Auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel war zu Beginn der Ausstellung ein großformatiges Banner zu sehen, auf dem Karikaturen von Juden als Schwein oder als raffgieriger Kapitalist mit Schläfenlocken und Reißzähnen, abgebildet sind. Nun fragen sich viele, wie es dazu kommen konnte. Die Kontinuitäten der Intransparenz, fehlende Verantwortungsübernahme, kein Verständnis für Antisemitismus und der Unwillen zur Aufarbeitung reichen lange zurück. Die Geschäftsführung der documenta, der documenta-Beirat und viele andere Verantwortungsträger*innen auf der Kunstschau sind selbst Teil des Problems, welches größer ist, als die documenta: Die Debatte betrifft das gesamte Kunstfeld.
Von der NSDAP zur documenta
Das deutsche Historische Museum (DHM) zeigte 2021 eine Ausstellung zur Kasseler Kunstausstellung documenta. Die Nachforschungen des DHM ergaben, dass zehn der 21 Gründungsmitglieder des ersten documenta-Teams ehemalige Mitglieder der NSDAP, SA oder SS waren. Zum Beispiel Werner Haftmann, NSDAP und SA-Mitglied. Ihm wurde Mord und Folter an italienischen Partisanen zur Last gelegt. Der Kunsthistoriker Haftmann galt als intellektueller Kopf der ersten drei documenta-Ausgaben. Für den Maler und Antisemiten Emil Nolde hielt Haftmann einen prominenten Platz auf der ersten documenta bereit und er half, die Geschichte Noldes komplett umzuschreiben, um aus ihm einen guten Deutschen zu machen, der dem Nationalsozialismus durch inneres Exil widerstanden hätte. Passend dazu fehlten bei der documenta wichtige jüdische Künstler*innen. Der Neuanfang sollte nicht durch die Erinnerung an den Holocaust gestört werden. Die Beschäftigung mit den eigenen NS-Verstrickungen war sehr lange kein Thema, obgleich sich die documenta immer politischer und engagierter gab. Noch 2017 hatte Adam Szymczyk, der Kurator der documenta14, die Ausstellung „das Gewissen der zeitgenössischen Kunst” genannt.
In einem Interview mit dem Kunstmagazin monopol vom März 2020 sprach die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann von der Wichtigkeit unabhängiger und interdisziplinärer Forschung, eine Aufgabe, die dem neugegründeten documenta-Institut zukomme. Im Juli 2022 sind auf der Webseite des Instituts über zehn Forschungsprojekte skizziert, nur eines widmet sich der „NS-Vergangenheit der documenta Akteur:innen”. Die Schwerpunkte des Instituts sind also andere. Organisatorisch untersteht das Institut der documenta und der Museum Fridericianum gGmbH, die auch die documenta verwaltet. Kritische Forschung wird dadurch nicht automatisch ausgeschlossen, aber in Hinblick auf die Aufarbeitung der NS-Kontinuitäten ist es keine Konstellation, die das Vertrauen in die angekündigte Aufarbeitung stärkt. „Die Documenta hat nicht das Ziel, sich selbst zu erforschen” sagte Schormann im besagten monopol-Interview, in Zusammenhang mit dem durch die documenta gGmbH gesicherten Einfluss auf das Institut. Heinz Bude, der Gründungsdirektor des documenta-Instituts, sagte im Mai diesen Jahres der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (HNA): „Derzeit macht man sich in Kassel viele Gedanken über die Hülle und nicht über das, was dort eigentlich rein soll.” Im Artikel der HNA heißt es weiter: „Mit seinen Mitarbeitern habe er konkrete Vorstellungen. Doch die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann gehe darauf nicht ein: ‚Darum werden wichtige Entscheidungen nicht getroffen. Das Problem ist der Oberbürgermeister, der Frau Schormann zu viel Raum lässt.’ Bude warnt: ‚So könnte es passieren, dass es am Ende gar kein Institut gibt.’”
