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9. November Antisemitismus der Idealist*innen

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(Quelle: Unsplash)

In den letzten Wochen häufen sich weltweit Berichte über Angriffe auf jüdische Einrichtungen und die Schändung von Gedenkstätten und Mahnmalen. Hass und Vernichtungsgedanken gegenüber Jüdinnen*Juden und Israel haben in unvorstellbarer Weise zugenommen. Selbstbewusst wird dabei von vielen verkündet, man habe nichts gegen Jüdinnen*Juden, sondern sei bloß „Antizionist*in”, während Bilder von israelischen Geiseln abgerissen und Gedenkstätten mit „Free Palestine” Schriftzügen beschmiert werden. Manch eine*r ist derzeit überrascht, dass Antisemitismus auch von linken Aktivist*innen in Diskursen um den Nahostkonflikt recht unverhohlen geäußert wird. Doch in der deutschen Geschichte ist es längst nicht das erste Mal, dass unter dem Deckmantel des „Antizionismus” offener Judenhass ausgelebt wird. Die aktuellen Ereignisse verweisen vielmehr auf eine lange, unaufgearbeitete Geschichte des Antisemitismus, auch in linken Kontexten.

Das vergessene Attentat von 1969

Heute vor 54 Jahren, am 9. November 1969, will die linksradikale Gruppe Tupamaros West-Berlin einen Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße in West-Berlin verüben, während einer Gedenkveranstaltung an die Opfer der Reichspogromnacht.

Das Gemeindehaus wurde auf den Trümmern einer zerstörten Synagoge errichtet und steht symbolisch für einen Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Nationalsozialismus und der Shoah.

Rund 250 Menschen finden sich an diesem Abend zusammen, 31 Jahre nach der Pogromnacht und 24 Jahre nach der Kapitulation Deutschlands. Unter den Besucher*innen sind auch Überlebende des Nazi-Terrors. Dass die Bombe letztendlich nicht zündet  verhindert nur ein kleiner technischer Fehler.

In einem Bekennerschreiben mit dem Titel „Schalom + Napalm“ schreibt die Gruppe n, die Reichspogromnacht werde tagtäglich von „Zionisten” in Palästina wiederholt.

Keine 25 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sind es ausgerechnet sich als links verstehende Aktivisten, die eine perfide Täter-Opfer Umkehr betreiben und Jüdinnen*Juden zu den neuen Nazis erklären. Gleichzeitig wird das Judentum mit Israel und dem Zionismus gleichgesetzt und Jüdinnen*Juden gelten wieder als legitime Zielscheibe des Terrors.

Antizionismus als Konsens in der neuen Linken

Statt einen Aufschrei in der neuen Linken der BRD auszulösen, findet das antisemitische Attentat kaum Beachtung. Spätestens seit 1967 und Israel Sieg im Sechstagekrieg ist Antizionismus in linken Bewegungen vieler Länder dominant. Das vereinfachte Urteil im Hinblick auf den sogenannten Nahostkonflikt: Israel ist ein imperialistischer Unterdrückerstaat. Bereits damals werden in dieser dichotomen Sichtweise viele Aspekte nicht thematisiert, etwa die Geschichte der Staatsgründung des Landes oder der offene Antisemitismus und Aufrufe zur Vernichtung von Jüdinnen*Juden durch palästinensische Nationalführer. Überlebende der Shoah und geflüchtete Jüdinnen*Juden aus der ganzen Welt, die vor Vertreibung und Verfolgung Schutz in Israel fanden, werden auf einmal zu mächtigen Unterdrücker*innen stilisiert, während Palästinenser*innen einseitig als Opfer und gute, revolutionäre Subjekte gelten, egal welche reaktionären und autoritären Politiken von arabischer Seite ausgehen.

Linke Gruppierungen wie die RAF, „Revolutionäre Zellen” und die „Bewegung 2. Juni” arbeiten eng mit paramilitärischen palästinensischen Organisationen zusammen und auch das sympathisierende Umfeld der außerparlamentarischen antiimperialistischen Linken ist klar in dieser Richtung positioniert. Solidarität mit Palästinenser*innen mündet häufig in der Unterstützung von Terror, etwa bei der Entführung eines Flugzeugs von Tel Aviv nach Entebbe 1976 durch zwei Angehörige einer der Palästinensischen Befreiungsfront (PFLP) nahe stehenden Gruppe und durch die deutschen Gründungsmitglieder der „Revolutionären Zelten”, Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann. Die Passagiere der Maschine werden durch die Terrorist*innen selektiert und nur die jüdischen (oder solche mit vermeintlich jüdischem Namen) werden als Geiseln festgehalten, darunter auch ein KZ-Überlebender. Als der Shoah-Überlebende dem deutschen Terroristen Wilfried Böse seine eintätowierte Häftlingsnummer zeigt, erwiderte Böse, er sei kein Nazi, sondern „Idealist”. Im vermeintlich antiimperialistischen Kampf für das „Gute” ist Terror ein probates Mittel und israelische Zivilist*innen oder Menschen, die für solche gehalten werden, ein geeignetes Ziel. Auch in diesem Fall bleiben Protest und Empörung innerhalb der deutschen Linken leise.

