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Normalisierung Ein Rechtsextremer als Ortsvorsteher in Altenstadt (Hessen)

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Stefan Jagsch (NPD), Ortsvorsteher von Altenstadt-Waldsiedlung, steht vor dem Gemeinschaftshaus im Ortsteil, in dem er gewählt wurde. (Quelle: dpa)

 

Eine rechtsextreme Karriere

Stefan Jagsch, Jahrgang 1986, ist ein Neonazi, über dessen Grad des Rechtsextremismus sich niemand streiten muss. Er ist stellvertretender Vorsitzender der NPD Hessen, war aber auch bereits Landesvorsitzender der NPD, also der offen rechtsextremen Partei in Deutschland, die die Demokratie abschaffen will. In mehreren Verfassungsschutzberichten ist er als Akteur der rechtsextremen Szene Hessens benannt. Er hat in der NPD Karriere gemacht, war erst seit 2002 Mitglied in der Partei, dann Vorsitzender der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten (JN)“, schließlich zumindest zeitweilig Landesvorsitzender. Er ist einer der Akteure, der seit Jahren dafür sorgt, dass der Wetteraukreis als Hochburg der NPD in Hessen gilt (vgl. BTN, BTN II). Aus dem Jahr 2009 sind Kontakte ins militante Neonazi-Milieu bekannt, er sprach etwa bei einer Neonazi-Demonstration in Friedberg und verbreitete Parolen wie „Macht den roten Bonzen Dampf – nationaler Freiheitskampf“, „Deutschland den Deutschen – Wir sind das Volk“ oder „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“ (vgl. https://www.belltower.news/presseschau/06-05-2014-presseschau/#news-9)

Bei den Wähler*innen kam Jagsch damit nicht gut an, wurde etwa 2014 nicht in den Landrat gewählt, weil er nur 2 % der Stimmen erhielt (vgl. https://www.belltower.news/presseschau/21-01-2014-presseschau/#news-7).

Schon die Stadt Frankfurt scheiterte daran, Jagsch loszuwerden

Erstmal geriet Stefan Jagsch 2014 überregional in der Presse, als bekannt wurde, dass er seit 2010 im Jobcenter Höchst arbeitete und dort Langzeitarbeitslose betreute. Das Amt versuchte daraufhin, den NPD-Funktionär mit den Kontakten in die rechtsextreme Kameradschaftsszene zunächst freizustellen und dann auch zu kündigen, weil dieser nicht ausreichend auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. Jagsch wehrte sich gegen die Kündigung, beteuerte seine „Verfassungstreue“ – was sich mit den Zielen seiner Partei nicht deckt, die offen propagiert, die Demokratie abzuschaffen. Trotzdem bekam er vor Gericht in mehreren Instanzen Recht. Jagsch sei einfacher Büroangestellter, für seine Tätigkeit genüge daher ein „einfaches Maß an Verfassungstreue“, urteilte der Richter des Frankfurter Arbeitsgericht 2014. Der NPD-Politiker komme seinen Loyalitätspflichten schon dadurch nach, „dass er die freiheitlich demokratische Grundordnung jedenfalls nicht aktiv bekämpft“. Die Stadt musste ihn schließlich wieder einstellen. Jagsch arbeitet seit 2016 im Jugend- und Sozialamt im Dornbusch, habe dort aber „nichts mit Kunden oder Bürgern zu tun“, so Rainer Korn, stellvertretender Leiter des städtischen Personal- und Organisationsamts (vgl. Frankfurter Rundschau).

Pegida-Aktivitäten in Frankfurt

Im Januar 2015 will Stefan Jagsch beim Frankfurter Pegida-Ableger „Fragida“ organisatorisch mitmischen. Er ist bei Organisationstreffen anwesend – denn man habe von seiner NPD-Parteimitgliedschaft nichts gewusst, beteuert er damalige AfD-Funktionär Hans-Peter Brill, der die Gruppe koordiniert. Wegen des NPD-Kontakts distanziert sich die AfD damals allerdings von Brill, und er tritt aus der Partei aus. Wenig später beendet er auch  „Fragida“. (vgl. BTN: https://www.belltower.news/presseschau/07-01-2015-presseschau/#news-13, https://www.belltower.news/presseschau/09-01-2015-presseschau/#news-6 )

Im März 2015 gab es eine AfD-Veranstaltung in Dietzenbach, bei der der rechtspopulistische Publizist Udo Ulfkotte einen 15-jährigen Jungen angriff, der bei den Jusos aktiv war. Unterstützt wurde er dabei von Stefan Jagsch und NPD-Kreistagsabgeordnete Daniel Lachmann (BTN).