Außer Lippenbekenntnissen, gab es bisher nur wenig Hinweise, dass die documenta an ernsthafter Aufarbeitung interessiert ist. Die Arbeit des DHM wurde öffentlich begrüßt, die eigenen Versäumnisse in der Aufarbeitung kamen kaum zur Sprache. Es wäre ein notwendiges und umfassendes Unterfangen. Eine Aufklärung der NS-Kontinuitäten kann nicht nur über personelle Verstrickungen der ersten drei documentas erfolgen. Es müsste sich dezidiert mit dem ideologischen Kern des NS auseinandergesetzt werden. Das bedeutet auch eine explizite Beschäftigung mit historischen und aktuellen Formen des Antisemitismus im Kunstfeld und insbesondere bei der documenta selbst. Aus historische Sicht ergeben sich ganze Bündel unbearbeiteter Fragen. Doch die documenta scheint vielmehr an der Mythenproduktion des Neuanfangs festzuhalten, was auch durch den allgemein unkritischen Umgang mit einem ihrer prominentesten Vertreter*innen augenscheinlich wird.
Völkischer Filz
Ab der dritten documenta war der Künstler Joseph Beuys auf der Kunstschau vertreten und steht bis heute wie kaum ein anderer für die deutsche Nachkriegskunst und die documenta. Immer noch feiern die deutsche Kunst und ihre Institutionen den „visionären Befreier“, wie das Artmagazin im April 2021 titelte. Beuys steht in einer deutschen Kunsttradition, die die Welt durch die Rückbesinnung auf das Ursprüngliche zu reparieren und heilen versucht. Als Beuys das Märchen in die Welt setzte, er sei nach einem Flugzeugabsturz von Krimtartaren mit Fett und Filz zusammengeflickt worden, ahnte er vielleicht schon, dass er in Deutschland nicht der Einzige war, der nach 1945 aus der Verdrängung der eigenen Geschichte „wiedergeboren“ wurde. Der Mythos der Reinkarnation half bei dem Selbstverständnis, sich selbst als gereinigt von den Verstrickungen der Vergangenheit zu inszenieren und diente als entlastende Folie für eine ganze Generation.
Beuys, 1921 geboren, war Hitlerjunge, der sich 1941 freiwillig für zwölf Jahre bei der Luftwaffe verpflichtete. Er war an der Zerstörung Sewastopols beteiligt, Unteroffizier und Bordschütze in einer Stuka. Bereits 2008 überschrieb der Schweizer Kunsthistoriker Beat Wyss seinen Essay im Kunstmagazin Monopol mit „Der ewige Hitlerjunge“. Addiert man dazu Beuys Anti-Amerikanismus, seinen nationalen Pathos, seinen Germanenkult und seinen okkulten Naturglauben, kommt man nicht umhin, Beuys mit strukturellem Antisemitismus in Verbindung zu bringen.
Antisemitismus ist das Bindeglied, welches vereinfachende und essentialistische Denkweise logisch zusammenbringt. „Was sich in den ‚politischen‘ Programmen und Verlautbarungen von Beuys zunächst als ‚links‘, sozialistisch, friedensbewegt und egalitär ausnimmt, findet sich nahezu identisch bei Rechtsextremen“, so der Beuys Biograf Hans Peter Riegel.
Haftmann, Beuys, das ist lange her…
Im Vorfeld der documenta fifteen, der diesjährigen Ausgabe der Ausstellung, kam es zu Antisemitismusvorwürfen, die zunächst auf dem Blog des Kasseler Bündnis gegen Antsemitismus veröffentlicht wurden. Die Vorwürfe problematisierten im wesentlichen die Nähe von Künstler*innen und zentralen Verantwortlichen der documenta zur anti-israelischen Boykott-Kampangne BDS und die Einladung eines palästinensischen Kollektivs namens „The Question of Funding“. Yazan Khalili ist der Sprecher der Gruppe. Für Khalili ist Israel ein Apartheidsstaat den es aufzulösen gilt. In Bezug auf die BDS-Kampagne formuliert er zum Beispiel diese Forderung: „For the boycott movement to have a radical demand, a structural one, it must call for boycotting the Israeli state until it dismantles itself as a Jewish state, meaning that the Israeli is no longer ‚the Jew‘.“ Khalili stellt sich damit in eine Tradition, die in Deutschland nicht unbekannt ist. Bereits Richard Wagner empfahl den Juden in seiner antisemitischen Schrift „das Judenthum in der Musik“ einfach aufzuhören, Juden zu sein.
