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Von NSU bis NPD-Verbot, von Dresden bis Hoyerswerda Ein Rückblick auf 2012

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Zum Jahreswechsel noch ein umfassender Rückblick auf 2012 (Quelle: netz-gegen-nazis.de)

1. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU)

Auch 2012 bestimmten die Enthüllungen um den NSU die Berichterstattung – ein Jahr nach Bekanntwerden der rassistischen Mordserie stehen dabei vor allem das Behördenversagen und Probleme der deutschen Sicherheitsarchitektur im Fokus. In den Untersuchungsausschüssen des Bundestages und mehrerer Landtage kommen immer neue unglaubliche Schlampigkeiten und Ungereimtheiten der Ermittlungsarbeit ans Tageslicht – immer wieder wird etwa von geschredderten Akten berichtet. Im Zuge der Aufarbeitung muss im Juli mit dem Verfassungsschutzpräsident Werner Fromm der erste Spitzenbeamte seinen Hut nehmen, weitere folgen. Die rechtsextreme Szene selbst lässt sich indes von der Auklärungsarbeit nicht verunsichern: Sie feiert und verherrlicht die NSU-Morde weiter.

Am 4. November demonstrieren unterdessen tausende Menschen in ganz Deutschland – Anlass: der Jahrestag des Auffliegens der NSU-Mordserie. Auf den Demos werden Behördenversagen, systematische Vertuschung, geschredderte Informationen und schleppende Aufklärung heftig kritisiert. Vier Tage später wird Anklage gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche NSU-Unterstützer erhoben. Der Prozess soll spätestens im April vor dem Oberlandesgericht München stattfinden. (Beiträge zum NSU bei netz-gegen-nazis.de)

2. Die Debatte um ein mögliches NPD-Verbotsverfahren und weitere Hiobsbotschaften für die rechtsextreme Partei

Im Zuge der NSU-Aufklärungsarbeit gewinnt auch die Debatte um ein Verbot der rechtsextremen NPD wieder an Fahrt. Nach langen Diskussionen beschließen die Ministerpräsidenten der Länder auf Empfehlung der Innenminister zum Jahresende die Einleitung eines zweiten NPD-Verbotsverfahrens. Damit ist der Gang vor das Bundesverfassungsgericht offiziell. Derweil halten sich Bundestag und Bundesregierung noch zurück, erst Anfang 2013 soll bekannt gegeben werden, ob das Verbotsverfahren unterstützt wird. Vor allem Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) äußert Bedenken. Die NPD reagiert, indem sie selbst beim Verfassungsgericht einen Antrag auf Feststellung ihrer Verfassungskonformität einreicht. Doch viele Beobachter werten den Schritt als reinen PR-Gag. (Dazu auch: „Kann und soll man die NPD verbieten? 30 Thesen zu juristischen und politischen Aspekten“ von Endstation Rechts)

Für die NPD erweist sich 2012 überhaupt als Hiobsjahr: Neben dem drohenden Verbotsverfahren hat die Partei auch noch mit einer angespannten Finanzlage zu kämpfen – eine Situation, die sich wegen eines falschen Rechenschaftsbericht noch verschärft. Wegen dieses Berichts muss die Partei eine Strafzahlung von 1,3 Millionen Euro leisten, ihr Einspruch gegen das Urteil scheitert vor dem Bundesverwaltungsbericht.

Eine weitere Schlappe muss die NPD bei ihrem jährlichen Pressefest einstecken. Dieses findet in diesem Jahr zum ersten Mal in Mecklenburg-Vorpommern statt – ein Bundesland, von dem sich die Partei ein wohlgesonnenes Umfeld erhoffte. Doch der Veranstaltung am 11. August setzt sich breiter Widerstand entgegen: Über 2.000 Menschen, mobilisiert durch das neu gegründete Aktionsbündnis „Vorpommern: Weltoffen, demokratisch, bunt“, bilden eine Menschenkette gegen die Menschenfeindlichkeit der Neonazis und feiern später ein Stadtfest mit Kultur und Botschaft.

3. Erfolgreicher Widerstand gegen Nazi-Aufmarsch in Dresden

Die Proteste gegen den traditionellen Naziaufmarsch in Dresden sind in diesem Jahr ein voller Erfolg: 5.000 Menschen sitzen, stehen und tanzen am 13. Februar 2012 friedlich auf den Straßen rund um den Nazi-Aufmarschplatz, eine eindrucksvolle Menschenkette von 13.000 Männern, Frauen und Kindern demonstriert gegen Rechtsextremismus und 1.500 frustrierte Nazis dürfen einmal um den Block laufen. (Bericht auf netz-gegen-nazis.de) Bereits im Monat davor hatte es Nazi-Aufmärsche in Dessau und Magdeburg gegeben – unter dem Protest der Zivilgesellschaft.

