In diesem Sommer zeigte sich besonders deutlich, dass die Angriffe auf die Erinnerung die Arbeit der Gedenkstätten massiv behindern. Wöchentlich wurden zuletzt Hakenkreuz-Schmierereien in Buchenwald entdeckt. Das Thema verschwand dennoch für den Moment aus dem medialen Fokus. Der Grund: Am 7. Oktober überfiel die Terrororganisation Hamas die israelische Zivilbevölkerung. Der 7. Oktober bedeutet eine tiefgreifende Zäsur in der Geschichte Israels – mit drastischen Auswirkungen auch für Jüdinnen*Juden in Deutschland.
Das hat auch viel mit dem Thema dieses Lagebilds zu tun, wie aktuelle Vorfälle zeigen. Sie machen deutlich, wie das Gedenken an den Nationalsozialismus angegriffen wird, um gegen den Staat Israel zu agitieren. Israelbezogener Antisemitismus und Post-Shoah-Antisemitismus gehen oft Hand in Hand. Wegen Angriffen auf die Erinnerung von allen Seiten bekommt die Gedenkkultur Risse. Die extreme Rechte will diese Risse im Gedenken. Risse werden mit der Zeit größer und tiefer. Spätestens 2017, mit der Dresdener Rede Höckes, wurde deutlich: Die extreme Rechte will noch mehr. Sie will die Gedenkkultur einreißen und dagegen eine Erinnerung setzen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert. Das hat den Effekt, dass Gedenkstätten immer öfter zum Ziel von Angriffen und Vandalismus werden.
Ein Interview mit Jens-Christian Wagner, dem Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Aktionswochen gegen Antisemitismus: Am 7. Oktober 2023 überfiel die islamistische Terrororganisation Hamas Israel. Über 1400 Menschen wurden ermordet, über 200 entführt, tausende Raketen wurden abgefeuert. In Israel herrscht Krieg. Beeinflusst das auch die Arbeit der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora?
Jens-Christian Wagner: Ja! Unsere Besucher*innen kommen nicht aus dem luftleeren Raum. Das sind wache Zeitgenoss*innen, die mit Sorge hierherkommen und entsprechende Fragen stellen.
Zum Beispiel?
Viele Besucher*innen sind besorgt darüber, was da gerade in Israel passiert. Sie fragen nach Holocaust-Überlebenden dort und ob es hier in der Gedenkstätte eine verschärfte Sicherheitslage gibt.
Wie geht es den Überlebenden?
Wir haben Kontakte zu ehemaligen KZ-Häftlingen, die in Israel leben. Naftali Fürst, der Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora, wohnt glücklicherweise im Norden des Landes in Haifa. Zu ihm habe ich zum Beispiel sofort Kontakt aufgenommen und Hilfe angeboten – insoweit man von hier aus Hilfe anbieten kann. Soweit wir wissen, ist keiner der uns bekannten KZ-Überlebenden direkt angegriffen worden. Aber Familienangehörige wurden getroffen. So wurden etwa die Schwiegereltern der Enkelin von Naftali Fürst am 7. Oktober von Hama-Terroristen ermordet. Und die Enkel anderer Überlebender wurden zur Armee eingezogen. Der Angriff der Hamas ist eine Zäsur in Israel. Sicher auch für uns. Genauso wie der 24. Februar 2022, das Datum, an dem Russland die Ukraine überfiel, wird der 7. Oktober 2023 im Gedächtnis bleiben.
In den Wochen davor hatten sie viele Pressetermine, weil es wöchentlich zu Sachbeschädigungen in den Gedenkstätten kam. Sie sprachen vom „erinnerungspolitischen Klimawandel“, den wir gerade erleben. Was war die letzten Monate los? Wann hat das angefangen?
Es gab einen schleichenden Prozess. Angefangen hat es im Grunde 2015 mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“, die ich zwar nicht als solche wahrgenommen habe, die aber so bezeichnet wurde von rechter Seite und auch in den Medien. Damit kam der Aufstieg von PEGIDA & Co. Das hat sich in den Gedenkstätten wie auch in der Erinnerungskultur gezeigt. Dinge, die vorher nicht sagbar waren, wurden es plötzlich. Es gab also eine Diskursverschiebung nach rechts: Rassismus, Antisemitismus und auch Muslimfeindlichkeit wurden salonfähig. Das hat man auch an den Reaktionen der Besucher*innen in den Gedenkstätten gemerkt. Die haben angefangen, Betreuungen schwieriger zu machen, indem sie gezielt störten, z.B. durch Signalfragen oder Holocaust-Verharmlosung. Das fing damals an, allerdings noch auf relativ niedrigem Niveau.
