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12. Verhandlungstag Halle-Prozess – Die Niederlage des Täters

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Im Magdeburger Landgericht findet die Verhandlung gegen den Attentäter von Halle statt. (Quelle: Nicholas Potter)

Die Aussage von Karsten L. ist nicht leicht anzuhören. Mit zitternder Stimme und immer wieder von Schluchzen unterbrochen erzählt L. von seinem Sohn Kevin S., der am 9. Oktober 2019 im „Kiez-Döner“ in Halle ermordet wurde. Acht Tage vor seinem Tod hatte der 20-Jährige eine Lehre als Maler begonnen. Keine Selbstverständlichkeit, Kevin S. hatte nach einem epileptischen Anfall während der Geburt eine geistige Behinderung. Acht Jahre lang besuchte er eine Förderschule in Halle, machte mehrere Praktika, um seinem Ziel, der Ausbildung zum Maler, näher zu kommen. Auf den Ausbildungsplatz war S. „sehr stolz“, wie sein Vater erzählt. Seit gut zehn Jahren seien die Eltern getrennt, um Kevin hätten sie sich aber zusammen gekümmert. Der Vater erzählt auch von Kevins Begeisterung für den Halleschen FC, gemeinsam seien sie zu Spielen gefahren, bis der Sohn Freunde im Fanclub gefunden habe. „Mit denen ist er im Bus mit zu den Auswärtsspielen gefahren. Die haben ihn beschützt. Wir hatten nie Angst, dass was mit ihm passiert.“ Einen kleinen Bolzplatz wollte Kevin renovieren, auch mit dem Geld, das er in der Ausbildung verdient hätte: „Er wollte arbeiten, sich selbst finanzieren. Es hat ihn gestört, dass die Woche nur 40 Stunden hat. Von seinem Geld konnte er sich seine Fußballkarten selbst kaufen.“ Darauf sei Kevin unheimlich stolz gewesen.

Telefoniert haben die beiden zum letzten Mal kurz vor Kevins Tod. Kevin sei übergewichtig gewesen und habe sich deswegen bei seinen Eltern oft die Erlaubnis eingeholt, wenn er etwas essen wollte, von dem er dachte, es sei ungesund. Am 12. Oktober 2019 fragte Kevin seinen Vater am Telefon, ob es okay sei, einen Döner zu essen.

Kurz danach wird klar: Kevin meldet sich nicht mehr, weder beim Vater noch bei der Mutter. Mindestens zwanzig oder dreißig Mal hatte der Vater versucht, seinen Sohn anzurufen: „Er ist nicht rangegangen. Nichts, nichts, nichts.“ Per Facebookpost sucht Karsten L. jetzt seinen Sohn. Bis ihm am Abend ein Bekannter das Video des Täters schickt: „Ich habe es mir angeguckt“. Im Gerichtssaal kann der Vater nicht mehr weitersprechen. Die Verhandlung wird unterbrochen. 

Dreimal habe er seit dem Mord an Kevin versucht oder darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen, berichtet der Vater nach der Unterbrechung. Einmal griff sein Bruder ein, zweimal rief der Vater selbst die Polizei. Er selbst und die Mutter von Kevin sind in Therapie: „Es ist schwer. Weil wir das früher nicht kannten. Man braucht Hilfe, man braucht viel Hilfe.“

Der Täter, der bei jüdischen Zeug*innen keine Gelegenheit auslässt, zu grinsen, hämisch zu kichern oder seine Gesinnung anderweitig unter Beweis zu stellen, reagiert kaum, sondern blickt nach vorne und schaut den weinenden Vater fast nie an. Zu Beginn des Prozesses hatte er erklärt, warum er Kevin S. ermordete: „Der hatte schwarze Haare, ich hielt ihn für einen Nahöstler.“

Zwei weitere Zeug*innen berichten am 12. Verhandlungstag aus der Synagoge. Die 60-jährige Journalistin und angehende Rabbinerin Karin E. erzählt darüber, wie real der Hass auf Juden und Jüd*innen für sie seit dem Anschlag geworden sei. Aufgewachsen ist E. mit Erzählungen über den Holocaust in einer Familie deutscher und polnischer Juden und Jüdinnen: „Aber die Bilder der Shoah sind in schwarz-weiß im Kopf. In dem Moment haben die Bilder Farbe bekommen.“