4. Die Affäre um Ruderin Nadja Drygalla

Während der Olympischen Sommerspiele in London macht die so genannte „Affäre Drygalla“ Schlagzeilen: Die 23-jährige Ruderin ist seit Jahren mit einem aktiven Neonazi liiert – das Bekanntwerden der Beziehung löst ein riesiges und ambivalentes Medienecho aus: Während die einen meinen, das Beziehungsleben der Olympionikin sei Privatsache, argumentieren die anderen, Drygalla habe als Repräsentantin des deutschen Sports auch eine besondere Verantwortung. Im Zuge der immer hektischeren und teilweise auch hysterischen Berichterstattung reist die Ruderin schließlich aus dem Olympischen Dorf ab. Wie sie selbst zur rechtsextremen Ideologie ihres Freundes steht, ist nicht wirklich bekannt. So schreibt netz-gegen-nazis.de: „Das einzige, was bekannt ist, sind ihre Handlungen: Wenn, was selten genug der Fall war, die Sprache auf die Gesinnung ihres Freundes kam, lief sie weg. Verabschiedete sich offenbar ohne Wimpernzucken von Polizeikarriere und Sportförderung. Oder verließ nun das Olympische Dorf, nachdem plötzlich Aufmerksamkeit auf ihr Nazi-Umfeld fiel.“

Im Herbst 2012 wird schließlich berichtet, dass Drygalla zum 1. November 2012 als Sportsoldatin bei der Bundeswehr aufgenommen wird.

5. Nicht lustig – umstrittener Humor bei Facebook

Im Herbst 2012 häufen sich im sozialen Netzwerk Facebook die so genannten „Umstrittenen Humor“-Seiten: Seiten mit purer rassistischer, antisemitischer oder behindertenfeindlicher Hetze, die mit dem Label „Humor“ gekennzeichnet sind und deswegen ohne Konsequenzen menschenfeindliche Inhalte der untersten Kategorie posten können. Für Belltower.news Grund genug zu protestieren: Ein entsprechender Aufruf löst eine gewaltige Resonanz aus, die von ermutigender Unterstützung bis zu wütenden Beschimpfungen der „Humor“-Seiten-Fans reicht. Die Folgen des Aufrufs sind gemischt. Einige der menschenverachtenden Seiten wurden mittlerweile gelöscht, doch immer neue sprießen gleichzeitig aus dem Boden.

6. Wenn Nazis offline gehen: „Altermedia“ gesperrt – und dann doch wieder da

Im Sommer 2012 geht eines der wichtigsten deutschen Nazi-Portale offline: Auf Initiative der Organisation „jugendschutz.net“ wird die Internetseite „Altermedia“ gesperrt. Es ist ein weiterer Schlag gegen die rechtsextreme Online-Welt: Schon im Juni war das Bundeskriminalamt gegen das Thiazi-net vorgegangen, im Juli stellen die Betreiber des „DeutschlandEcho“ ihre Seite nach Hacker-Angriffen ein.

Als Reaktion auf die „Altermedia“-Sperrung folgt ein indirekter Gewaltaufruf gegen einen namentlich genannten „jugendschutz.net“-Mitarbeiter. Nur einen Monat später ist „Altermedia“ wieder zurück – die rechtsextreme Szene jubelt. (Dazu ein Beitrag von Endstation Rechts) Doch „jugendschutz.net“ hat bereits angekündigt, weiter für die Sperrung des menschenfeindliche Portals kämpfen zu wollen. Ein schwieriges Unterfangen, da die Seite wie so oft im Ausland gehostet wird.

Eine ganz andere Hass-Seite wird im Dezember 2012 offline genommen: Auf „Kreuz.net“ wurde übelste Hetze gegen Homosexuelle verbreitet, aber auch gegen den Islam und das Judentum gewettert – und das unter dem Deckmantel vermeintlich katholischer Werte. Im Dezember 2012 geht die Seite offline. Experten beobachten allerdings, dass sich die anonymen Autorinnen und Autoren längst andere Portale gesucht haben.

7. Ein Klima der Angst: Nazi-Attentate in Berlin, Brandenburg und Sachsen

Im gesamten Land schaffen es Nazis an vielen Orten immer wieder, ein Klima der Angst zu erzeugen. Exemplarisch soll hier über drei Beispiele berichtet werden. So zeigt sich etwa am Beispiel von Jörg Wanke, Sprecher der Initiative „Zossen zeigt Gesicht“ in Brandenburg, dass das Engagement gegen Rechtsextremismus nicht nur mühselig, sondern auch äußerst gefährlich werden kann. Im Oktober wird ein Anschlag auf Wanke verübt: Unbekannte sprengen den Briefkasten seines Privathauses, außerdem versuchen die Täter, die Glasscheibe der Haustür einzuwerfen. (netz-gegen-nazis.de berichtete) Der Umgang der Stadt mit dem Anschlag ist kritisch: So wird zwar Beileid mit Wanke ausgedrückt, gleichzeitig wird ihm sein Engagement allerdings als Netzbeschmutzung vorgeworfen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Angriff auf Wanke in Zusammenhang mit mehreren Nazi-Schmierereien steht. Dabei hinterließen die Täter den Schriftzug „NW Berlin“ – eine Verbindung zu mehreren Anschlägen in und um Berlin, die seit dem Herbst verübt werden. So hinterlassen Unbekannte im Oktober Hakenkreuze an der Fassade eines Flüchtlingsheims in Waßmannsdorf und schleudern eine Flasche in einen der Schlafräume. Dazu wird die Jugendeinrichtung der Falken, das Anton-Schmaus-Haus in Berlin-Neukölln, mit Hakenkreuzen und dem Spruch „Ihr interessiert uns brennend“ besprüht – eine eindeutige Drohung.

