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8. Verhandlungstag Halle-Prozess – „Ich werde meine Zukunft hier aufbauen – Du hast gar nichts erreicht.“

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Am 9. Oktober 2019 versuchte der Attentäter Stephan B., bewaffnet in diese Synagoge in Halle zu stürmen. Er tötete zwei Menschen. Am 21. Juli beginnt der Prozess gegen ihn im Landgericht Magdeburg. (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Am 01. September 2020 fand in Magdeburg der achte Prozesstag gegen den Attentäter von Halle statt. Zum ersten Mal im Verfahren wurden vier Betroffene gehört, die während des Anschlags in der Synagoge waren. Es sind bewegende Schilderungen, die die Betroffenen mit fester Stimme vortragen. Sie berichten über kleine Zufälle, die womöglich Leben gerettet haben, wie die erste Zeugin, die sich kurz die Beine vertreten wollte und wenige Minuten, bevor der Attentäter vorfuhr, das Synagogengelände verlässt und die Schüsse und Explosionen aus einem nahegelegenen Park hört. Sie berichten darüber, wie die Gebete anlässlich Yom Kippur durch die Explosionen unterbrochen und dann doch weitergeführt werden.

Eine Zeugin berichtet von ihrem Großvater, einem Holocaustüberlebenden, dessen gesamte Familie ermordet wurde: „Lange war mein Großvater der einzige Überlebende in unserer Familie. Seit dem 9. Oktober 2019 gehöre ich auch dazu. Ich stehe an seiner Seite. Die Stärke, mit der ich heute hier stehe, entspringt dem Glauben und der Widerstandskraft meiner Familie. Ich stehe hier heute nicht nur für mich. Ich stehe hier für die Generationen von Juden und Jüdinnen, die vor mir da waren und für alle, die noch kommen werden.“

Alle Befragten beschreiben ihren Schock und ihre Trauer über die sinnlose Ermordung von Jana L. und Kevin S.: „Ich komme nicht darüber hinweg, dass zwei Menschen tot sind, weil ich es nicht bin. Mir wäre es persönlich lieber, wenn er auf mich geschossen und nicht zwei andere Menschen ermordet hätte, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren“, berichtete eine Zeugin.

Jedes Wort der Betroffenen führt dem Täter sein Scheitern vor Augen. Denn immerhin sprechen hier die Menschen, die er ermorden wollte, während er nur noch mit Fußfesseln auf der Anklagebank sitzt. Es ist schließlich der Kantor der jüdischen Gemeinde in Halle, der ihn direkt anspricht und vom ersten Shabat nach dem Attentat berichtet: „Die Straße war voll mit Menschen. Die Straße auf der du warst. Alte, Junge, Menschen aus Halle. Sie haben gesungen und sie haben gesagt, wir werden diesen Ort nicht verlassen, wir werden die Menschen in dieser Synagoge mit unserem Leben beschützen. Ich werde hier bleiben. Ich habe hier meine Familie. Ich werde meine Zukunft hier aufbauen. Du musst den Rest deines Lebens damit leben, was du getan hast. Du hast gar nichts erreicht. Es hat nichts gebracht.“

Erschütternd sind an diesem Tag aber auch die Aussagen über das Verhalten der Behörden und ihrer Vertreter*innen. Rabbiner Jeremy Borovitz betont in seiner Aussage mehrmals, dass es ihm nicht darum geht, einzelne Beamte anzugreifen oder die Polizei als Institution zu kritisieren: „Ich erzähle das nicht, weil ich die Polizei beschuldige, aber ich glaube sie hätte ein paar Dinge besser machen können“. Hört man die Schilderungen der Zeug*innen, dann sind es tatsächlich mehr als nur ein „paar“ Dinge, die ein in Teilen katastrophales Bild der Hallenser Polizei zeichnen. 

Zum Beispiel werden die Menschen aus der Synagoge von der Polizei mit einem Bus vom Anschlagsort in ein Krankenhaus gebracht. Der Bus steht in der Straße vor der Synagoge, die Scheiben sind nicht verdunkelt und auch sonst gibt es keinen Sichtschutz. Direkt gegenüber stehen Fotograf*innen und fotografieren die wartenden Menschen im Bus. Im Bus wurden die Juden und Jüdinnen von einer katholischen Nonne erwartet, die als Seelsorgerin fungieren sollte. Rabbi Borovitz: „Ich glaube, das war gut gemeint. Man dachte, hier sind religiöse Menschen, dann bietet man ihnen religiöse Hilfe an. Aber aus jüdischer Perspektive – mit Blick auf die lange Geschichte der Zwangskonversion – war das für einige Betroffene sehr schwierig.“ 