Was meinen Sie mit Signalfragen?
Das sind auf den ersten Blick harmlos klingende Fragen, die das Gespräch auf geschichtsrevisionistische Narrative lenken sollen. Ein Beispiel ist die Frage nach den Rheinwiesenlagern, was dort denn geschehen sei. Gemeint sind die amerikanischen Kriegsgefangenenlager für deutsche Soldaten, die im Frühjahr 1945 improvisiert entlang des Rheins eingerichtet wurden und in denen einige Tausend deutsche Kriegsgefangene starben. Im rechtsextremen Milieu gelten die Rheinwiesenlager mit Verweis auf maßlos übertriebene Todesraten als Beleg für einen angeblichen Völkermord der Alliierten an den Deutschen. Genau solche Narrative werden dann – vor dem Rest der Gruppe – im Brustton des vermeintlich Wissenden verkündet, wenn der Guide unvorbereitet ist und auf die Frage nicht so richtig antworten kann. Andere beliebte Fragen sind die nach der Sklaverei in den USA oder nach den alliierten Luftangriffen auf deutsche Städte.
Und die Lage hat sich seitdem verschärft?
Ja, dann kam Corona und damit eine Vielzahl von Verschwörungslegenden wie „QAnon“. Hier in Buchenwald hat sich das durch Shitstorms niedergeschlagen, als wir für den Besuch unserer Ausstellungen die 2G-Regel eingeführt haben. Geschichtsrevisionistische und falsche historische Analogien zwischen der angeblichen „Corona-Diktatur“ und dem Nationalsozialismus wurden gezogen. Das ist an den Gedenkstätten und der Erinnerungskultur nicht spurlos vorbeigegangen und hat vor allem dem Antisemitismus ordentlichen Auftrieb gegeben.
Hatte der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine später auch einen Einfluss?
Ja, der Krieg verschärfte diese Verschwörungslegenden noch einmal und hat die Szene weiter radikalisiert. Sie ist sozusagen nahtlos von den Anti-Corona-Schutzmaßnahmen-Demos auf die Pro-Russland-Demos umgeschwenkt und hat beides zusammengebracht. Aus dem „großen Austausch“ wurde der „Great Reset“ und damit die falsche Behauptung, es gäbe den Plan einer bösen Elite diese Welt umzubauen… Genau, das hat nochmal zur Radikalisierung beigetragen und zu zusätzlichen Angriffen auf die Erinnerungskultur geführt. Glücklicherweise nicht auf Mitarbeiter*innen, aber Sachbeschädigungen haben zugenommen.
Was heißt das konkret?
In Weimar wurden im Sommer 2022 etwa Erinnerungsbäume für Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald abgesägt. In Nordhausen gab es dann einen Nachahmer-Effekt, auch dort wurden Bäume abgesägt. Es gab viele antisemitische, rassistische, holocaustleugnende Schmierereien in der Gedenkstätte, aber auch in der Stadt Weimar. Vor einigen Jahren waren das Vorfälle, die alle paar Monate auftraten, dann alle paar Wochen und diesem Sommer war es zeitweise täglich.
Auf Twitter schrieb die Gedenkstätte im Sommer, dass hier wöchentlich Hakenkreuz-Schmierereien gefunden wurden. Ist das eine besondere Situation in Thüringen oder geht das den anderen Gedenkstätten in Sachsenhausen, in Neuengamme oder in Dachau ähnlich?
Das ist leider überall ähnlich.
Hat das etwas mit zehn Jahren AfD zu tun?
Ich denke, ja. Es gibt Dinge, von denen wir vor zehn Jahren gesagt hätten, wer die ausspricht, der ist politisch geliefert. Heute bleibt das aber konsequenzlos. Das hat sich nicht nur in Thüringen geändert. Denken Sie an die Aiwanger-Debatte im Sommer. Ich glaube, Hubert Aiwanger wäre vor zehn Jahren mit seiner Haltung, jegliche Verantwortung für sein offenkundig antisemitisches Verhalten als Schüler zurückzuweisen und sich als Opfer eine Kampagne zu gerieren, nicht durchgekommen. Jetzt schon.Aiwanger hat bei den Landtagswahlen sogar zum ersten Mal das Direktmandat geholt.
