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Jüdische Nachkriegserfahrungen in Ostdeutschland Zwischen Loyalität, Verzweiflung und Dissidenz

Geschichtsschreibung ist noch immer die Geschichte der Mehrheit, könnte man in Abwandlung einer Redensart sagen. Doch die Erfahrungen von Minderheiten erlauben eine neue Sicht auf das scheinbar Bekannte. Ein Blick auf die DDR aus jüdischer Perspektive.

 
Cover des Buches "Juden in der DDR", herausgegeben von Martin Jander und Anetta Kahane. (Quelle: Hentrich & Hentrich)

In der S-Bahn, Berlin-Pankow. „Entschuldigung, aber als ich Ihr Buch vorhin sah – der Titel: Das klingt so bedrohlich.“ Ehe ich nachfragen oder reagieren konnte, war die Frau aus der Bahn ausgestiegen. Sie hatte nett und verwirrt geklungen, doch was in ihrem Kopf angesichts des Titels „Juden in der DDR“ vorgegangen war, war offenbar etwas ganz anderes als die Geschichte, von der das Buch in meiner Hand berichtete. Es zeigt zugleich, wie tief das verschwörungsmythische Denken über Juden und ihre Rolle in der Welt nach wie vor sitzt. Die DDR konnte hier an sehr alte Traditionen anknüpfen und hat sie uns bis ins Heute vererbt.

Dabei waren die jüdischen Gemeinden in der DDR winzig, vielerorts bekamen sie nicht einmal das Minjan (die für den Gottesdienst nötige Zahl von zehn religiös mündigen Juden) zusammen. Die Synagogen verfielen. Und für jüdische Künstler:innen, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und sozial Engagierte war und wurde das Leben in der DDR zusehends enger. Ihre Auswege und Strategien im Umweg damit variierten enorm. Davon, von äußeren Verfolgungen, Aufbegehren und inneren Emigrationen erzählt der von Anetta Kahane und Martin Jander zusammengestellte Band in 16 Porträts jüdischer Persönlichkeiten. Menschen, die mit Hoffnung auf eine neue Gesellschaft nach der Shoah in den Osten Deutschlands zurückkehrten, um diese Gesellschaft mit aufzubauen. Und die erleben mussten, wie der neue Staat sich zunehmend gegen sie wandte, immer offener antisemitisch agierte und sie ihrer Stimme beraubte: Die DDR, die sich als Nachfolgestaat des antifaschistischen Widerstands gerierte, begann schon früh in der Nachkriegszeit mit politischen „Säuberungen“, erst indirekt, innerhalb der kommunistischen Partei, und dann zunehmend in alle gesellschaftlichen Sphären greifend.

Die Autor:innen des Bands haben sich einer schwierigen Aufgabe gestellt: die Zerrissenheit der Betroffenen zwischen Loyalität und Freiheitsstreben, zwischen dem Glauben an die neue Gesellschaft und Selbstbehauptung angesichts von Verleumdung und Verfolgung zu schildern. Ihre Berichte sind umso wichtiger, als die Erinnerung daran, was unterdrückte (Meinungs-)Freiheit bedeutet, wie sie aussieht und sich anfühlt, im Osten zunehmend zu verschwimmen droht, vor allem auch durch unsägliche Gleichsetzungen von Diktatur und Pandemiemaßnahmen in jüngster Zeit. Wie gestaltete sich also jüdischer Widerstand gegen die Diskriminierung, den Antisemitismus und Antizionismus in der DDR? Wie äußerte sich jüdische Dissidenz? Dies sind die Fragen, denen die 16 Verfasser:innen der Porträts nachspüren.

Besonders Autor:innen wie Anja Thiele (über Fred Wander) und Anetta Kahane (über Victor Klemperer) gelingt es dabei, den Bogen vom Biographischen zu grundlegenden Fragen der Geschichtsrezeption und -forschung zu schlagen – Fragen, deren Weiterverfolgung sehr zu wünschen ist. Nicht alle Beiträge sind von solcher Stringenz; was etwa Saskia Thieme (über Arnold Zweig) berichten wollte, bleibt unklar bis auf einen Kernsatz, dessen Genese und biographischer Niederschlag jedoch nicht wirklich ersichtlich wird. Die Schwierigkeit, anhand v.a. literarischer Zeugnisse biographisch zu erzählen, zu interpretieren und wissenschaftlich einzuordnen, beschreibt Agnes C. Mueller (über Barbara Honigmann) sehr anschaulich im Schlussbeitrag. Diese Schwierigkeit wird verstärkt durch den Filter der eigenen Erfahrungen und Sichtweisen der Autor:innen – und macht die Lektüre umso spannender. So liest Jürgen Nitsche (über Stefan Heym) den „König David Bericht“ aus vornehmlich jüdischer Perspektive – und überlässt es zeitgenössischen Leser:innen, ihre Erinnerung an die intensiven (wenn auch nicht öffentlichen) Debatten über das Buch als zugleich nachdrückliche DDR- und Macht-Kritik zu ergänzen.

Mit diesem Facettenreichtum bietet der Sammelband Anregungen für eine Vielzahl wichtiger Diskussionen und Fragestellungen. Und er macht Lust auf mehr: Porträts weiterer Persönlichkeiten und auf Lesungen und Gespräche darüber, wie wir tief verwurzelte antisemitische Traditionen in Ost und West überwinden können.

Anetta Kahane und Martin Jander (Hrsg.):
Juden in der DDR.
Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Porträts.
Hentrich & Hentrich 2021
224 Seiten
24,90 Euro

https://www.hentrichhentrich.de/buch-juden-in-der-ddr.html

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