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„Warum sollen wir dein Buch lesen?“ „Jugendarbeit kann resilient werden gegen Rechtsextremismus“

Ausschnitt aus dem Titelbild des Buches "Praxishandbuch Resilienz in der Jugendarbeit" von Judith Rahner, (Quelle: Beltz Verlag)

„Warum sollen wir dein Buch lesen?“

Diesmal mit: Judith Rahner

Das Buch: Praxishandbuch Resilienz in der Jugendarbeit. Widerstandsfähigkeit gegen Extremismus und Ideologien der Ungleichwertigkeit.

Erschienen 2020, 226 Seiten, mit ebook inside, € 19,95

In dieser Reihe stellen wir Neuerscheinungen vor, die für Fachkräfte der Offenen und anderer Jugendarbeit interessant und wichtig sind. Dabei sollen die Autor:innen die Leser:innen selbst davon überzeugen, das Buch für das Team anzuschaffen – und auch zu lesen 😉   Die Bücher sind alle natürlich auch für andere Interessierte eine bereichernde Lektüre!

Die Interviews führt das Team von der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

Judith Rahner ist seit 2018 Leiterin der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus bei der Amadeu Antonio Stiftung. Vorher hat sie die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Stiftung mit aufgebaut und viele Jahre geleitet.

Was (genau) hast du mit Offener Jugendarbeit zu tun – oder auch nicht?

Ich habe selbst fünfzehn Jahre lang in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gearbeitet. Angefangen habe ich als Tresenhonorarkraft in einem sehr kleinen Jugendclub in Berlin. Wir waren der einzige Club, der auch am Wochenende offen hatte. Wir waren immer nur zu zweit, und teilweise 50 Jugendliche in der Einrichtung. Das habe ich zehn Jahre lang gemacht. Die Zeit war sehr lehrreich, denn ich habe verstanden, unter welch prekären Bedingungen Jugendarbeit geleistet wird, wie wichtig dieser Orte aber für Jugendliche sein können und welche Strahlkraft diese für den Sozialraum haben kann. Dort habe ich begonnen, Gelder für weitere kleinere Projekte zu akquirieren. Nebenbei habe ich Mädchen*arbeit angeboten auf einem Bolzplatz. Zudem haben wir viel Gedenkarbeit gemacht, weil in der Nähe die Gedenkstätte Plötzensee liegt, in der an die Opfer des Nationalsozialismus im Strafgefängnis erinnert wird. Im Sozialraum lebten viele Kinder und Jugendliche mit diversen Marginalisierungserfahrungen. So waren immer schon die Themen Rassismus, Antisemitismus, NS-Zeit, Sexismus und Klassismus Bestandteil meiner Arbeit.

Dann habe ich in der Amadeu Antonio Stiftung angefangen, in der Praxisstelle ju:an zu antisemitismus- und rassismuskritischer Jugendarbeit, zunächst in Niedersachsen und Berlin. Da haben wir Jugendeinrichtungen längere Zeit begleitet, Projekte gemacht, Beratungen durchgeführt. Ab 2015 war ich auch bundesweit als Referentin unterwegs. Dabei ging es vor allem um Jugendliche mit Fluchterfahrungen und die Frage, wie man Willkommensstrukturen schaffen kann. Oder wie einer rassistischen, teilweise auch extrem rechten Mobilisierung in Jugendeinrichtungen oder in Kommunen begegnet werden kann.

Warum sollte man dein Buch lesen?

Das Buch ist aus der Perspektive der Praxis geschrieben – das gibt es gar nicht so oft. Ich reflektiere darin meine Erfahrungen aus den fünfzehn Jahren Offene Kinder- und Jugendarbeit und greife ganz konkrete Fälle auf, um zu analysieren, wie man auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie Polarisierungen, Hass im Netz oder dem „Rechtsruck“ reagieren kann: Wie kann man Verschwörungsideologien im Jugendclub begegnen oder antisemitischen Sprüchen am Kickertisch, rassistischen Äußerungen von Kolleg:innen oder sogar neonazistischen Agitationen im Sozialraum? Es ist eine Aufarbeitung von Fällen mit Anregungen dafür, wie man konzeptionell, als Team, als Einrichtung, als Verwaltung, als Kiez damit umgehen kann.

