisch-deutsche Kulturzentrum in Dortmund sowie einen benachbarten Imbiss. Sie stürmten die Räume, bewarfen Gäste und Wirtsleute mit Stühlen und Biergläsern und schlugen auf sie ein. Dabei schrien sie Naziparolen, zeigten den Hitlergruß und schossen mit Gaspistolen. In einem Park nebenan wurden mehrere Türken schwer misshandelt, die Wohnung einer türkischen Familie wurde zudem mit scharfer Munition beschossen. Auch Borchardt war dabei und wurde von der Polizei festgenommen.

Schon früh vernetzte sich die „Borussenfront“ mit anderen Nazigruppen. Wenig später tauchten erstmals Flugblätter und Aufkleber der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten“ (ANS/NA) und der „Aktion Ausländerrückführung“ (AAR) in einer von der „Borussenfront“ genutzten Kneipe am Borsigplatz auf. Die ANS/NA wurde von der 1991 gestorbenen Nazi-Führungsfigur Michael Kühnen gegründet, die AAR war ein ebenfalls von Kühnen für die Landtagswahl 1983 in Hessen gegründeter Ableger. Der Vorsitzende: Arndt Heinz Marx aus Hanau, ehemaliges Mitglied der rechtsterroristischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Die Kontakte zur ANS sowie auch zur „Wiking-Jugend“ liefen über Borchardt, den Kühnen bei einem internationalen Faschistentreffen im belgischen Duiksmunde persönlich traf. Nachdem die ANS/NA, die sich als Nachfolgeorganisation der NSDAP verstand, im November 1983 verboten wurde, baute Borchardt gemeinsam mit anderen ANS/NA-Aktivisten die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP) auf. Schon in den 1980ern zeigte Borchardt politische Ambitionen: Er trat etwa 1985 als Spitzenkandidat zur Landtagswahl, und 1989 als Kandidat zur Europawahl für die FAP an.

In den 1990er Jahren war die „Borussenfront“ weniger aktiv, letztendlich wurde auch die FAP im Jahr 1995 verboten. Borchardt suchte und fand Anschluss in der Kameradschaftsszene. Hierbei half, dass er den Hamburger Neonazi und Holocaustleugner Christian Worch an seiner Seite hatte. Worch gilt rückblickend als einer der Vordenker der freien Kameradschaften. Die beiden kannten sich schon von der ANS/NA, waren auch gemeinsam in der FAP aktiv. Sowohl Worch als auch Borchardt waren Mitglieder der „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.“ (HNG), deren Aufgabe es ist, inhaftierte deutsche und ausländische Neonazis zu betreuen. Damit soll sichergestellt werden, dass sich die Inhaftierten während der Haft nicht von der Neonazi-Szene lossagen. 2011 wurde die HNG verboten. Borchardts „Kameradschaft Dortmund“ gab über Jahre den Ton in der regionalen „parteifreien“ Szene an, stellte die „Schutztruppen“ für von Worch angemeldete Demonstrationen.

Nach mehreren Verurteilungen wegen schwerer Körperverletzung, schweren Landfriedensbruchs und der Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen Anfang der 2000er-Jahre, war „SS-Siggi“ nach wie vor fester Bestandteil des Kerns der Kameradschaftsszene in Nordrhein-Westfalen. Und den Aufbau der rechten Szene in Dortmund trieb Borchardt maßgeblich voran: Die „Kameradschaft Dortmund“, die Borchardt gründete, evolvierte zum „Nationalen Widerstand Dortmund“ (NWDO). Hier hatte Borchardt mit Dennis Giemsch einen fähigen Organisator zur Seite. Während zeitgleich auch die „Borussenfront“ wieder aktiver wurde, gab es über den NWDO auch neue Kontakte in die jüngere BVB-Fanszene.