Yom Kippur, also der Feiertag an dem der Anschlag stattfand, ist ein Tag des Fastens. Erst abends gibt es ein Fastenbrechen, dafür hatten die Besucher koscheres Essen mit in die Synagoge gebracht. Die deutsche Gründlichkeit der Beamt*innen verlangte allerdings offenbar, dass nichts die Synagoge verlassen durfte, was möglicherweise ein Beweismittel sein könnte. Auch nicht das Essen. Nach längerer Diskussion dürfen die Betroffenen es schließlich doch mitnehmen. Aber nicht in einem Koffer. Der wäre nämlich zu groß, also musste alles in Plastiktüten gepackt werden.

Aber nicht nur das Essen sollte nicht mit in den Bus kommen, sondern auch die 15 Monate alte Tochter von Rabbi Borovitz und seiner Frau, Rabbinerin Rebecca Blady. Denn in den Bus durften nur Personen, die auch vorher in der Synagoge waren. Die Tochter hatte allerdings den Vormittag mit ihrer Babysitterin verbracht. Die beiden waren während des Anschlags in der Stadt unterwegs. Erst nachdem sich der Rabbi weigerte, ohne seine Tochter einzusteigen, ließen die zuständigen Beamt*innen das 15 Monate alte Kleinkind doch noch in den Bus.

Erschütternder als diese Schilderungen der Betroffenen ist an diesem Verhandlungstag aber das Video der Überwachungskamera der Synagoge, auf dem das Verhalten mindestens einer Beamtin zu sehen ist. Von oben gefilmt ist der Bereich auf dem Gehweg direkt vor der Eingangstür zu sehen, die Kamera zeigt aber auch Teile der Straße, bis hin zu der Stelle vor dem Eingang des Jüdischen Friedhofs, wo der Täter zunächst parkt und schließlich Jana L. ermordet. Der Leichnam ist auf dem Überwachungsvideo am oberen Bildrand zu sehen. Nachdem der Täter es nicht schafft, die Tür, die aufs Gelände der Synagoge führt, aufzusprengen, geht er zum Auto und fährt los – in Richtung des City Imbiss, wo er Kevin S. ermordet.

Minutenlang ist auf dem Video der Leichnam von Jana L. zu sehen. Einige Passanten sammeln sich. Niemand versucht sie wiederzubeleben. Zehn Minuten dauert es laut dem Protokoll der Polizei, bis Beamt*innen eintreffen. Zehn Minuten liegt der Leichnam von Jana L. auf der Straße vor der Synagoge. Dann hält ein Polizeifahrzeug am oberen Bildrand. Eine Beamtin steigt aus. Sie macht keinen Wiederbelebungsversuch, sie nähert sich nicht einmal dem Leichnam. Stattdessen läuft sie auf der Straße hin und her. Sieben Minuten nach Eintreffen der Beamt*innen fährt der Täter erneut an der Synagoge vorbei. Bis zu diesem Moment zeigt Richterin Ursula Mertens das Video. Es ist jetzt 17 Minuten her, seitdem Jana L. vermutlich gestorben ist. Weiterhin hat sich keiner der Beamt*innen dem Leichnam genähert, nicht versucht wiederzubeleben, nicht den Tod festgestellt. Noch Stunden später liegt der Leichnam der Ermordeten vor der Synagoge, wie es die Zeug*innen schon beschrieben hatten. 

Wieder mal ist es kein gutes Bild, dass deutsche Polizist*innen abgeliefert haben. Wobei die Betroffenen immer wieder Wert darauf zu legen zu betonen, dass sie keine einzelnen Beamt*innen verantwortlich machen wollen. Und trotzdem hinterlässt das Überwachungsvideo eigentlich nur Ratlosigkeit und Erschütterung.

Die Betroffenen versuchen trotzdem, zumindest optimistisch in die Zukunft zu blicken. Rabbi Borovitz: „Ich bin vor 12 Jahren nach Berlin gekommen und dann vier Jahre später wieder. Ich glaube fest an die Zukunft jüdischen Lebens in diesem Land. Vor diesem Erlebnis wussten wir nicht genau, wie lange wir bleiben würden, jetzt weiß ich, dass jüdisches Leben weitergehen, blühen und wachsen wird und ich bin glücklich, dass ich Anteil daran habe. Wir verstecken uns nicht, wir sind laut und wir werden gehört.“

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