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Neoliberale Märchen Harry Potter und die reaktionäre Weltsicht von JK Rowling

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Sebastian Schuller sagt, wir müssen die beliebte Romanreihe um Harry Potter eigentlich als Manifest des Neoliberalismus lesen.  (Quelle: Pixabay)

Harry Potter war ein Fixpunkt meiner Kindheit und Jugend. Seit 1998 der erste Band, Harry Potter und der Stein der Weisen auf Deutsch erschien, hat mich die Zauberwelt des Waisenjungen aus Großbritannien in den Bann geschlagen. Viele Millennials werden diese Erfahrung teilen: In vielerlei Hinsicht war Harry Potter ein globales, literarisches Ereignis. In über 80 Sprachen übersetzt, wurden manche Romane der Reihe mehr als 500 Millionen Mal verkauft. Es entstanden globale fanfiction Subkulturen, Filmreihen, Videospiele und ein Freizeitpark. Und mehr: Harry Potter war ein Symbol meiner Generation. Mit dem Kampf des „Jungen, der überlebte“, gegen den größenwahnsinnigen Lord Voldemort konnten sich viele politische Aktivist*innen identifizieren, gerade im linksliberalen Milieu wimmelte es nur so von Harry Potter Bezügen. 

Kobold-Rebellion und Antisemitismus

Doch seit Jahren verbreitet sich Unbehagen in der Fan-Community. Anlass dazu gaben zunächst Äußerungen Rowlings: Die Autorin positionierte sich seit spätestens 2018 immer wieder auf Seiten von sogenannten RadFems, also einer feministischen Strömung, die auf einem strikt binären Geschlechtsmodell beharrt. Immer wieder wurden Rowlings Wortmeldungen in diesem Zusammenhang als mehr oder minder codierte Transfeindlichkeit interpretiert. Und auch der Inhalt des von ihr geschaffenen Harry-Potter-Universums wird zunehmend problematisiert. Insbesondere die Darstellung von Kobolden. Rowling beschreibt diese als kleine, hakennasige Kreaturen, die mit großer Geldgier das magische Finanzwesen kontrollieren. Hier nicht den Nachklang übler, antisemitischer Karikaturen zu erkennen, ist schlicht unmöglich.

In dem groß angekündigten Videospiel Hogwarts Legacy sollen die Spieler*innen, den Gerüchten zufolge, eine Revolution der Kobolde niederschlagen. Diese, auch das spricht Bände, leben nämlich in gesonderten Gemeinschaften und sind als quasi-Rechtlose von der Zauberergesellschaft ausgeschlossen. Immer wieder, so erfahren wir schon in den Harry-Potter-Romanen, rebellierten die Kobolde gegen diese Diskriminierung, was stets mit ihrer massenhaften Massakrierung endete. Dass Spieler*innen von Hogwarts Legacy also aus der Ich-Perspektive eine solche Rebellion niederschlagen, und die Kobolde mit magischer Gewalt auf ihren Platz zurückverweisen sollen, stößt darum vielen Fans übel auf. Es offenbart sich hier für viele ein zutiefst reaktionäres Weltbild, das durch die Hintertür rassistische und antisemitische Ansichten verbreitet. 

Nun könnte mensch es durchaus bei dieser Kritik belassen, und sich darüber unterhalten, wie Antisemitismus als „kultureller Code“ Kinder- und Jugendmedien beeinflusst. Doch wird in der aktuellen Debatte um das Videospiel übersehen, dass längst nicht nur die Darstellung von Kobolden in Rowlings Fantasien problematisch ist. Unter der Oberfläche der heilen Zauberwelt ist eine zutiefst reaktionäre, neoliberale Weltanschauung am Werk.  Nichts offenbart dies besser, als ein Blick auf die beliebten Romane selbst.

Die Magie der 50er Jahre: Der soziale Konservativismus in Harry Potter

Eigentlich sind die Harry Potter Romane, abgesehen von der Magie, typische Vertreter der sogenannten Boarding School Fiction. Dieses Genre existiert fast ausschließlich in der britischen Kinder- und Jugendliteratur und richtet sich auch vor allem an die jugendlichen Internatsschüler*innen im UK, deren Erfahrungen hier reflektiert werden. Da es in Großbritannien üblich ist, dass die gesellschaftliche Elite ihre Nachkommen nicht auf öffentliche Schulen schickt, sondern in Privatinternaten unterrichten lässt, ist dieses Genre dabei häufig mit dem konservativen Elitismus dieser Schicht verbunden. 