Wie schon andere Zeug*innen an früheren Verhandlungstagen, kritisierte auch E. die Polizei. Nur sehr selten hätten die Beamten den in der Synagoge eingeschlossenen Menschen Informationen zukommen lassen. Während das Gotteshaus zunächst nicht von der Stadt oder vom Staat geschützt worden war, war die Situation nach dem Anschlag in ihr bizarres Gegenteil verkehrt. Die Zeugin beschreibt ein „großes Theater“. Die permanenten Durchsuchungen und Vernehmungen der Menschen, die schließlich die ganze Zeit durch eine Mauer von der Tat getrennt waren, ließen für die Zeugin das Gefühl aufkommen, zu den Verdächtigen zu gehören. Sie macht aber auch deutlich, wie wichtig der Prozess für die Aufklärung der Hintergründe der Tat sei: „Die Gefahr, die uns begegnet ist, ist nicht nur eine deutsche Gefahr. Ich habe Angst, dass sie nicht erkannt wird. Der Täter war nicht allein. Er ist sehr wohl ausgebildet, motiviert und angefeuert worden. Wenn man diese Gefahr nicht ernst nimmt und nicht sieht, wie diese Person mit vielen anderen vernetzt ist, ist dieser Prozess für mich bedeutungslos.“ Die Verbindungen zwischen ähnlichen Taten, wie den Anschlägen in Christchurch und in Poway ignoriere das BKA derweil und zeige „Desinteresse“ an der weltweiten Vernetzung von „white Supremacists“. 

Der Mathematiker Ezra Waxman berichtet im Zeugenstand, gerade an diesem Verhandlungstag sehr eindrücklich, über die ambivalenten Gefühle der Überlebenden. Einige Betroffenen hatten bereits beschrieben, wie intensiv sie nach dem Anschlag das Gebet zu Yom Kippur empfunden hatten. Sie sprachen auch darüber, wie schwer es ihnen fiel zu akzeptieren, dass Menschen bei einem Anschlag ermordet wurden, der der Synagoge galt. Auch Waxman hatte diese Gedanken: „Ich habe mich unwohl gefühlt, weil es einen Bruch zwischen meiner Erfahrung gab und dem Fakt, dass Menschen ermordet wurden.“ Für ihn bedeutete das auch, mit der Mutter der ermordeten Jana L. in Kontakt zu treten. Die Frau, die auch Nebenklägerin ist, aber nicht in den Zeugenstand treten wird, beschreibt Waxman so: „Sie ist ist eine gute und starke, eine bescheidene und demütige Frau. Sie hat nichts davon verdient.“ 

Die Journalistin und der Mathematiker sind sich derweil sicher: Der judenhassende Attentäter, der auch noch mit 28 ohne Job im Kinderzimmer bei seiner Mutter lebte, wird sie nicht aus Deutschland vertreiben. Für beide ist die Tat Anlass sich noch stärker als bisher dafür einzusetzen, dass jüdisches Leben in Deutschland Platz findet.

Und auch Rıfat und İsmet Tekin werden selbstverständlich bleiben. Am 9. Oktober stand Rıfat hinterm Tresen des Imbisses „Kiez-Döner“, İsmet hatte den Laden gerade kurz verlassen, als der Attentäter vorfuhr, um Kevin S. im Imbiss zu ermorden. Rıfat Tekin leidet bis heute unter Schlafstörungen, im Laden will er eigentlich nicht mehr arbeiten. Sein Bruder ergänzt, dass Rıfat dafür bekannt war, die ganze Familie zum Lachen zu bringen. Seit dem Attentat sei das nicht mehr passiert. Es ist offensichtlich nicht einfach für die Brüder immer die richtigen Worte zu finden. „Für den Mörder habe ich aber einen Namen gefunden“, sagt İsmet Tekin: „Er ist ein Feigling.“ Und auch er stellt die Fragen, die das BKA offenbar nicht unbedingt stellen will: „Dieser Feigling hat jahrelang Pläne geschmiedet und Waffen gebaut und niemand soll das mitbekommen haben? Das glaube ich nicht. Dieser Tat war keine Tat eines Einzelnen, sondern von mehreren. Es bedarf Aufklärung, damit dieses schöne Land nicht nochmal von solch einer Tat erschüttert wird.“ 

İsmet Tekin spricht den Täter ganz direkt an: „Sie haben nicht gewonnen. Sie haben auf ganzer Linie versagt, mein Bruder lebt, ich lebe. Entstanden ist noch mehr Zusammenhalt und mehr Liebe zwischen den Menschen. Wir werden nicht weggehen und unseren Laden nicht aufgeben. Und wissen sie was: Ich werde Vater. Ich werde alles geben, dass meine Kinder, aus dieser Geschichte das beste machen. Kevin und Jana werden wir nicht vergessen. Wer einen Menschen tötete, tötet die ganze Menschheit.“ Im Gerichtssaal wird an dieser Stelle applaudiert.

Für die Brüder ist klar: Die schreckliche Tat hat sie dazu motiviert mehr zu tun: „Bis zum Tag des Anschlags habe ich geschlafen, aber der Tag hat mich geweckt, um weiterzuarbeiten für die Gesellschaft.“ Denn: „Kevin und Jana sind nicht umsonst gestorben. Sie sind vielleicht körperlich nicht mehr hier, aber sie werden bis in alle Ewigkeit in unseren Herzen leben.“

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