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Vorfall in Brjansk Warum ist der Neonazi Denis Kapustin in Russland einmarschiert?

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Kämpfer des rechtsextremen „Russischen Freiwilligenkorps“ posieren mit Flagge in Cherson
Kämpfer des rechtsextremen „Russischen Freiwilligenkorps“ posieren mit Flagge in Cherson (Quelle: russvolcorps/Telegram)

„Wir haben die Staatsgrenze Russlands überschritten“, sagt der schwer bewaffnete Mann in die Kamera. Er klopft auf ein Metallschild hinter sich als Beweis, am Eingang einer Sanitätsstation im Dorf Liubechane in der russischen Oblast Brjansk – ein Örtchen wenige Hundert Meter von der ukrainischen Grenze entfernt. Neben ihm hält ein weiterer Kämpfer eine schwarze Flagge mit weißem Schild und Schwert hoch. „Wir kämpfen nicht mit Zivilisten, töten niemanden, der waffenlos ist“, sagt er weiter im Video, das am 2. März 2023 auf dem Messengerdienst Telegram hochgeladen wurde. „Jetzt ist es Zeit für die einfachen Bürger Russlands zu begreifen, dass sie keine Sklaven sind.“

Der Mann ist ein bekanntes Gesicht in der extremen Rechten: Denis Kapustin alias Nikitin, ein russischer Neonazi, in Moskau geboren, in Köln aufgewachsen. Er kam als Kind mit seiner Familie nach Deutschland, als jüdischer Kontingentflüchtling. Durch seine Marke „White Rex“ avancierte er zu einer Führungsfigur der rechtsextremen Kampfsportszene, soll gute Kontakte zu den deutschen Neonazis Thorsten Heise und Tommy Frenck halten. Er trat als Sponsor des Fight-Events „Kampf der Nibelungen“ auf, durfte 2017 beim Rechtsrock-Festival „Rock gegen Überfremdung“ vor 6.000 Neonazis im thüringischen Themar eine Rede halten.

Den umtriebigen Kapustin wies Deutschland bereits 2019 aus, er darf für zehn Jahre auch nicht mehr in den Schengenraum einreisen. Seitdem wohnt er in der Ukraine, wo er sich wie einige russische Neonazis der rechtsextremen „Asow“-Bewegung anschloss. RadioFreeEurope beschrieb ihn als „inoffizieller Asow-Botschafter“, der die internationale Rekrutierung der Bewegung vorantrieb. Nach Russlands brutalem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 versuchte Kapustin, rechtsextreme Kämpfer aus dem Ausland zu mobilisieren: „Für alle Krieger, die gegen roten Abschaum und Neobolschewiken in der Ukraine kämpfen: Willkommen Brüder“, schreibt er etwa im März 2022 in einem Telegram-Beitrag auf Englisch samt Anweisungen für die Anreise in die Ukraine.

Im Sommer 2022 gründete Kapustin das „Russian Volunteer Corps“ (RDK), zu Deutsch: „Russische Freiwilligenkorps“, ein inoffizielles Bataillon überwiegend aus russischen Rechtsextremen, die aufseiten der Ukraine gegen Putin kämpfen. Die Größe des Bataillons ist unbekannt, Beobachter gehen allerdings von einer kleinen Gruppe aus und schätzen lediglich mehrere Dutzend Kämpfer. Manche von ihnen dienten früher im berüchtigten „Asow“-Regiment, als es um die Jahre 2014 bis 2015 noch sehr offen als Neonazi-Bataillon in Erscheinung trat. Kapustin hat auch mindestens einen deutschen Rechtsextremen mit Verbindungen zur Neonazi-Partei „Der III. Weg“ für das RDK rekrutiert, wie Belltower.News bereits berichtete. Und seit gestern steht Kapustin bewaffnet auf russischem Boden: Das eingangs erwähnte Video lud er im Telegram-Kanal des RDK hoch.

Telegramvideo von der Front: Denis Kapustin (links) in der russischen Grenzregion Brjansk (Quelle: Screenshot/Telegram)

Eine False-Flag-Attacke? Eine Fehlkalkulation Kyjiws? Oder ein Alleingang Kapustins? Die Lage im russischen Grenzgebiet Brjansk bleibt noch unübersichtlich. Die Aktion hat aber schon zu gegenseitigen Vorwürfen aus Moskau und Kyjiw geführt. Staatliche Nachrichtenagenturen aus Russland sprechen von „ukrainischen Saboteuren“, von Gefechten und Geiselnahmen. Putin selbst nennt es einen „Terrorakt“. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB berichtet von zwei getöteten Zivilist*innen und einem verwundeten Kind. Angaben, die allerdings aufgrund staatlicher Repression gegen Journalist*innen in Russland nicht unabhängig verifiziert werden können. Auf Telegram bestreitet das RDK die Vorwürfe als „Lüge der Kremlpropagandisten“.

Mychajlo Podoljak wiederum, ein hochrangiger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, bezeichnet den Vorfall auf Twitter als „klassische, bewusste Provokation“ Russlands: Der Kreml wolle damit seine eigenen Leute erschrecken, um den Angriff auf ein anderes Land und die wachsende Armut nach einem Jahr Krieg zu rechtfertigen. Andrii Cherniak, ein Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, äußerte sich ähnlich: „Das haben die Russen gemacht, die Ukraine hat nichts damit zu tun“, sagte er der Nachrichtenagentur AP. In den sozialen Medien spekulieren viele darüber, ob es um eine „False Flag“-Attacke Russlands gehe, eine strategische Aktion unter falscher Flagge.