Schon die Grundprämisse der magischen Welt, in der Harry Potter aufwächst, spiegelt dies wider. Magie wird hier nicht durch geheimes Wissen erworben, oder gar durch einen Pakt mit übernatürlichen Wesen, sondern ist eine Frage des Blutes. Entweder verfügt ein Kind über das magische Gen, oder eben nicht. Entsprechend gelangen meist Sprösslinge magischer Eltern nach Hogwarts. Natürlich gibt es, wie etwa Hermine, die beste Freundin von Harry Potter, hin und wieder Nachkommen von nicht-magischen Menschen (die abwertend als Muggel bezeichnet werden), mit magischen Begabungen. Doch auch diese haben ihre Fähigkeiten von Geburt an. Anders gesagt entscheidet nichts als die Geburtenlotterie, wer nach Hogwarts darf und wer nicht.

Dies trifft sich natürlich mit dem Konservativismus, der (nicht nur) von Großbritanniens Elite und Aristokratie geteilt wird. In dieser Weltsicht hat jede*r einen festen Platz im sozialen Gefüge, schlicht aufgrund von genetischen Anlagen. Wer zum kleinen Kreis der Elite gehört (und also seine*ihre Kinder nach Eton und Co. schickt), hat es eben im Blut. Die Natur (und nicht etwa eine auf Ungleichheit beruhende Gesellschaft) bestimmt die Fähigkeiten und das Los des Individuums. Und so bleibt für diejenigen, die nicht zur magischen Welt der Reichen und Schönen gehören, eben nichts als sehnsuchtsvoll nach oben zu blicken, und die Verhältnisse zu akzeptieren, an denen, da sie naturgegeben sind, nichts geändert werden kann.

In einer solchen Weltanschauung haben Menschen, die ‚anders‘ sind, keinen Platz. Die britische Aristokratie hat so bis heute, wie sich am Umgang mit Meghan Markle zeigt, die Angewohnheit, Menschen, die aufgrund ihrer Identität nicht zum elitären Selbstverständnis passen, auszusondern. Genauso werden in Harry Potter Zauberer*innen, die ohne magische Fähigkeiten geboren wurden, als ‚Squibs‘ („Knallfrösche“) verunglimpft und aus der Zauberwelt ausgeschlossen. Die magische Welt ist eben nicht für alle offen.

Und mehr: Sie ist durch und durch heteronormativ. 

Diese Aussage muss überraschen, da die Romane eine große, queere fanbase angezogen haben, die sich im Kampf Harrys, der von Geburt an ‚anders‘ ist, wiedererkennen konnten.  

Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hogwarts weder divers noch queer ist. Ganz im Gegenteil: Es wäre zu erwarten, dass in einer Schule voller magisch begabter Teenager, Romanzen, Affären und Liebesdramen eine große Rolle spielen. Doch Harry Potter ist komplett sexlos. Abgesehen von einigen unschuldigen Szenen gibt es in der Reihe ausschließlich monogame, heterosexuelle, und tiefemotionale Liebesbeziehungen, die immer in der Ehe mit Kindern enden. Identitätskrisen, homosexuelle Erfahrungen, Ausprägungen von Transidentität, usw., also alles, was von der heterosexuellen Norm abweicht, sucht mensch ganz vergebens. (Ganz stimmt dies nicht: Die psychotische Schwarzmagierin Bellatrix Lestange unterhält wohl eine Art außereheliche Beziehung mit Voldemort – doch handelt es sich hier wohl nicht um ein Vorbild, dem nachzueifern der Text nahelegt.)

Natürlich: Lange nach dem Erscheinen des letzten Romans hatte Rowling Albus Dumbledore, Direktor von Hogwarts, zum Homosexuellen erklärt. Doch in den Romanen wird dies mit keinem Wort erwähnt; queere Liebesszenen, und sei es nur ein Kuss auf die Wange, fehlen in Büchern wie Filmen komplett. Hogwarts ist damit die Traumerfüllung all jener, die zurück in die 50er Jahre wollen. Alle seine Schüler*innen befolgen brav die Normen einer Gesellschaft, in der Jugendliche maximal Händchen halten und Erwachsene ausschließlich Reproduktionssex im Ehebett ausüben. 

Die Welt als Konsum und Wettbewerb

Die Welt, die Rowling erschaffen hat, ist also die Idealwelt eines radikalen Konservativismus. Gesellschaftliche Beziehungen sind naturalisiert, Abweichung von der heteronormativen Prüderie undenkbar. Gleichzeitig aber kann diese Welt nur durch Konsum und Wettbewerb erfahren werden. 