Um auf die Vorwürfe zu reagieren und aufgrund des massiven öffentlichen Drucks, wurde durch die documenta eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel „We need to talk” ankündigt. Doch die für Mai 2022 geplante Reihe scheiterte wegen Ihrer ideologischen Schlagseite bereits bevor sie abgesagt wurde.
Von den Macher*innen wurde die Veranstaltung als Debatte über die Kunstfreiheit gerahmt und nicht als eine Debatte über Antisemitismus. In der geplanten Veranstaltung sollte die Beteiligten über „das Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts von steigendem Rassismus und Antisemitismus und zunehmender Islamophobie diskutieren.” Hier zeigt sich ein Muster, welches spätestens seit der Initiative GG5.3 Weltoffenheit, ein Zusammenschluss von namhaften deutschen Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen, die Debatte um Antisemitismus bestimmt. Die Initiative sieht durch den Bundestagsbeschluss von 2019, der sich gegen eine öffentliche Förderung von BDS richtet, die Kunst-und Wissenschaftsfreiheit bedroht und warnte vor einer „missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs“. Im Namen der Vielstimmigkeit wurde so der Antisemitismusvorwurf als größere Bedrohung für die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit eingestuft, als der Antisemitismus selbst.
Talk mit Antizionist*innen?
Für die „We need to talk“-Reihe der documenta wurden drei Teile konzipiert. Während der erste Talk heutigen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland thematisieren sollte und der zweite Antisemitismus und anti-Antisemitismus im postkolonialen Diskurs, sollte der dritte Teil antimuslimischen und antipalästinensischen Rassismus ins Zentrum rücken.
Als Reaktion auf die geplante Diskussionsreihe gab der Zentralrat der Juden in Deutschland an, bei der Konzeption nicht eingebunden worden zu sein. Besonders die Besetzung und das Thema des dritten Panels wurde durch den Zentralrat kritisiert. Die Mehrheit der Eingeladenen waroffen für BDS Positionen. So drängte sich durch das Framing (Kunstfreiheit) der Veranstaltungen und die Besetzung der Panels (mit einigen Ausnahmen) der Eindruck auf, die Veranstaltung sei eher dazu geeignet, Antisemitismus zu zerreden undzu relativieren. Der Veranstaltung brachen so gerade die Teilnehmer*innen weg, die keine offensiv antizionistische Agenda verfolgen, wie etwa der Soziologe Natan Sznaider, die Künstlerin Hito Steyerl oder der Historiker und Präsident des DHM Raphael Gross. Wer für die Organisation des gescheiterten Panels verantwortlich war, wurde nicht öffentlich kommuniziert. Trotzig sprach die documenta-Leitung vom „Aussetzen“ der Veranstaltung. Dazu passte das von einigen Medien vermittelte Bild, die Reihe sei durch einen „Brandbrief“ des Zentralrats gecancelt worden. Ein kritisches Schreiben des Zentralrats war ursprünglich allerdings nur für die Kulturstaatsministerin Claudia Roth bestimmt und wurde von Unbekannten an die Öffentlichkeit getragen.