Als Folge erklärt der Berliner Senat, die fehlenden Gelder für einen Sicherheitszaun um das Anton-Schmaus-Haus zu bezahlen. Während hier nun wenigstens etwas für die Sicherheit engagierter Bürgerinnen und Bürger getan wird, herrscht im sächsischen Hoyerswerda Resignation: Dort war ein junges Paar von einer Horde Neonazis bedroht worden, nachdem es rechtsextreme Aufkleber im Ort entfernt hatte. Doch anstatt das Paar zu schützen, gibt die Polizei den Rat, wegzuziehen. Es sei einfacher, zwei Personen von einem Ort zu einem anderen sicheren Ort zu verbringen, als 30 Personen zu bewachen oder permanent 5 Funkstreifen vor ein Haus zu stellen, so die hilflose oder zynische Begründung des Sprechers der zuständigen Polizeidirektion in einem Bericht.

8. Die Hilflosigkeit der Flüchtlinge – Angst in Wolgast

Im Oktober wird in Berlin das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma während der Zeit des Nationalsozialismus eingeweiht – nach jahrelangen Diskussionen. (netz.gegen-nazis.de berichtete) Gleichzeitig schürt Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Ressentiments gegenüber den Nachkommen der Verfolgten: Roma und Sinti aus Osteuropa. Er schwadroniert von einem Ansturm nach Deutschland und befeuert damit erneut eine meist unwürdige Asyldebatte. In dieser Debatte melden sich auch die Flüchtlinge selbst zu Wort: Mit einem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin und einer Dauerdemonstration am Brandenburger Tor fordern sie eine Verbesserung des Asylrechts.

Derweil versucht die NPD, die Debatte für ihre Zwecke zu nutzen. Zum einen geht sie im Oktober und November auf Brandstiftertour durch Sachsen und demonstriert dabei in mehreren Städten vor Flüchtlingsheimen, aber auch muslimischen Kultur- und Gebetshäusern. Die Tour wird von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Protesten begleitet und floppt gnadenlos. Zum anderen meldet die rechtsextreme Partei einen Fackelmarsch für den 9. November in Wolgast an, der vor das neue Asylbewerberheim führen soll. Um dieses hatte es im Vorfeld heftige Diskussionen gegeben (Mut gegen rechte Gewalt berichtete). Zahlreiche richterliche Auflagen beschneiden den geplanten Nazi-Aufmarsch: Die Fackeln werden verboten, die Route verändert und stark gekürzt. Bei der Demo selbst zeigt sich breiter Widerstand – und doch bleibt ein fahler Nachgeschmack.

9. Die „Identitären“: Ein ernstzunehmendes neues Phänomen oder nur Nebellichter?

Ende des Jahres erreicht die so genannte Identitäre Bewegung Deutschland: Vor allem im Internet sprießen zahlreiche Gruppen aus dem Boden. Die „Identitären“, wie sie sich selbst nennen, vermengen Elemente unterschiedlicher Jugend-Popkultur mit mehr oder minder subtiler Islamfeindlichkeit – alte Inhalte in neuem Gewand. Neben den Internet-Seiten gibt es auch immer wieder kleinere Aktionen wie zuletzt im Dezember: Da demonstriert eine Handvoll Identitärer vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Wie nachhaltig die selbst ernannte Bewegung wirklich wirkt, ist bislang noch nicht abzusehen.

10. Schlag gegen Kameradschaftsszene in Nordrhein-Westfalen

Zum Abschluss noch eine gute Nachricht: Ende August macht das nordrhein-westfälische Innenministerium ernst und verbietet die drei Kameradschaften „Nationaler Widerstand Dortmund“ (NWDO), „Kameradschaft Hamm“ und die „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) – die Verbote werden später gerichtlich bestätigt. Im Zuge dessen wird auch der „Antikriegstag“ in Dortmund, einer der größten rechtsextremen Aufmärsche Westdeutschlands, untersagt.

Weitere Infos gibt es in den Jahresrückblicken aus den einzelnen Bundesländern:

Baden-WürttembergBayernBerlinBrandenburgBremenHamburgHessenMecklenburg-VorpommernNiedersachsenNordrhein-WestfalenRheinland-PfalzSaarlandSachsenSachsen-AnhaltSchleswig-HolsteinThüringen

Weitere Jahresrückblicke im Netz:

Der Jahresrückblick der Amadeu Antonio Stiftung

2012 im Blick von „Mut gegen rechte Gewalt“

Der Endstation Rechts. Jahresrückblick. Teil 1

Der Endstation Rechts. Jahresrückblick. Teil 2

Der Endstation Rechts. Jahresrückblick. Teil 3

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