Nur einen Tag später störten Stefan Jagsch und Daniel Lachmann eine Flüchtlingskonferenz im Wetterau-Kreis. Sie trugen T-Shirts mit einer rassistischen Aufschrift und verließen den Saal erst, als mit Polizei gedroht wurde (vgl. BTN)

Jagsch versuchte 2016 dann, bei der zweiten Frankfurter „Pegida“-Gruppe, „Pegida Frankfurt“ aktiv zu sein – bis sich die Initiatorin Heidi Mund mehrfach zu Israel solidarisch zeigte und sich gegen Antisemitismus aussprach. Das hat Jagsch offenbar nicht gefallen (vgl. https://www.belltower.news/pegida-quo-vadis-heute-frankfurt-am-main-hessen-42460/)

Geflüchtete retteten den Rechtsextremen nach Autounfall

Zugleich erlangte Jagsch 2016 unfreiwillige Berühmtheit: Nach einem schweren Autounfall leisten dem flüchtlingsfeindlichen NPD-Politiker ausgerechnet zwei Geflüchtete und ein Busfahrer erste Hilfe. Er bedankte sich später zähneknirschend, an seiner rassistischen Grundhaltung änderte die Begebenheit jedoch nichts (vgl. Frankfurter Rundschau).

Der Aufstieg der NPD in Altenstadt

2016 war aber auch in politischer Hinsicht ein besonderes Jahr für Jagsch und die NPD in Altenstadt:

Mit der Kommunalwahl 2016 zogen die Rechtsextremen der NPD überraschend in die Altenstädter Gemeindevertretung ein: Sie erhielten 10 Prozent der Stimmen und vier Sitze im Gemeindeparlament. Im Ortsteil Waldsiedlung erlangte Jagsch sogar das Mandat für den Ortsbeirat der Gemeinde, die NPD bekam hier 14,4 % der Stimmen. Stefan Jagsch wohnt im Ortsteil Waldsiedlung, weitere Mitglieder der NPD-Fraktion ebenso (vgl. Frankfurter Rundschau).

Kein Wunder also, dass Stefan Jagsch sich hier mehr erhoffte. 2018 kandidiert er als Bürgermeister von Altenstadt (vgl. FR), erhält aber lediglich 6 % der Stimmen (vgl. Hessenschau).

Nun: Rechtsextremer Ortsvorsteher – „kann Mails verschicken“, „kollegial und ruhig“

2019 hat sich für ihn der Wunsch nach politischem Einfluss in seinem Heimatort dennoch erfüllt: Er wird zum Ortsvorsteher des Altenstädter Ortsteils Waldsiedlung gewählt – ohne Gegenkandidaten, die Stelle war seit Wochen vakant. Als Ortsvorsteher vertritt er nun den Ortsteil mit seinen rund 2.500 Einwohner*innen nach außen und ist erster Ansprechpartner für die Bürger*innen.

Jagsch wurde gewählt mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP. Die Begründungen für diese Entscheidung, einen Rechtsextremen mit Kontakten ins Neonazi-Milieu zu einem politischen Amt zu verhelfen, sind hanebüchen.

CDU-Vertreter Norbert Szielasko verkündete zunächst: „Wir sind völlig parteiunabhängig im Ortsbeirat.“ Seit zehn Wochen wollte keiner das Amt übernehmen. Dann kam Jagsch.  Szielasko sagt: „Da wir keinen anderen haben – vor allem keinen Jüngeren, der sich mit Computer auskennt, der Mails verschicken kann“, deshalb sei Jagsch gewählt worden. „Was er in der Partei macht oder privat, das ist nicht mein Ding, nicht unser Ding.“ Im Ortsbeirat verhalte er sich „absolut kollegial und ruhig“. Außerdem habe man wohl die Ortsvorsteherwahl unterschätzt: „Wir haben das Ganze im Vorfeld nicht so ernst genommen.“ (vgl. Hessenschau).