Nach der Absage des Gesprächsformats ging das Kurator*innenkollektiv ruangrupa mit einem offenen Brief in die Offensive. Dieser musste nicht geleakt werden, sondern wurde Anfang Mai über den internationalen Branchendienst e-flux und über die Berliner Zeitung veröffentlicht. Der Brief mit der Überschrift „Wie ein Gerücht zum Skandal wurde“ sprach von der Unmöglichkeit des Dialogs und verwahrte sich gegen Vorwürfe, es gäbe auf der documenta Antisemitismus: „Im Rahmen der documenta fifteen wurden zu keinem Zeitpunkt antisemitische Äußerungen gemacht. Wir treten diesen Anschuldigungen entschieden entgegen und kritisieren den Versuch, Künstler*innen zu delegitimieren und sie auf Basis ihrer Herkunft und ihren vermuteten politischen Einstellungen präventiv zu zensieren“. Antisemitismusvorwürfe wurden mit Rassismusvorwürfe beantwortet. Ähnlich wie die Initiative GG5.3 vertreten die Verfasser*innen des offenen Briefes die Theorie, der Vorwurf des Antisemitismus würde ins Feld geführt, um Stimmen des sogenannten globalen Südens zum Schweigen zu bringen – als würde es Antisemitismus garnicht geben. Nach der Absage der Panel sollte nun erst einmal die documenta eröffnen und die Kunst für sich selbst sprechen.
Skandal nach Skandal
Am 18. Juni, zur Eröffnung hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede, die sich unter anderem auf die Unvereinbarkeit von Kunst mit Antisemitismus und Rassismus fokussierte undwies darauf hin, dass ein Boykott Israels einer Existenzverweigerung gleich kommt.
„Diese Rede ist ein Skandal” schrieb daraufhin die monopol-Chefradakteurin Elke Buhr, weil Steinmeier die Unverfrorenheit besaß, Antisemitismus anzusprechen. Buhr brachte sich schon weit im im Vorfeld der Eröffnung als Verteidigerin der documenta in Stellung und tat so, als ginge es darum, über unbegründete Antisemitismusvorwürfe, eine angeblich mit den westlichen Vorstellungen nicht kompatible Kunst zu beschädigen. Die documenta 15 setzt in diesem Jahr auf künstlerische und künstlerisch-aktivistische Beiträge aus dem globalen Süden. In einer Art Schneeballsystem wurden Kollektive eingeladen, die wiederum andere Kollektive benannten.
Einen Tag vor Eröffnung für das Publikum, am 17. Juni –die Presse und Fachwelt war schon einige Tage zuvor durch Kassel geführt worden – tauchte wie aus dem Nichts auf dem zentralen Kasseler Friedrichsplatz das großflächige Triptychon des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi auf. Taring Padi sieht das Werk als Teil ihrer Kampagne gegen die von 1967 bis 1998 andauernde gewaltvolle Militärdiktatur Suhartos in Indonesien. Was bisher keinem aufgefallen war, auf dem Triptychon finden sich eindeutig antisemitische Motive. Dies überraschte viele und andere fühlten sich gar verraten. Das Bild zeigt in einem Detail eine Figur mit Anzug, spitzen Raffzähnen und Schläfenlocke. Auf seinem Hut sind SS-Runen zu sehen. In einem anderen Detail ist eine Person in Uniform mit Schweinsnase zu sehen, auf deren Halstuch einen Davidstern und auf deren Helm der Schriftzug Mossad zu sehen ist. Als documenta-Beitrag mit dem Titel „People’s Justice“ war das Werk am zentralen Kasseler Friedrichsplatz installiert und wurde am 21. Juni wieder abgebaut. Kurz davor hatten Geschäftsführung und Künstlerische Leitung noch entschieden, das Banner schwarz zu verhängen und es als „Denkmal“ zu inszenieren. „Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment“, so Taring Padi in einem gemeinsam mit der Leitung der documenta veröffentlichten Statement.