Man sieht, dass offensichtlich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung nicht nur empfänglich dafür ist, sondern so etwas auch gutheißt.
Wie sieht es mit der AfD in Thüringen aus?
In Thüringen führen wir immer wieder Debatten um Geschichtspolitik. Zuletzt wäre beinahe ein AfD-Kandidat Oberbürgermeister in Nordhausen geworden. Ich brauchte nur fünf Minuten Google-Recherche, um herauszufinden, dass dieser Kandidat mehrfach unerträgliche geschichtsrevisionistische, den Holocaust verharmlosende Statements veröffentlich hat. Das war der Presse vor Ort, aber auch überregional, nicht aufgefallen.
Sie haben sich dort enorm engagiert und zusammen mit anderen verhindert, dass der AfD-Kandidat neuer Oberbürgermeister wird. Trotzdem war es sehr knapp. Welche Bilanz ziehen Sie? Was hat hier funktioniert?
Mir ist etwas klargeworden, über das ich vorher im Zweifel war. Wir haben in der Gedenkstätte diskutiert, ob eine Pressekonferenz, die diesen Geschichtsrevisionismus öffentlich macht, kontraproduktiv ist. Stichwort Aiwanger. Die Befürchtung war, dass eine Positionierung der Gedenkstätte gegen den AfD-Kandidaten diesem möglicherweise Wähler in die Arme treibt. Ich wollte mir aber nach der Wahl nicht den Vorwurf gefallen lassen, nichts gesagt zu haben. Unwidersprochen zuzulassen, dass ein Geschichtsrevisionist der Oberbürgermeister einer Stadt wird, auf deren Territorium eine der größten Gedenkstätten Deutschlands liegt, wäre für uns undenkbar gewesen. Tatsächlich hatten wir Erfolg. Unser Verweis darauf, dass dieser Kandidat ein Geschichtsrevisionist und Holocaust-Verharmloser ist, hat Leuten die Augen geöffnet, die vorher nicht zur Wahl gegangen wären oder die ihn vielleicht gar wählen wollten. Meine Bilanz? Es ist sinnvoll, sich argumentativ mit diesen Leuten und ihren Pamphleten auseinanderzusetzen – ohne schrille Töne, mit einer gebotenen Sachlichkeit sowie Wissenschaftlichkeit, um deutlich zu machen, wo Grenzen überschritten werden. Nicht moralisierend, sondern sachlich argumentierend.
Eine Voraussetzung für so einen Einsatz ist, Gedenkstätten als politische Orte zu verstehen. Sind sie das?
Ja, natürlich sind wir politische Orte. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist eine hochgradig politische Frage, mit der wiederum Politik gemacht wird. Denken Sie nur an Björn Höcke, der eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert. Aber wir müssen aufpassen, diese Gedenkorte und ihre Opfer nicht für politische Zwecke zu instrumentalisieren, egal, wie gut gemeint sie sein mögen. Das ist eine Gratwanderung. Deswegen kann ich durchaus nachvollziehen, dass viele Kolleg*innen an anderen Gedenkstätten sich lange Zeit und teilweise jetzt noch zurückhalten mit politischen Statements. Ich bin relativ offensiv, was das anbelangt und finde, man muss immer deutlich machen, wo die Neutralität endet.
Und zwar wo?
Die Neutralität endet dort, wo die Verbrechen, die hier begangen wurden, in Zweifel gezogen oder verharmlost werden. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist grundlegend für unsere demokratische Selbstverständigung. Wenn das in Frage gestellt wird, dann wird unsere Demokratie in Frage gestellt. Dann müssen wir laut werden.Das Erstarken der AfD führt auch dazu, dass sich mehr Gedenkorte als politische Akteur*innen verstehen. Das beobachten wir auch bei Besucher*innen, die in einem positiven Sinne politisiert hierherkommen, und sagen: Gerade jetzt müssen Gedenkstätten besucht werden. Wir bekommen per E-Mail viel Hass, aber auch viel Solidarität.
Was bräuchten Sie von der Politik, um den Job gut weitermachen zu können?