Was hat dich selbst motiviert, das Buch zu schreiben?

Ich wollte meine bisherige Arbeit für mich selbst aufarbeiten, eine Art Bilanz ziehen. Das wollte ich aber konzeptionell reflektiert tun, um es auch für andere fruchtbar zu machen. Dazu gehören auch die Fehler, die Dinge, die nicht funktioniert haben. Ich hatte das große Glück, in der Amadeu Antonio Stiftung ein Projekt zu machen, bei denen wir Jugendliche und Jugendclubs über mehrere Jahre begleitet haben – das ist gar nicht selbstverständlich. Es gibt viel Wissen darüber, wie in Schulen zu Rassismus oder Antisemitismus mit Schüler:innen gearbeitet werden kann. In Jugendarbeit finden in der Regel hier und da vereinzelte Workshops dazu statt. Aber über einen mehrjährigen Zeitraum zu Rassismus und Antisemitismus in einem nonformalen Bildungsbereich mit einer sehr heterogenen Zielgruppe zu arbeiten, das gab es bis dahin nicht. Meine Erfahrungen und Erkenntnisse wollte ich aufschreiben und weitergeben.

Was findet sich nur in deinem Buch und nirgendwo anders?

Die Verbindung von Praxiserfahrungen mit dem Konzept von Resilienz. Resilienz meint Widerstandskraft. Ich beschreibe damit die Fähigkeit, Krisen oder Risikofaktoren unter Rückgriff auf Ressourcen und Netzwerke zu bewältigen und als Anlass zum Lernen zu nehmen. In der Resilienzforschung sind damit vor allem persönliche Krisen gemeint, wie Scheidung, Unfall oder Tod eines Angehörigen, oder gesellschaftliche Krisen wie Finanzkrise, Flugzeugabstürze oder Firmenpleiten. In meinem Buch habe ich den gesellschaftlichen „Rechtsruck“, grassierenden Rassismus, israelbezogenen Antisemitismus oder rechte Angriffe auf Jugendfreizeiteinrichtungen als Krise oder Risikofaktoren verstanden, gegen die das Arbeitsfeld Jugendarbeit resilient werden muss. Meine Frage war: Wie kann eine emanzipatorische und an Menschenrechten orientierte Jugendarbeit auf diese Entwicklungen reagieren? Wie kann man konzeptionell darauf antworten, wie kann das ganze Team, auch die Nachbarschaft, den Ort Jugendarbeit gestalten, um wirklich für alle demokratisch gesinnten Menschen offen zu werden oder zu bleiben. Dabei habe ich verschiedene Ansätze der Resilienzforschung auf verschiedene Ebenen von Jugendarbeit übertragen. Ich diskutiere das konkret an sieben Fallbeispielen aus der Praxis aus. Am Ende jedes Kapitels gibt es eine Checkliste, was die Jugendarbeiter:innen beachten können, um sich gut aufzustellen gegen Rassismus, Sexismus und Menschenfeindlichkeit.

Warum gelingt Jugendarbeit besser oder was gelingt besser, wenn sie die Ideen aus deinem Buch verfolgt?