Die Akzeptanz von Antisemitismus wird so zur Voraussetzung für Dialog und das Kunstwerk zum Märtyrer. Das Triptychon von Taring Padi wurde zur meist besprochenen Arbeit der documenta. Auf eine Phase der Abwehr, bei gleichzeitig großer Sympathie für einen antizionistischen Kampf im vermeintlichen Namen des globalen Südens (der mehrheitlich deutschen Verantwortungsträger*innen und Kommentator*innen) folgte nun nahezu einhelliges Entsetzen über konkrete antisemitische Bilder bei der Kunstschau. Dabei geriet außer Blick, dass diese Bilder direkter Ausdruck eines antisemitischen Weltbildes sind und nicht unabhängig davon existieren können. Der Journalist und Dokumentarfilme Richard C. Schneider schrieb dazu: „Solche Bilder sind mitverantwortlich dafür, dass hunderte Menschen meiner Familie ermordet, meine Eltern in die Konzentrationslager geschickt werden.“
„Für Deutschland bietet der ‚Antisemitismus-Skandal’ die Gelegenheit, ein bis heute ignoriertes Stück der eigenen Kolonialgeschichte kennenzulernen sowie über die Rolle der jungen Bundesrepublik beim diktatorischen Suharto-Regime nachzudenken” schrieben Monique Ligtenberg und Bernhard C. Schär in der WOZ. Aus indonesischer Perspektive stehe man hingegegen „vor der Aufgabe, ein kritischeres Bild vom NS-Regime zu entwickeln, wie schon nur ein Blick in den indonesischen Wikipedia-Artikel zum Thema zeigt: Er zweifelt die Opferzahlen des Holocaust an, schweigt sich über den Antisemitismus aus und enthält keine Hinweise zu antisemitischen Kontinuitäten weltweit, inklusive Indonesien.”
Leider ist „Peoples justice“ nicht das einzige problematische Werk auf der Kunstschau. Mittlerweile prüft bei mindestens einem anderen Kunstwerk die Kasseler Staatsanwaltschaft den Verdacht auf Strafbarkeit. Dabei geht es dabei um den Bilderzyklus „Guernica Gaza” des Künstlers Mohammed Al Hawajri, der vom Kollektiv „The Question of Funding” eingeladen wurde. „Guernica Gaza“ kombiniert Bilder von Angriffen der israelischen Armee auf das Palästinensergebiet mit klassischen Motiven von Künstler*innen wie Chagall, Delacroix oder van Gogh und kreiert über den Titel eine Verbindung zu Pablo Picassos Bild „Guernica”. Das Bild war Picassos Reaktion auf den Angriff der Nazi-„Legion Condor” auf die spanische Stadt Guernica 1937. Damit setzt Al Hawajri Israels Militäraktionen im Gazastreifen mit dem Bombardement der spanischen Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe gleich. Bisher wohl nicht Teil der Untersuchungen ist ein Beitrag des Kollektivs Subversive Films, das Material des Filmemachers Maso Adachi, einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Roten Armee, zeigt. Die Film-Fragmente sollen laut documenta Programm „Auskunft über die weitestgehend übersehene und nicht dokumentierte antiimperialistische Solidarität zwischen Japan und Palästina geben (…)”. Die Terrorgruppe Japanische Rote Armee Fraktion ermordete am 30. Mai 1972 am Flughafen Lod bei Tel Aviv 26 Menschen und verletzte viele weitere. Sie gilt darüber hinaus als Exporteurin der Terrorform der Selbstmordattentate in den Nahen Osten, wie Thomas von Osten-Sacken in der Jungle World schrieb. Terror wird zum Widerstand einer weltweiten Befreiungsbewegung verklärt.
Konsequenzen? Fehlanzeige
Vor dem Hintergrund des aktuellen Streits um antisemitische Bilder auf der aktuellen documenta 15, forderte der Gründungsdirektor des documenta-Instituts Heinz Bude bei der Sendung Kulturzeit vom 21.06. die Verantwortungsübernahme für das Desaster. „Verantwortung kann nicht outgesourced werden” sagte er an die Adresse der documenta gGmbH und ihre Generaldirektorin Schormann.