Dafür spricht aber zurzeit wenig. „Ich bezweifle, dass das RDK diese Nummer ohne ein gewisses Maß an expliziter oder impliziter Zustimmung von jemandem in der ukrainischen Befehlskette, insbesondere dem militärischen Geheimdienst HUR, durchführen könnte“, kommentiert Michael Colborne den Vorfall gegenüber Belltower.News. Seit Jahren beobachtet er die extreme Rechte in Osteuropa, er leitet die Monitoringstelle für Rechtsextremismus bei der Investigativ-Plattform Bellingcat und hat ein Buch über die „Asow-Bewegung“ veröffentlicht.

Colborne wertet die Aktion als PR-Manöver Kapustins und eventuell auch einen Fehltritt der ukrainischen Sicherheitsbehörden. Er glaubt nicht, dass die Aktion von oben dirigiert worden sei, sondern dass die Idee eher vom RDK selbst gekommen sein dürfte: „Vielleicht war das RDK der Meinung, dass es aufgrund seiner Beziehungen zu verschiedenen Personen oder Behörden in der Ukraine einen gewissen Segen für eine solche Aktion hatte“, so Colborne.

Die Verbindungen Kapustins zu Sicherheitsbehörden auf ukrainischer und russischer Seite bleiben bis heute ungeklärt. Im Oktober 2018 soll er laut einem Bericht des Spiegel in der Ukraine festgenommen worden sein, als Teil eines Drogenrings. Das bestätigen auch Gerichtsunterlagen mit Kapustins Nachnamen, auf die sich Colborne in seinem Buch „From the Fires of War“ beruft. Fünf bis zehn Jahre Haftstrafe drohte ihm damals. Aber das Verfahren wurde aus unbekannten Gründen eingestellt. Und seitdem darf er in der Ukraine weiterhin und offenbar unbehelligt rechtsextreme Kämpfer rekrutieren, ein Freiwilligenkorps gründen und nun in Russland einmarschieren – alles unter den Augen der ukrainischen Sicherheitsbehörden. Womöglich führt die Spur aber auch nach Moskau: Eine Quelle beim Bundesnachrichtendienst sagte 2019 dem Spiegel im besagten Bericht über Kapustin, dass er staatlichen Stellen in Russland vielleicht näher stehe, als man belegen könne.

„Es würde mich nicht überraschen, wenn er in den letzten zehn Jahren an verschiedenen Stellen Verbindungen sowohl zu russischen als auch zu ukrainischen Sicherheitsdiensten gehabt hätte“, sagt Michael Colborne: „Damit wäre er nicht alleine. Offen gesagt könnte man fast allen größeren organisierten rechtsextremen Bewegungen und Einzelpersonen in Russland, Belarus und der Ukraine ein gewisses Maß an Zusammenarbeit mit den Sicherheitsdiensten vorwerfen.“ Die widersprüchliche, undurchsichtige und wahrscheinlich transaktionale Natur einiger dieser angeblichen Kollaborationen mache es aber schwer, wenn nicht gar unmöglich, genau zu bestimmen, was vor sich geht, so Colborne weiter.

Die Ideologie von Neonazis wie Kapustin ist ähnlich widersprüchlich. Für Selenskyj und die Ukraine kämpft er nicht. „Kapustin kämpft für dasselbe, wofür auch andere Rechtsextreme in Deutschland und darüber hinaus kämpfen: eine Welt, die Nazideutschland viel ähnlicher ist als jede andere Epoche“, sagt Colborne. In vergangenen Jahren war die queere Community, Rom*nja und vermeintliche „Linke“ immer wieder Zielscheibe von Kapustins Aktionen. „Mich schaudert es, wenn ich mir vorstelle, was für eine ideale Ukraine er sich wünscht“, so Colborne. Kapustin kämpfe zwar gegen Russland: „Aber trotz seiner Anti-Putin-Haltung würde Kapustins Russland eher wie ein Putin auf Steroiden aussehen als alles andere.“

Nach Kapustins Einmarsch in Russland sieht es schlecht aus für den russischen Neonazi. Russische Kräfte würden mit Unterstützung des Verteidigungsministeriums einen Einsatz zur „Vernichtung bewaffneter ukrainischer Nationalisten“ durchführen, vermeldete der FSB der russischen Nachrichtenagentur Interfax, ohne überhaupt zu erwähnen, dass Kapustin russischer Staatsbürger ist. Von dieser Gefahr weiß Kapustin offenbar auch. Auf Telegram schreibt das RDK: Als Russen könnten sie nicht auf die „Gnade der Gegner oder eine menschliche Behandlung als Kriegsgefangene setzen“: „Uns werden sie einfach töten.“ Der Ukraine hat die Aktion auch nicht geholfen, im Gegenteil: Russland sieht sich in seiner Entnazifierungspropaganda bestätigt und wird damit vermutlich versuchen, weitere Akten der Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Seit dem Telegramvideo steht das RDK nicht nur im Rampenlicht der internationalen Medien, sondern auch der globalen extremen Rechten. Innerhalb 24 Stunden hat sich die Followerzahl des Freiwilligenkorps auf Telegram verdoppelt, von rund 16.000 Abonnent*innen auf mehr als 35.000. Transnationale extrem rechte Telegramkanäle rufen nun zu Spenden für das RDK auf. „Nicht für die ukrainischen Streitkräfte, sondern für das RDK. Das sagt mir, für wen dieser Einmarsch bestimmt war“, resümiert Colborne.

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