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Mecklenburg-Vorpommern 2015 Rassistische Gewalt nimmt drastisch zu

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Eine Quelle von Flüchtlingsfeindlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern: MVGida. (Quelle: Endstation rechts / O. Cruzcampo)

Erschienen im LOBBI-Rundbrief perspektiven 12 vom Winter 2015/16

An jedem dritten Tag ein Angriff in M-V

Statistisch gesehen kam es 2015 bisher jeden dritten Tag zu einer rechten Gewalttat. Bei einem Großteil der Angriffe handelt es sich um Körperverletzungen (59), sowie versuchte Körperverletzungen, Nötigungen und Bedrohungen (44). Aber auch (15) zielgerichtete Sachbeschädigungen bzw. Brandstiftungen hat die LOBBI bisher registriert. Nicht dazu gehören jedoch eine Vielzahl weiterer Sachbeschädigungen, die in Schadenshöhe oder Vehemenz nicht als Gewalttat einzustufen sind, oder bei denen es keine direkt Betroffenen gibt. Insbesondere Attacken auf schon bestehende oder zukünftige Flüchtlingsunterkünfte sind in der Statistik deshalb mitunter nicht erfasst. Von den mehr als 100 Angriffen waren mindestens 203 Menschen unmittelbar betroffen.

Das Dunkelfeld bleibt groß

Es ist davon auszugehen, dass es zu weitaus mehr rechts bzw. rassistisch motivierten Gewalttaten gekommen ist. Insbesondere in ländlichen Regionen mit wenig Unterstützungsstrukturen gibt es für Betroffene kaum Zugänge zu Beratungsangeboten. Außerdem ist anzunehmen, dass gerade Geflüchtete, die erst kürzlich ins Bundesland gekommen sind, nicht über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen, keine Informationen über Beratungsangebote erhalten oder schlicht zu eingeschüchtert sind, eine Anzeige zu erstatten oder sich an die LOBBI zu wenden. Aufgrund der Erfahrungen aus den Vorjahren ist es außerdem sehr wahrscheinlich, dass sich die Anzahl der bekannt gewordenen Angriffe durch Nachmeldungen nochmals erhöht.

Die Zusammenhänge sind offensichtlich

Es liegt nahe, die Zunahme der Angriffe in Zusammenhang mit der aktuellen rassistischen Mobilisierung in der Bundesrepublik zu bringen. Was als Hetze auf einschlägigen Facebookseiten und Blogs beginnt, setzt sich auf der Straße fort. Waren es auf den Aufmärschen in den ersten Monaten des Jahres vor allem »die da oben« und die »Lügenpresse«, gegen die sich der »Volkszorn« richtete, so änderte sich dies spätestens in den Sommermonaten. Immer offener wird seitdem gegen Geflüchtete gehetzt, die wahlweise als »Invasoren«, »Schmarotzer« oder »Terroristen« bezeichnet werden. Diese Stimmung animiert immer mehr Personen zu Angriffen auf Menschen, die sie für Asylsuchende halten. Mitunter zeigt sich dieser Zusammenhang auch ganz deutlich, wenn etwa in Wismar Menschen direkt nach einem Aufmarsch mit Flaschen beworfen werden oder in Schwerin eine Notunterkunft angegriffen wird.

Auf Hetze folgen Angriffe – diese Konsequenz sollten sich auch all jene Politiker_innen verdeutlichen, deren Polemik mitunter schon wieder erschreckend an die 90er Jahre erinnern. Was damals auf »Das Boot ist voll!« folgte, ist bekannt: Lichtenhagen, Mölln, Solingen. Der Landtagswahlkampf steht vor der Tür und alle demokratischen Parteien sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein!

Gemeinsame Forderungen 

Rassistische Gewalt hat 2015 nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern in den meisten Bundesländern deutlich zugenommen. Das Bundestreffen aller Mitgliedsorganisationen des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt formulierte deshalb Anfang Oktober konkrete Forderungen. Die Berater_innen fordern eine konsequente, strafrechtliche Verfolgung, die Rassismus als Tatmotiv nicht voreilig ausschließt und die die Schilderungen von Betroffenen und Zeug_innen ernst nimmt. Sie verlangen die Einhaltung  von Opfer- bzw. Zeugenschutzstandards, wie das Recht auf Anonymisierung der persönlichen Daten von Betroffenen,  professionelle Übersetzung bei Anzeigeaufnahme und Zeug_innenvernehmungen oder  Hinweise auf spezialisierte Opferberatungsstellen durch Ermittlungsbehörden. Einig sind sie sich auch, dass die Kapazitäten der unabhängigen Opferberatungsstellen dem gestiegenen Bedarf und den komplexeren Aufgaben angepasst werden müssen. Dies gilt ganz besonders für viele westdeutsche Bundesländer.