Jagsch freute sich und feierte auf Facebook: „Aus dem Volk – für das Volk!“ Sein Profil ist ein übliches NPD-Profil: Wettern gegen die Pressefreiheit als „Lügenpresse“, Hass auf Geflüchtete Schüren („Migration tötet“ und NPD-„Schutzzonen“-Kampagne), Werbung für den Telegram-Kanal der „Jungen Nationaldemokraten“. In einem Facebook-Beitrag der NPD Wetterau, den er teilt, ist zu lesen, was Jagsch von der AfD hält: „Jagsch machte anhand einiger Beispielen deutlich, wie überflüssig die „Anwesenheit“ der zehn Abgeordneten der AfD im Kreistag ist. Diese würden sich nicht nur den Systemparteien anbiedern, sondern auch oft durch peinliche Aussagen von der NPD distanzieren.“ Aber wenn der Ortsbeirat nicht einmal E-Mails schreiben kann, kennen sie seine Social Media-Aktivitäten vermutlich nicht. Obwohl es vielleicht geholfen hätte, einzuschätzen, wer da gewählt wird.

Die Wetterauer Demokratie-Initiative AntifaBI fragt angesichts der Wahl: „Wer kann so etwas den Menschen in der Altenstädter Waldsiedlung ernsthaft erklären? Menschen, die CDU, FDP und SPD gewählt haben und nun einen NPD-ler als Ortsvorsteher erhalten?“

Empörung in der Bundespolitik

Nun bricht derzeit der geballte Zorn der Bundespolitik über die Repräsentanten des 12.000-Einwohner-Ortes Altenstadt hinein:

  • Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Kandidat für den SPD-Parteivorsitz, Ralf Stegner, schrieb am Samstag auf Twitter: „Das beschädigt das Ansehen der Sozialdemokratie!“ Stegner nannte die Wahl des NPD-Politikers „unerträglich und komplett inakzeptabel“.
  • Der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Peter Tauber, forderte persönliche Konsequenzen der CDU-Vertreter im Ortsbeirat. „Wem der politische und moralische Kompass fehlt und als Demokrat eine solch verantwortungslose Wahlentscheidung trifft, ist in der CDU und auf einer CDU-Wahlliste untragbar“, twitterte er.
  • Die Sprecherin der Grünen in der Wetterau, Myriam Gellner, sprach am Samstag von einem „Blackout der Demokratie“. Die in dem Ortsbeirat nicht vertretene Partei sei „wie vor den Kopf gestoßen, dass Mitglieder demokratischer Parteien einen Verfassungsfeind in das repräsentative Amt eines Ortsvorstehers wählen“.
  • CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte im ARD-Sommerinterview, die Wahl des NPD-Mannes zum Ortsvorsteher müsse rückgängig gemacht werden. „Entsetzen und Empörung“ über die Wahl seien „vollkommen gerechtfertigt“, so Kramp-Karrenbauer. Ziel sei nun, so schnell wie möglich seine Abwahl zu erreichen. Auch müsse parteiintern darüber geredet werden, „wie so etwas passieren konnte“.

Jagsch will um sein Amt kämpfen

Stefan Jagsch als Ortsvorsteher wieder loszuwerden, wird indes vielleicht nicht ganz so einfach. Schon jetzt nutzt er die Gegenwehr gegen seine Wahl für Propaganda, nennt die Äußerungen der Parteipolitiker*innen „ein Trauerspiel für die Demokratie.“ Er jedenfalls will um sein Amt kämpfen. Für ein Abwahlverfahren brauche es „eine Dreiviertel-Mehrheit und einen triftigen Grund.“ Den, findet Jagsch, gäbe es nicht: „Dieser triftige Grund ist meines Erachtens nicht gegeben, da vorher alles offenkundig war.“ (vgl. Tagesschau).

Seine rechtsextreme Ideologie hat Jagsch in der Tat nie verheimlicht. Offenkundig ist es ihm aber durch sein unauffälliges Auftreten gelungen, etliche andere Menschen, Arbeitgeber*innen wie Mit-Politiker*innen, über den Rassismus, den Antisemitismus und die Demokratiefeindlichkeit seiner Ideologie zu täuschen – und diese Einstellungen damit zu normalisieren. Bis zur Wählbarkeit.

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