Am 23. August 2012 wurde der NWDO vom nordrhein-westfälischen Innenministerium verboten – wegen teils offen nationalsozialistischem Auftreten sowie Militanz gegenüber Nazigegner:innen, Polizist:innen, Parteien und Behördenvertreter:innen. Und es war wieder Christian Worch, der den „heimatlos“ gewordenen Kameradschaftler:innen die Fortführung ihrer Aktivitäten ermöglicht: Borchardt, Giemsch und andere Kader traten der neugegründeten Worch-Partei „Die Rechte“ bei. Der Lokalverband von Dortmund galt schnell als der bundesweit aktivste und sorgte dafür, dass die Stadt ihren Ruf als rechte Szene-Hochburg bis heute behält. Deren Kreisvorsitzender: Siegfried Borchardt.

Über Jahrzehnte hinweg war Borchardt eine Schlüsselfigur der extremen Rechten in Deutschland: Zu seinem 60. Geburtstag spielte die Neonazi-Band „Lunikoff Verschwörung“ ein Konzert, 120 Neonazis kamen zur Feier. Er mischte auch bei „Hogesa“ mit, war bundesweit Gast auf Nazi-Demonstrationen, auch von der NPD. Borchardt soll womöglich auch zum rechtsterroristischen NSU-Kerntrio Kontakt gehabt haben: Er wohnte in der Straße, in der sich der Tatort des NSU-Mords am Dortmunder Kioskbetreiber Mehmet Kubaşık befindet, im Unterschlupf des untergetauchten NSU-Kerntrios fanden Ermittler:innen zudem eine Patronenpackung mit der Aufschrift „Siggi“.

Doch der Einfluss von Borchardt über NRW hinaus hielt sich dank seiner mehrfachen Inhaftierung gleichzeitig auch in Grenzen: Immer wieder musste Borchardt Haftstrafen absitzen. Zuletzt saß er 2018 für vier Monate in Haft, weil er Polizist:innen mehrfach beleidigt hatte. Es gab aber auch kleine politischen Erfolge: So konnte Borchardt 2014 für „Die Rechte“ in den Dortmunder Stadtrat einziehen. Am Wahlabend stürmten Neonazis die Wahlparty der demokratischen Parteien im Dortmunder Rathaus, gingen mit Pfefferspray und Glasflaschen auf Politiker:innen los. Zehn Menschen wurden verletzt. Anführer des gewalttätigen Mobs war Borchardt. Nach zwei Monaten musste Borchardt allerdings sein Amt wieder aufgeben, offenbar aus gesundheitlichen und zeitlichen Gründen. Sein Parteikader Dennis Giemsch rückte nach.

In Wirklichkeit diente „SS-Siggi“ in seinen späteren Jahren nur noch als Maskottchen der Bewegung: Der Altnazi mit Zwirbelbart, Sonnenbrille und inzwischen auch Krückstock war nicht mehr so einflussreich wie früher, die Unterstützung seiner Kameraden begann zu bröckeln. Nach seinem Tod sind nun aber zahlreiche Trauerpostings in den einschlägigen Social-Medie-Kanälen zu finden, unter anderen von den „Jungen Nationalisten“ (JN), Tommy Frenck und Nikolai Nerling („Der Volkslehrer“). Sebastian Schmidtke, NPD-Funktionär und Kopf der sogenannten „Autonomen Nationalisten“, widmete Borchardt das Lied „Der gute Kamerad“ von Ludwig Uhland. Doch solche Trauerbekundungen gehen teilweise unter in einer Flut an „SS-Siggi“-Memes, homosexuellen Porno-Gifs und obszönen Fotomontagen mit Borchardts Gesicht in Kommentaren, auch auf Borchardts immer noch aktivem Telegram-Kanal.

In der Zwischenzeit bittet „Die Rechte“, vorerst von Anfragen zur Beerdigung von Borchardt abzusehen. Die Partei werde zeitnah informieren. Denn: „Es sollte Pflichtsache sein, Siggi würdevoll die letzte Ehre zu erweisen.“ Davon auszugehen ist, dass Borchardts Beerdigung zum gut besuchten rechtsextremen Szene-Event wird. Borchardt ist zwar tot: Doch die nächste Generation von Neonazi-Kadern wird sich sicherlich unter den Trauernden befinden.

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