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Kommentar 365 neunte November im Jahr

Es ist verlogen, das ganze Jahr über Antisemitismus zu dulden, aber dann mit betroffener Mine am neunten November der toten Juden und der anderen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Um etwas zu tun, hat das Jahr 365 Tage. Und nicht nur einen.

 
Anetta Kahane ist Senior Consultand und ehemalige Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung.

Kampagnen und Rituale, so scheint es, haben wenig Sinn. Sie versuchen kurzzeitig für etwas Interesse zu wecken, das sonst kaum oder zu wenig Beachtung findet. Meist ermahnen sie uns, auch außerhalb der Kampagnenphase das zu bedenken, wozu alle Aufrufe auffordern. Eine besonders kampagnenintensive Zeit ist für uns der November. In diesem Monat wird auch der Pogrome von 1938 gedacht, bei denen überall in Deutschland Synagogen zerstört und Juden aus ihren Häusern getrieben, beschimpft, geschlagen und getötet wurden. Es war der Prolog zum größten vorstellbaren Verbrechen – der systematischen Abschlachtung von Millionen Menschen, weil sie in eine hassgetriebene Ideologie nicht passten.

Ehrlich gesagt, tut es mir weh, wenn ich gerade in dieser Zeit und zu diesem Anlass immer wieder verächtliche, aber angeblich gut gemeinte Bemerkungen zum ritualisierten Gedenken höre. „Gedenkmarathon“ oder „Kranzabwurfmonat“ sind nur zwei dieser Begriffe. Was daran „gut gemeinte Kritik“ ist, lässt sich leicht erklären und kann durchaus als einleuchtend bezeichnet werden. Ein Ritual hat nur dann einen Sinn, wenn es etwas symbolisch auf den Punkt bringt, was auch sonst im Leben eine Rolle spielt. Zurecht gilt als verlogen, das ganze Jahr über Antisemitismus zu dulden oder gar selbst in abgewandelter, moderner Form zu praktizieren, dann aber mit betroffener Mine am neunten November der toten Juden und der anderen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.

Dennoch bedeutet das Gedenken – auch im Ritual – einen moralischen Rahmen zu setzen, wie Deutschland mit dem Erbe seiner Vergangenheit heute als demokratischer Rechtsstaat umgeht. Hierin liegt die ständige Aufgabe, den Koordinaten des Grundgesetzes, die im Ritual um den neunten November ihren Ausdruck finden, in allen Lebensbereichen Geltung zu verschaffen. Und das gerade auch beim Schutz der Minderheiten vor Willkür, Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Hass – jeden Tag und oft gegen erheblichen Widerstand. Deshalb ist es auch richtig, jeden Tag einzufordern, dass Rechtsextremismus nicht als Randproblem behandelt werden darf, Antisemitismus wenn er sich zeigt, bagatellisiert oder geleugnet und Rassismus ignoriert oder weg gelogen wird.

Verstoß gegen die Koordinaten von Grundgesetz und Gedenken

Das gilt in der großen Staatspolitik ebenso wie im Alltagsdetail. Und auch im Vergleich miteinander. Gute Geschäfte mit erklärten antisemitischen Holocaustleugnern zu machen verstößt gegen die Koordinaten von Grundgesetz und Gedenken! Egal ob es sich dabei um den Handel mit einer miesen, antisemitischen CD geht, bei dem sich Nazi-Kameraden bereichern oder um den großen Deal mit dem iranischen Regime, das keine Gelegenheit auslässt, die Juden und Israel mit dem Tod zu bedrohen.

Das Kranzniederlegen hilft auch nicht mehr, wenn Politiker jene Bewohner von Mügeln oder anderenorts entschuldigen, die Opfern rechter Gewalt die Hilfe versagten. Es hilft nicht, wenn Lehrer bei Rufen ihrer Schüler wie „Juden vergasen“ weghören oder Fußballvereine nichts gegen rassistische und antisemitische Hetze großer Gruppen in den Stadien wissen wollen.

Nun, wir lassen die Koordinaten aber nicht los. Wir nennen das Verlogene verlogen und das Gelungene gelungen und unterstützen andere, die das ebenso tun. Und wir bestehen darauf, dass weiter Kränze niedergelegt werden – das wäre ja noch schöner, sich wegen des Streits um Demokratie im Alltag gleich des Gedenkens mit zu entledigen. Nein, das kommt nicht in Frage.

Diesen Monat haben wir dazu auch wieder einiges zu sagen – so wie jeden anderen Monat und doch mit Nachdruck, denn wir stehen zur Geschichte und reden uns nicht raus. Nachlesen können Sie es auf dem neu gestalteten Portal „Mut gegen rechte Gewalt“. Eine der kommenden Titelgeschichten wird sich um den sächsischen Demokratiepreis drehen, den wir am neunten November verleihen und um die Eröffnung der Aktionswochen, die auch in diesem Monat stattfinden. Antisemitismus und Rechtsextremismus ist für uns immer Thema. Das ganze Jahr. Und besonders im November.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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