Ich glaube, man kann nicht von der Politik sprechen. Was die Thüringer Landesregierung betrifft, kann ich mich überhaupt nicht beklagen, dass wir nicht unterstützt werden. Auch was die finanzielle Unterstützung anbelangt. Bei der Bundesregierung sieht das schon ganz anders aus. Tatsächlich gibt es im Augenblick nicht nur bei uns, sondern in fast allen größeren Gedenkstätten großen Unmut über die Finanzierung. Bei uns sieht die Finanzierung sogar noch vergleichsweise gut aus. Andere bundesgeförderte Gedenkstätten stehen aber wirklich finanziell schlecht da. Im Augenblick beißen wir auf Granit. Es gibt zwar Sonntagsreden, aber wenn ich die Verantwortlichen an ihren Taten messe, muss ich sagen: Ich bin ganz schön enttäuscht. Fakt ist, dass die meisten Gedenkstätten finanziell seit 2019/2020 bei den gleichen Fördersummen bleiben. Bei steigenden Ausgaben allein schon mit Blick auf Lohnsteigerungen ist das de facto eine Kürzung. Und dann gibt es auch noch massive Kürzungen bei den Freiwilligendiensten. Es gibt mehrere Gedenkstätten, die, wenn es jetzt so bleibt, wie es uns vom Bund gesagt wird, im April 2024 die Bildungsarbeit einstellen müssen. Dazu kann man nur sagen: Die Finanzierung muss sichergestellt werden.
Und jenseits von Geld?
Wenn Erinnerungskultur politisch glaubwürdig vertreten werden soll, heißt das, dass es keinerlei Zusammenarbeit mit Parteien geben kann, die den Holocaust in Frage stellen oder verharmlosen. Es darf keine Zusammenarbeit mit der AfD geben! Und da habe ich, was Teile der CDU und der FDP in Thüringen anbelangt, meine Zweifel. Bald soll über das Gendergesetz abgestimmt werden, neulich haben sie gemeinsam eine Steueränderung durchgebracht. Die Brandmauer, die immer wieder aus den Reihen der CDU postuliert wird, ist mindestens in Thüringen ziemlich brüchig. Und mit Blick auf die populistischen Töne des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz scheint das auch für den Bund zu gelten. Es gibt aber auch Aufrechte wie die Ministerpräsidenten Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen und Daniel Günther in Schleswig-Holstein oder die Thüringer Bundestagsabgeordnete Antje Tillmann: Die stehen für eine CDU, wie ich sie mir wünschen würde. Ich habe überhaupt nichts gegen Konservative, ganz im Gegenteil. Aber Leute, die der AfD die Türen öffnen, sind keine Konservativen, sondern sie tragen dazu bei, dass nicht der Konservatismus siegt, sondern das Reaktionäre und das Undemokratische. Das hat mit Konservatismus nichts zu tun.
In Nordhausen haben Sie es geschafft, Leute zu organisieren, vielleicht auch zu politisieren, die das vorher nicht waren. Was brauchen oder wünschen Sie sich von der Zivilgesellschaft?
Ich würde eher fragen: Was braucht die Zivilgesellschaft von uns? Ich glaube, Unterstützung. In Thüringen sind wir gerade dabei, ein Bündnis Weltoffenes Thüringen auf die Beine zu stellen, bei dem auch die Wirtschaft mit einbezogen werden soll. Wir wollen diejenigen unterstützen, die gerade auf dem Land sitzen und sich allein fühlen, die unter Druck sind. Wir sind hier in Weimar recht gut situiert, auf einer Insel der Glückseligen. Man muss nur einmal die Stadtgrenze passieren, da sieht es schon ganz anders aus. Oder weiterfahren in den Thüringer Wald, da müssen wir den Leuten helfen, dass die sich zunächst einmal nicht allein fühlen – das ist eine Grundvoraussetzung. Und das war mein Gefühl auch in Nordhausen. Da waren manche angesichts des befürchteten AfD-Wahlsieges wie in Schockstarre, die brauchten jemanden, der sagt, das lassen wir jetzt nicht geschehen.
Meinen Sie aus diesen Netzwerken in Nordhausen, die jetzt geknüpft wurden, entsteht etwas?
Ich hoffe es! Ich hoffe, dass es nicht nur ein Strohfeuer war, sondern dass dieses Netzwerk gepflegt wird. Und dazu müssen auch wir unseren Beitrag leisten.