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Jahresrückblick 2021 Niedersachsen – GMF als Alltag

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Nicht so viel los: Einsatzkräfte der Polizei sichern eine Demonstration der Bewegung „Es reicht!“ auf dem Trammplatz in Hannover im März 2021. (Quelle: picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich)

Auch 2021 zeigte sich in Niedersachsen ein durchwachsenes Bild der extremen Rechten: Einerseits konnten rechte Parteien von AfD über „Die Basis“ bis zur NPD und „Die Rechte“ bei den Kommunalwahlen keine nennenswerten Stimmanteile erzielen. Auch Aufmärsche oder Veranstaltungen mit überregionaler Bedeutung blieben aus, Demonstrationen der Querdenken-Bewegung wurden zusehends kleiner. Andererseits konnten sich viele Strukturen innerhalb Niedersachsens weiter verfestigen. Beispiele hierfür sind neben einer landesweit etablierten AfD u.a.  auch die aus den sog. Corona-Protesten hervorgegangenen verschwörungsideologischen Strukturen im Nordwesten, vor allem mit dem Landessitz der Partei „Die Basis“ in Oldenburg (Oldb.), der weitere Ausbau des NPD-Zentrums in Eschede auf einem Hofgelände im Nordosten sowie die aktive neonazistische Szene im Süden Niedersachsens. In den Beratungsanfragen an die Mobile Beratung Niedersachsen spiegelt sich außerdem eine Zunahme von antisemitischen, rassistischen und extrem rechten Angriffen, Bedrohungen und Beschimpfungen wider. Extrem rechte AkteurInnen sind durch verstärkte Propaganda und durch die zunehmende Aufweichung zur sog. „Mitte der Gesellschaft“ nicht nur präsenter, vielmehr lässt sich auch eine durch die verschwörungsideologischen Proteste verstärkte Radikalisierung feststellen. Angriffe und Bedrohungen erfolgen nunmehr nicht nur unter anderem aus antisemitischen, rassistischen, antifeministischen und sozialdarwinistischen Gründen, vielmehr sind auch vermehrt Journalist:innen, Ärzt:innen, Wissenschaftler:innen und kommunale Verwaltungen Zielscheibe für Angriffe und Bedrohungen. Die verschwörungsideologischen Proteste und die weitere Etablierung extrem rechter Strukturen in Niedersachsen verschiebt den öffentlichen Diskurs weiter nach rechts: vielerorts gehören Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und Antifeminismus zum Alltag.

Bevor ein tieferer Blick in die einzelnen Regionen Niedersachsens geworfen wird, sei bereits an dieser Stelle auf die vielzähligen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Initiativen und engagierten Einzelpersonen hingewiesen, die sich sowohl in den großen Städten als auch auf dem Land beinahe täglich gegen die rechten Umtriebe einsetzen. Trotz zahlreicher Bedrohungen und den durch Covid-19 erschwerten Bedingungen lässt sich diese Zivilgesellschaft nicht einschüchtern und steht für eine bunte demokratische Gesellschaft ein. Vielen Dank für das Engagement!

Der Nordwesten

Im Nordwesten ist eine zunehmende Vernetzung zwischen militanten Neonazis, Hooligans, Türstehern und Rockern feststellbar. Militante Kameradschaften spielen hingegen nur noch eine geringe Rolle. Auch in dieser Region kam es zu Vorkommnissen rechter Gewalt:

So wurde im März ein 29-Jähriger vom Landgericht Aurich wegen versuchten Mordes aus rassistischen Motiven zu 9 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Das Umfeld des Angeklagten tätigte Falschaussagen vor Gericht, um den Täter zu entlasten. Auf dem Mobiltelefon des Angeklagten fanden sich außerdem rechtsextreme Bilder sowie rassistische Sprachnachrichten in Chats. Im April kam es in Syke am Rande einer Demonstration zu einem Angriff auf zwei Personen. Nachdem sie gefragt wurden, ob sie zur „Antifa“ gehören, wurden sie von mehreren Rechten mit Pfefferspray attackiert und ins Gesicht geschlagen. Im Juni wurden zwei Brandsätze auf dem Gebäude der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Blankenburg (bei Oldenburg) gezündet. Eine rassistische Motivation liegt nahe und sollte durch die Ermittlungsbehörden umfassend aufgeklärt werden. Eine zunehmende Gewaltbereitschaft ist auch im verschwörungsideologischen Spektrum festzustellen. Zwar nahmen die Teilnahmezahlen bei Veranstaltungen kontinuierlich ab, dafür wurden diejenigen, die geblieben sind zunehmend radikaler: So wurden in einer Wilhelmshavener Telegram-Gruppe Gewaltphantasien gegen den Wilhelmshavener Bürgermeister und ein Logenhaus geteilt. In Wallenhorst und in Bramsche mussten Arztpraxen polizeilich geschützt werden, nachdem ein Arzt Morddrohungen erhielt, weil er eine Impfgegnerin nicht mehr behandeln wollte. Auch beim Brandanschlag auf das Delmenhorster Rathaus im März kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Tat durch verschwörungsideologische Diskurse beeinflusst wurde. Der Täter gab als Motiv für die Tat Unzufriedenheiten mit den Corona-Regelungen an.

Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten an verschiedenen Orten, wie beispielsweise in Bündnissen und Arbeitsgemeinschaften.