Schormann sei der Antisemitismus im Bild schlicht nicht aufgefallen, heißt es in einem Interview mit der HNA. Für das Desaster ebenso zentral verantwortlich ist der documneta-Beirat. Der benennt nicht nur die jeweilige Künstlerische Leitung (wie im Februar 2019 mit ruangrupa geschehen), sondern begleitet darüber hinaus auch den weiteren Projektprozess. Dieser Verantwortung ist der Beirat, zu dem Personen wie der Leiter des Van-Abbe-Museum Eindhoven Charles Esche gehören, nicht gerecht geworden. Esche hat wie seine Beirats-Kollegin Ute Meta-Bauer den offenen Brief „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren” unterschrieben, ein Soli-Brief von hunderten Künstler*innen, Kurator*innen, der der Initiatiative GG5.3 beispringt und im Bundestagsbeschluss gegen BDS eine Verschärfung der Polarisierung innerhalb der Kunstszene sieht. Die Boykottbewegung wird darin als gewaltlos verharmlost. Ein Blick in den Kunst und Wissenschaftsbetrieb des anglo-amerikanischen Raumes macht deutlich, auf welche Auseinandersetzungen sich Kunstfeld und Gesellschaft vorbereiten müssen, wenn BDS-Forderungen die Agenda bestimmen. Antisemitische Gewalt auf den Campi, Ausschlüsse von Juden:Jüdinnen von Kunstpreisen und Ausstellungen und antisemitische Propaganda und Kundgebungen bei Kulturveranstaltungen. Schon jetzt, und dafür haben Inititativen wie GG5.3 und die zahlreichen Unterstützer*innen des Briefes „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren” gesorgt, wird der Bundestagsbeschluss weitgehend und von zentralen deutschen Kunstinstitutionen und wichtigen Akteur*innen der Kunstwelt ignoriert. Der Antisemitismus auf der documenta ist auch ein Produkt dieses Politik. Auch dies wurde bei der diesjährigen documenta deutlich. Über Monate haben die Verantwortlichen die Kunstfreiheit vor sich hergetragen, um sich selbst aus der Verantwortung zu nehmen. Sie haben Antisemitismus als emanzipatorischen und politischen Kampf verkitscht. Sie haben ein kulturalistisches Weltbild als progressiv verkauft, nach dem Antisemitismus eine zu respektierende kulturelle Eigenart des globalen Südens wäre. Sie haben mehrere Chancen für eine echte Beschäftigung mit Antisemitismus wissentlich verstreichen lassen, um sich nun von Antisemitismus zu distanzieren, der auch ohne antisemitische Bilder, nämlich in Form von „Israelkritik” mehr als sichtbar war und ist.
Fraglich, ob nun neue Gesprächsreihen, organisiert von der documenta-Geschäftsführung helfen können. Der vorerst letzte Versuch, in Zusammenarbeit mit der Bildungsstätte Anne Frank am 29. Juni, offenbarte nocheinmal die Unfähigkeit zum selbstkritischen Umgang. Angekündigt unter der Überschrift „Antisemitismus in der Kunst” sollten das erste Mal grundsätzliche Fragen berücksichtigt werden. „Das Podium versucht eine erste Problemdiagnose zum Verhältnis von Kunst und Antisemitismus auch in Bezug auf den Staat Israel – und auf der documenta fifteen”, heißt es in der Ankündigung. Bewusst hängte man die Erwartungen niedrig und ließ die Zuhörer*innen dennoch enttäuscht zurück. Die selbstgewählten Mindestanforderungen wurde die Veranstaltung nicht gerecht. Beteiligt waren Hortensia Völckers von der Kulturstiftung des Bundes, die die Inititave GG5.3 Weltoffenheit unterstützt, oder Adam Szymczyk, der mit „Auschwitz on the Beach” als Leiter der documenta 14 seinen eigenen Antisemitismusskandal hatte und 2021einen „letter against apartheid” unterschrieb, in dem es kämpferisch hießt: „Israel is the colonizing power. Palestine is colonized. This is not a conflict: this is apartheid”. Wie sollte unter diesen Voraussetzungen die eigene Verstricktheit mit Antisemitismus, die jahrelange Normalisierung von BDS-Positionen im Kunstfeld thematisierte werden? Vielmehr wurde auf Allgemeinplätze gesetzt und die Bereitschaft zum Dialog geradezu überbetont. Am besten hob diese Oberflächlichkeit Hortensia Völckers hervor, die sich und der Runde attestierte: „Wir sind alle im Kampf gegen Antisemitismus engagiert”. Vor diesem Hintergrund kam Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Rolle des Spielverderbers zu. Kiesel wies auf die Systematik hin, „dass fast sämtliche postkolonialen Diskurse (…) mit einem zumindest erkennbaren anti-Israelischen Schwerpunkt(…) enden”. Überdies gibt es eine schwer nachweisbare Entwicklung im Kunst- und Wissenschaftsbereich. Die Absenz von jüdischen Israelis auf der documenta, obgleich Israel immer wieder Thema der Auseinandersetzungen ist, gibt Hinweise auf einen „silent Boykott”, der nicht mehr lautstark geäußert werden muss, so Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, der auch mit auf dem Panel saß. Mendel hatte sich kurz zuvor bereit erklärt, die documenta dabei zu beraten, Antisemitismus in dort gezeigter Kunst zu finden.