Der britische Literaturwissenschaftler Suman Gupta bemerkte dies bereits 2003 in „Re-Reading Harry Potter“. Hier untersucht Gupta eine zentrale Szene im ersten Band der Reihe, nämlich den Moment, in dem Harry Potter zum ersten Mal die magische Winkelgasse und damit die Zauberwelt betritt. In dieser Szene lernen Harry Potter und wir als Leser*innen die magische Parallelgesellschaft kennen – doch anstatt uns das Aussehen der Zauberer und Hexen, ihr Verhalten, ihre soziale Interaktion, etc. zu erklären, beschreibt Rowling über Seiten ausschließlich magische Produkte und Werbungen. Wir lernen während des ersten Besuchs von Harry nichts über die Strukturen der magischen Gesellschaft, sehr wohl aber über magisches Kaufverhalten, Geschäfts- und Bankwesen. Die Welt ist nur durch den Konsum erfahrbar. 

Die Entsprechung zu dieser Konsumorientiertheit ist der Wettbewerbsfetisch, der die magische Gesellschaft ordnet. Hogwarts funktioniert wie ein Großunternehmen, in dem Abteilungen, die ‚Häuser‘ der Schüler*innen, miteinander ununterbrochen um Punkte konkurrieren. Pädagogische Maßnahmen beschränken sich meist darauf, Leistungen von Schüler*innen mit Punkten für das jeweilige Haus zu belohnen. Die Schüler*innen assoziieren sich nur über diesen Wettbewerb, der sich fortsetzt in den Quidditch-Wettkämpfen, dem internationalen Trimagischen Turnier und sogar in den Schulprüfungen, die mehr wie Quizshows oder Hindernisparcours denn Examen aufgebaut sind. Es gibt in Harry Potter im Grunde nichts, als absoluten Wettbewerb. 

Ein Manifest des Neoliberalismus – für Kinder

In diesem Sinne müssen wir die beliebte Romanreihe eigentlich als Manifest des Neoliberalismus lesen. 

Der Weltanschauungsneoliberalismus, wie ihn etwa der österreichische Aristokrat Friedrich von Hayek begründet hat, basiert ganz wesentlich auf konservativen Wertevorstellungen und offenem Sozialdarwinismus. Von Hayek, der sich übrigens zeitlebens offen rassistisch zum Beispiel über nicht-weiße Studierende äußerte und große Sympathien für den Diktator Pinochet hegte, ging davon aus, dass Konkurrenz die natürliche Daseinsform des Menschen ist. Seiner Philosophie nach sind Kooperation und Solidarität schädliche Verirrungen, der Mensch wäre ursprünglich in einer Welt begrenzter Rohstoffe in dauerndem Wettbewerb mit anderen. Dieser Wettbewerb habe die eigentlich menschliche Gesellschaftsform, nämlich den Kapitalismus, hervorgebracht, und gesellschaftliche Traditionen und Eliten. Die Traditionen, sprich das heteronormative Gesellschaftsmodell, sei von Natur aus das Beste, da es sich im Wettbewerb der Ideen durchgesetzt habe. Und gleichermaßen denkt von Hayek, die Elite, also die Gewinner*innen im kapitalistischen Wettbewerb als diejenigen, die eben aufgrund ihrer biologischen Anlagen dazu geschaffen wurden, zu gewinnen. Es folgt daraus ein starres Gesellschaftsmodell, in dem es keine Entwicklung, keine Zukunft, keine Gleichheit geben kann. 

Diese Ideologie, wie sie etwa heute Elon Musk oder Peter Thiel teilen, informiert die Romanreihe. Sie wird hier zwar märchenhaft überformt, aber dennoch erzählt Rowling Kindern eine Geschichte, in der eine magische Elite über uns bestimmt, die Welt heteronormativ ist und Wettbewerb und Konsum die einzigen Formen gesellschaftlicher Interaktion darstellen. 

Es ist darum nur folgerichtig, dass Harry Potter im letzten Roman ein Polizist („Auror“), also bewaffneter Verteidiger der herrschenden Ordnung wird. Genauso folgerichtig aber sind die transfeindlichen Aussagen Rowlings, die nur diese reaktionäre Ideologie widerspiegeln – oder die Tatsache, dass Hogwarts Legacy, als neuester Zugang zum Harry Potter-Universum vermutlich die Geschichte der Niederschlagung einer Kobold-Rebellion erzählen wird. 

Es ist darum sicher falsch, Hogwarts Legacy nur aufgrund von Tweets von JK Rowling zu boykottieren. Vielmehr sollte das Spiel aufgrund des regressiven Weltbildes, das das gesamte Harry Potter Universum ausmacht, boykottiert werden.

 

Sebastian Schuller ist Literaturwissenschaftler, der insbesondere zu marxistischer Literaturtheorie und Popkultur der Gegenwart forscht.

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