Wenn Jugendarbeiter:innen sich Gedanken machen, welche systemischen Lösungen es gibt, welche Antworten das System Jugendarbeit – mit allen daran Beteiligten – geben muss, gelingt einiges besser. Ich habe es so oft erlebt, auch während meiner Beratungstätigkeit, dass es die eine engagierte Person gibt, auf deren Schultern dann alles lastet und die immer alles macht. Oder die selbst von Rassismus betroffen ist und die dann immer wieder angesprochen wird, weil sie sich ja so gut auskennen würde. Ich will zeigen, dass es zur Professionalisierung von Jugendarbeit gehört, sich diesen Themen fachlich zu stellen, und dass das auch geht. Nicht als einzelne Person, die mal eine Fortbildung besucht, sondern es braucht eine Antwort aus der Institution Jugendarbeit auf aktuelle Herausforderungen. Es geht um Beispiele, die man als Anregung nehmen kann, um zu sehen, wie das auf die eigene Situation passt.

Etwas, was du noch loswerden möchtest?

Viele Jugend- bzw. Sozialarbeiter:innen haben wahnsinnig viel geleistet zum Beispiel im Sommer der Migration. Die staatlichen Einrichtungen und Leistungen kamen nicht damit hinterher, die geflüchteten Jugendlichen, vor allem die minderjährigen, zu versorgen. Da hat die Jugendarbeit sehr viel aufgefangen. Gleichzeitig beobachte ich, dass Fachkräfte sich nicht einmischen wollen und das Bild haben, Soziale Arbeit sei unpolitisch oder „neutral“ in Bezug auf Rassismus oder Rechtsextremismus. Dabei ist es klar, dass man Haltung zeigen muss. Dazu gehört auch, den ansonsten anerkannten Kollegen in die Schranken zu weisen, wenn dieser einen menschenverachtenden Witz erzählt – übrigens auch, wenn der Kollege selbst von Diskriminierung betroffen ist. Oder auch mal Jugendliche rauszuwerfen, wenn die sich in organsierten rechten Strukturen bewegen, um andere Jugendliche zu schützen. Man trägt Verantwortung und kann sich nicht wegducken und einfach behaupten, ‚wir sind unpolitisch, wir sind für alle Jugendlichen da‘. Wie offen ist man wirklich, fühlen sich tatsächlich alle Jugendlichen angesprochen, die Einrichtung zu besuchen? Was kann man dazu beitragen, wenn man rassismuskritisch, antisemitismuskritisch, sexismusfrei werden will? Wer sich die Frage ehrlich stellt, sieht, dass es viel zu tun gibt – dass es aber auch sehr gute Ansätze gibt.

Eine Nachfrage: Das Buch über Resilienz lässt sich also nutzen sowohl für die Arbeit mit Jugendlichen, die Rassismus und/oder Antisemitismus ausgesetzt sind, als auch für diejenigen, die ihn ausüben – und diejenigen, auf die beides zutrifft?

Genau. Natürlich wäre es völlig verkürzt zu denken, wir müssten nur Jugendlichen mit Rassismus- oder Sexismuserfahrungen Instrumente geben, damit sie resilient werden und das Problem sei erledigt. Gesellschaftliche Probleme dürfen nicht individualisiert werden. Auch nicht in der Jugendarbeit. Sie müssen von allen Beteiligten verantwortlich und professionell bearbeitet werden. Deshalb verweise ich im Buch auf die Rechtslage, ziehe Erklärungsansätze und Theorien aus Forschung zu Antisemitismus oder Rassismus hinzu und verweise auf zivilgesellschaftliche Organisationen und Beratungsstrukturen und zeige auf, was man machen kann, wenn einem nicht Gehör geschenkt wird in der Einrichtung, die man besuchen möchte. Resilienz sollte dabei nicht beliebig als schickes Etikett verwendet werden. Ich erweitere das Konzept auf einen menschenrechtsorientieren Resilienzbegriff und damit ist Resilienz für die Arbeit mit Jugendlichen und vor allem für diejenigen brauchbar, die Jugendarbeit gestalten. Eine resiliente Einrichtung fällt nicht vom Himmel. Sie muss erarbeitet werden.

 

In der Zeit, als Judith Rahner die ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit leitete, sind vor allem die folgenden, weiterhin aktuellen Handreichungen entstanden, die zum Teil auch noch bestellt werden können:

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