Kunst und Kultur, nicht ohne Antisemitismus
Was die Debatten der letzten Jahre durchweg zeigen ist, dass der Spezifik des Antisemitismus kaum Beachtung geschenkt wird. Es gibt nur wenig Verständnis für die Notwendigkeit, die kulturelle Funktion von Antisemitismus, auch für die aktuellen Debatten, aufzuarbeiten. Antisemitismus hat im Kontext der Moderne eine Funktion in allen politischen Lagern und Milieus: Die Entlastung von Schuld und Verantwortung. Das zeigte sich sowohl bei der heterogenen Querdenkerbewegung, als auch in der Fokussierung auf Israel in nahezu allen aktuellen Debatten im Kunstfeld. Der Kunst- und Kulturbetrieb spielt hier eine zentrale gesellschaftliche Rolle und popularisiert gewollt und ungewollt Antisemitismus, auch indem er den anti-israelischen Agit-Prop der 60er und 70er Jahre durch die aktivistische Kollektivwerdung auf der documenta wiederbelebt.
Vielen gilt hier Israel als Apartheidsstaat und koloniales Projekt. Die Staatsraison Deutschlands gegenüber Israel wird als Ausdruck einer hegemonialen (Kultur-)Politik gesehen, die die Stimmen des globalen Südens ausschließt. Die deutsche Aufarbeitungs- und Erinnerungspolitik als provinzielle Eigenheit dargestellt, die die Unsichtbarmachung anderer Menschheitsverbrechen befördere und ohnehin nicht internationalisierten Diskursen im Kunstfeld entsprechen würde. Zudem wird Antisemitismus oftmals als ausschließlich rechtes Phänomen dargestellt. Das in allen politischen Spektren der Antizionismus der kulturelle Widergänger des Antisemitismus ist, wird außer Acht gelassen. Unter diesen Voraussetzungen wird die Benennung von israelbezogenem Antisemitismus nahezu automatisch als ein rechtes Kampfmittel delegitimiert. Dies spielt nicht nur die Arbeit gegen Rassismus gegen antisemitismuskritische Arbeit aus. Über die Debatten in Kunst und Kultur werden so auch maßgebliche, gesellschaftliche Übereinkünfte, internationale Standards der Genozid- aber auch der Antisemitismusforschung rückwirkend abgewickelt und damit auch die demokratische Kultur selbst torpediert. Antisemitismus ist der blinde Fleck, gerade in den sich selbst als progressiv verstehenden Milieus.
Derweil hat Meron Mendel seine beratende Tätigkeit für die documenta gekündigt. „Es gibt auf der documenta jede Menge Gutes, aber bei der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Antisemitismusskandal vermisse ich den ernsthaften Willen, die Vorgänge aufzuarbeiten und in einen ehrlichen Dialog zu treten”, sagte er dem Spiegel. Auch Hito Steyerl hat ihre Arbeit von der documenta abgezogen. Steyerl habe kein Vertrauen mehr „in die Fähigkeit der Organisation, Komplexität zu vermitteln”.
Es gäbe also sehr viel zu besprechen. Die einzelnen documentas müssten in Hinblick auf Antisemitismus durchgearbeitet werden. Ein sehr aufwändiges Unterfangen: Es müsste bereits bei Werner Haftmann begonnen werden.