Die Gleichsetzung von Jüdinnen*Juden mit den nationalsozialistischen Tätern, so kurze Zeit nach den Verbrechen des Nationalsozialismus ist unter linken Aktivist*innen, so absurd es anmuten mag, keine Seltenheit. Als 1972 israelische Sportler bei den Olympischen Spielen in München Opfer eines Anschlags von der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September” werden, bekundet Ulrike Meinhof diese Haltung recht unverblümt, mit einer Wortwahl, die bis heute erschaudern lässt. Statt Empathie für die Opfer und ihre Angehörigen zu äußern, schreibt sie: „Die Israelis haben ihre Sportler verheizt, sowie die Nazis die Juden”.

Offensichtlich gibt es schon früh in der deutschen Linken, die sich eigentlich die Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf die Fahne geschrieben hatte, das Bedürfnis, sich von der Schuld der Elterngeneration zu entlasten. Wenn die Israelis doch die neuen Nazis sind, können sich die Deutschen von der Schuld befreit sehen.

Aus der Geschichte nichts gelernt?

Bereits in den 70er Jahren analysierte der Historiker Moshe Postone, dass die 68er-Generation zwar ein Interesse am Nationalsozialismus hatte, dieses jedoch im Gefühl der Abscheu und Schuld gewurzelt habe, woraus letztendlich eine Abwehrreaktion resultierte. Dass man sich schuldig für das Fehlen eines ausreichenden Widerstandes gegen den Nationalsozialismus fühlte, führte nach Postone letztendlich zu einer Überbetonung des Widerstandes gegen Hitler, während die Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem dritten Reich gemieden wurde. Das Ergebnis war demnach, „dass die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele imperialistischer oder totalitärer Massenmorde erscheinen oder unerklärbar bleiben”. Antisemitismus in seiner Spezifik und als grundlegende Ideologie des Nationalsozialismus blieb nach Postone auch unter Linken unbegriffen.

Die Existenz des Staates Israel, als letzter Schutzort für Jüdinnen*Juden und Konsequenz des antisemitischen Vernichtungswahns der Nationalsozialisten, hielt außerdem die ständige Erinnerung an Auschwitz aufrecht und stand somit einer ersehnten Versöhnung mit den Eltern im Wege. Offensichtlich war es für viele Linke leichter, sich mit dem Kampf der Palästinenser*innen zu identifizieren und sich dadurch auf der Seite der „Guten” zu wähnen, statt sich mit einem jahrhundertelangen Antisemitismus, der über Generationen anwuchs und in der Vernichtungspolitik der Elterngeneration gipfelte, auseinanderzusetzen.

Jüdische Intellektuelle äußerten bereits in den 1970er und 80er Jahren ihre Enttäuschung über die Ignoranz ihrer linken Genoss*innen gegenüber dem Antisemitismus in den eigenen Reihen und die mangelnde Bereitschaft einer selbstkritischen Auseinandersetzung. Gerade sie, als Nachkommen der Täter sollten es doch besser wissen. Stattdessen wurde Jüdinnen*Juden, die teilweise aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrten nun auch von Linken ein Gefühl der Abweisung und Entsolidarisierung vermittelt.

Auch heute, Jahrzehnte später, bringen jüdische Intellektuelle wieder ihre Enttäuschung über fehlende Solidarität und einseitige Sichtweisen auf Israel und Palästina zum Ausdruck. Nach dem Massaker am 7. Oktober wurde Jüdinnen*Juden nicht einmal wenige Tage eine uneingeschränkte Solidarität gegen den islamistischen Terror der Hamas zugestanden. Stattdessen bemühten sich auch vermeintlich progressive und linke Aktivist*innen direkt um eine Täter-Opfer-Umkehr und Relativierungen der unsäglichen Gewalt.

Auch wenn die RAF und andere antisemitische, linke Terrorgruppen mittlerweile Geschichte sind, ist die Verlockung geblieben, Israel und Palästina durch das beschränkte Prisma der antiimperialistischen Perspektive zu betrachten und dabei klar in „Gut” und „Böse” einzuteilen. Auch die Obsession, Nazivergleiche zu benutzen hat überlebt.  Unter „free palestine from german guilt” slogans biedern sich einige Linke sogar der „Schuldkult”-Rhetorik der AfD an, ohne diesen Zusammenhang zu reflektieren. Die Sehnsucht, die Geschichte des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen, scheint damals wie heute groß zu sein.

Die Indifferenz, die emotionale Kälte und die fehlende Solidarität, in einer Zeit, in der Jüdinnen*Juden sich an die dunkelste Zeit in der deutschen Geschichte erinnert fühlen, lässt auch heute wieder erschaudern. Während tausende vermeintlich linke und progressive Aktivist*innen offensichtlich keine Hemmungen haben, ihre Solidarität mit Palästinenser*innen auszudrücken, indem sie im Schulterschluss mit antisemitischen und islamistischen Gruppierungen durch die Straßen marschieren, gelingt es nicht, jüdisches Leben zu schützen. Dabei sollten gerade deutsche Linke selbstverständlich Verbündete von bedrohten Jüdinnen*Juden sein. Die bittere Erkenntnis der letzten Wochen ist, dass viele es bis heute nicht sind. Es zeigt sich deutlicher denn je, dass eine aufrichtige, selbstkritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus, die über Lippenbekenntnisse hinausgeht, bis heute fehlt.

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