Der Nordosten

Im Nordosten werden die ländlichen Räume von (extrem) Rechten als Rückzugsräume genutzt, um ihre Kinder im Sinne ihres völkischen Ideals erziehen zu können und Vernetzungsorte für die rechtsextreme Szene bereitzustellen. Einzelpersonen wie z.B. Nachbar:innen, aber auch regionale Bündnisse, pädagogische Einrichtungen und ganze Dorfgemeinschaften sehen sich mit diesen zunächst oft harmlos auftretenden „Völkischen Siedler:innen“ konfrontiert und suchen präventive oder akute Unterstützung. Diese Gruppierung ist eine der größten rechtsextremen Bewegungen im Norden und sehr gut mit anderen (extrem) rechten Akteur:innen vernetzt, es bestehen personelle Überschneidungen zur AfD, der Identitären Bewegung und zu rechtsterroristischen Gruppen, wie z.B. einer Wehrsportgruppe im Raum Lüneburg.

Der NPD-Hof in Eschede wurde 2021 weiter ausgebaut – Beobachter:innen befürchten dadurch eine Stabilisierung der lokalen und überregionalen Szene und weitere Einschüchterungsversuche gegenüber Kritiker:innen.

Bei den Kommunalwahlen haben extrem rechte Parteien im Nordosten nicht allzu gut abgeschnitten. So verlor die AfD in allen Wahlkreisen Stimmen. Die Wahlergebnisse der NPD sind weiterhin kaum von Bedeutung, sie konnte lediglich einen Gemeindesitz (Bardowick) erobern. Auch das NPD-Mitglied, das in Eschede als Einzelwahlkandidat antrat, konnte keinen nennenswerten Stimmenanteil erhalten. Der neuen, verschwörungsideologischen Partei „Die Basis“ gelang es dagegen in mehreren Gemeinde- und Kreisräten Sitze zu gewinnen.

In mehreren Orten kam es 2021 zu verschwörungsideologischen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, auf denen demokratiefeindliche und die Shoa relativierende Äußerungen fielen und an denen extrem rechte Akteur:innen – vor allem aus dem Reichsbürger:innenmilieu – teilnahmen. Außerdem ist eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltorientierung der Szene zu beobachten. So wurde zum Beispiel in Rotenburg (Wümme) ein Geschäftsinhaber durch eine Frau verletzt, als er sie aufforderte, in seinem Geschäft eine Maske zu tragen. Darüber hinaus sind insbesondere Schulen Angriffen aus dem Querdenken-Milieu ausgesetzt.

Rassistisch motivierte Gewalttaten wie die Brandanschläge auf das Restaurant „Hexenkeller“ in Gnarrenburg sowie auf Geflüchtetenunterkünfte (z.B. Buxtehude) müssen endlich aufgeklärt und als solche benannt werden. Auch im Hinblick auf die tödlichen Polizeischüsse auf Geflüchtete (LK Stade) sind viele Fragen noch unbeantwortet.

Der Süden

Im Süden Niedersachsens ist eine zunehmende partei- und spektrumsübergreifende Vernetzung der extremen Rechten festzustellen. So war die Stadt Braunschweig auch 2021 mit zahlreichen neonazistischen Demonstrationen und Kundgebungen weiterhin Schwerpunktregion in Südniedersachsen. Zu Veranstaltungen aufgerufen hat hier meist die lokal sehr aktive Kreisgruppe Braunschweig-Hildesheim der Kleinstpartei „Die Rechte“, Teilnehmende kamen hier aus unterschiedlichen organisatorischen Zusammenhängen. Im November meldeten auch die „Jungen Nationalisten“ ein geschichtsrevisionistisches Heldengedenken an, das ebenfalls organisationsübergreifend besucht wurde. Teilnehmende der Veranstaltungen waren in der Regel von Personen aus der Großregion Südniedersachsen sowie Sachsen-Anhalt und Thüringen. Neben Versammlungen und zahlreichen Infoständen war das Jahr in Braunschweig geprägt von zahlreichen Einschüchterungen, Bedrohungen und Angriffe gegenüber Menschen und Verbänden, die aufgrund ihres menschenrechtsorientierten Engagements als Feindbilder markiert wurden.

Einen Höhepunkt extrem rechter Aktivitäten stellte der Kommunalwahlkampf 2021 dar, bei dem „Die Rechte“ mit einem eigenen Oberbürgermeister-Kandidaten für Braunschweig und die NPD mit einem Kandidaten für Goslar antreten wollten. Insgesamt schnitten rechte Parteien bei den Kommunalwahlen in den Landkreisen und Kreisfreien Städten im Süden schlecht ab. Lediglich in Wolfsburg und in Salzgitter gelang der AfD ein höheres Ergebnis. Die erstmals angetretene verschwörungsideologische Partei „Die Basis“ konnte in mehrere Räte einziehen.

Die verschwörungsideologischen Proteste aus dem „Querdenken“-Spektrum haben zudem in Südniedersachsen im zweiten Jahr der Covid-19 Pandemie vorerst an Mobilisierungskraft verloren. Zum Jahresende sind jedoch viele Versammlungen, oftmals als „Spaziergänge“ zu beobachten, die auch vermehrt in Klein- und Mittelstädten stattfinden. Zudem ist eine zunehmende Radikalisierung der Teilnehmenden der Proteste zu beobachten. So kam es zu Angriffen auf Journalist:innen am Rande von Veranstaltungen sowie zu eindeutig antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Äußerungen auf Veranstaltungen und in Telegram-Gruppen.

Zu betonen ist jedoch: In vielen Orten Südniedersachsens stellte sich eine solidarische Zivilgesellschaft der extremen Rechten kraftvoll entgegen und trat mit Veranstaltungen und vielfältigen Aktionen für menschenrechtsorientierte Positionen ein.

 

Mehr über die aktuelle Situation und zu Gegenstrategien finden Sie bei der Mobilen Beratung Niedersachsen:

 

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