Endlich Konsequenzen ziehen 

»Die Opfer abschieben, heißt die Täter_innen zu unterstützen.« So begründet  der Verband der Beratungsstellen eine seiner Hauptforderungen. Diese ist nicht neu. Schon seit Jahren fordern die Berater_innen ein Bleiberecht für Betroffene rechter Gewalt. »Ein sofortiges und dauerhaftes Bleiberecht für alle Betroffenen rassistischer Gewalt ist unbedingt notwendig, und zwar unabhängig von den Folgen der Tat – nicht nur wegen der juristischen Verfahren. Es ist vor allem ein politisches Signal an die Täter_innen, dass ihre politischen Ziele nicht nur geächtet werden, sondern auch nicht durch Abschiebungen durchsetzbar sind.« Dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker_innen und Engagierte: »Einige wünschen mir den Tod an den Hals«

Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker_innen sind auch in Mecklenburg- Vorpommern zum Alltag geworden. Schwerins Oberbürgermeisterin Gramkow wird lautstark auf Einwohner_innenversammlungen beschimpft, weil sie sich klar gegen anwesende Rassist_innen positioniert. Rostocks Sozialsenator Bockhahn wird im Internet mit dem Tod bedroht, weil er sich für eine menschenwürdige Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden ausspricht. Karen Larisch, Güstrower Stadtvertreterin und Mitglied des Kreistages wird über Monate von örtlichen Neonazis bedroht, beleidigt und angegriffen, weil sie in der Stadt lebende Geflüchtete unterstützt. Viele weitere Beispiele wurden bisher nicht öffentlich thematisiert, meistens deshalb, weil die Betroffenen dies nicht wünschen. In den jeweiligen Kommunen sind diese dennoch Thema: auf der Straße, im Verein oder in politischen Kreisen. Klare Positionierung auf der Seite der Betroffenen? Meist Fehlanzeige.

»Auch wir stehen im Fokus«

Sich ehrenamtlich für Geflüchtete zu engagieren, ist für viele Menschen im Bundesland selbstverständlich geworden. Was für ein gesellschaftlicher Fortschritt gegenüber den 90er und frühen 2000er Jahren! Weniger selbstverständlich ist es jedoch, dieses Engagement öffentlich zu machen. Viele Helfende mussten selbst erleben, wie viel Ablehnung oder gar Hass ihnen in der Nachbarschaft oder im Internet entgegenschlägt, andere kennen zumindest Berichte über solche Geschehnisse. Fotos, Namen oder Adressen von Mitgliedern örtlicher Willkommensinitiativen werden veröffentlicht, Reifen zerstochen, Häuser beschmiert und Drohbriefe verschickt. Einige Betroffene machen solche Vorfälle öffentlich oder stellen Strafanzeigen, andere finden Halt und Solidarität im persönlichen Umfeld. Viele ziehen sich jedoch zurück und werden gar nicht erst aktiv, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollen.

»Alle an die Wand stellen!«

Warum werden Menschen angefeindet, die ehrenamtlich Deutsch unterrichten, in Notunterkünften helfen oder viel Engagement als hauptamtliche Betreuer_innen zeigen ? Die Vorwürfe der Rassist_innen ähneln sich immer wieder: Ihr sorgt dafür, dass »die« sich hier wohlfühlen. Deshalb kommen immer mehr von »denen«. Damit fallt Ihr »eurem Volk« in den Rücken.

Aufmärsche in einer bisher nicht gekannten Frequenz sorgen für ein neues Selbstbewusstsein der selbsternannten »Patrioten«. Hunderte Facebookseiten liefern täglich neues Futter für offenen Rassismus und bieten Raum für Vernichtungsphantasien. Die Folgen bekommen vor allem Betroffene rassistischer Gewalt zu spüren, die immer öfter beschimpft, bedroht und attackiert werden. Aber eben auch all jene, die sich an deren Seite stellen.

»Seien Sie froh, dass Ihr Auto nicht brennt!«

Mit praktischer Hilfe können die Betroffenen nur selten rechnen, oft nicht mal mit Verständnis für ihre Situation. Vielmehr wird ihnen vorgeworfen, sich aufzuspielen, selbst schuld an der Situation zu sein, oder ihre Glaubwürdigkeit wird in Frage gestellt. Kommunalpolitiker_innen, die öffentlich machen, was ihnen widerfahren ist, müssen sich anhören, dass sie das Ansehen der Kommune beschädigen. Vorfälle werden bagatellisiert oder umgedeutet. Polizeibeamte wirken genervt, wenn sie schon wieder eine Strafanzeige entgegennehmen sollen, oder konfrontieren Betroffene  gar mit Statements wie: »Also wenn ich das gewesen wäre, hätte ich einen Molotowcocktail genommen.« (mehr bei Lobbi e.V.)

Rechtsextreme und rassistische Aufmärsche

Seit August finden in Mecklenburg-Vorpommern rassistische Aufmärsche in einer bisher nicht gekannten Frequenz statt. Alleine im Oktober gab es mindestens 36 solcher Veranstaltungen, an denen sich jeweils mehrere Hundert Personen beteiligten. In kaum einer Stadt im Bundesland liefen die selbst ernannten »Patrioten« noch nicht  auf. Das Ergebnis: fast überall eine extrem aufgeheizte Stimmung und eine drastische Zunahme rechter Gewalt. Bei MVGida üben Rechtspopulist_innen, Flüchtlingsfeinde und Neonazis den Schulterschluss, aber auch die AfD und die „MV.Patrioten“ brachten diese Menschen auf die Straße. Mehr dazu bei Lobbi e.V.

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