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Russische Propaganda Die neue Lisa heißt Daniel

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Der Fall erscheint dramatisch, erinnert aber auch deshalb stark an Desinformationen durch personalisierte Lügen, die 2015 über Geflüchtete en vogue waren: Eine Frau erklärt in einem Video auf Russisch, in Deutschland, in Euskirchen, sei ein 16-jähriger Russlanddeutscher in einer Unterkunft für Geflüchtete ermordet worden – und zwar von einer Gruppe von Ukrainern, und das nur, weil er russisch gesprochen hätte. Sie selbst kenne die Frau, die die Mutter von „Daniel“ gewesen sei.

Nur hat sie diese Kenntnis wohl exklusiv. Die Polizei in NRW jedenfalls kennt keinen Daniel und auch keinen Mord in Euskirchen oder Umgebung, der zur Personenbeschreibung, Tatort oder Tätern passt (vgl. Polizei NRW auf Twitter). Es gibt auch keine Verifizierung, wer die Frau im Video ist, ob sie in Deutschland oder Russland wohnt. „Daniel“ und seine Familie scheinen komplett erfunden zu sein. Doch bevor die Polizei dies am Montagmorgen bekannt gab, wurde das Video der etwa 30-jährigen, unscheinbaren Frau vor brauner Tapete bereits vielfach auf Facebook und Telegram geteilt, vor allem in Kanälen der russlanddeutschen Community. Denn der drastische Fake-Fall passt zur Erzählung der „Russophobie“, so nennt u.a. das russische Innenministerium Rassismus gegen Russen. Solche „russophoben Tendenzen“ sieht auch die russische Botschaft, in ganz Europa und „speziell in Deutschland“.

Wer denkt, ob der Drastik des Falls „Daniel“, müssten doch viele misstrauisch werden, ob sie ein Mord so zugetragen haben könne, ohne publik zu werden, der treibt sich vermutlich selten in russischsprachigen Communitys etwa auf TikTok herum. Hier werden, teilweise als Livestream oder als Streams von Demonstrationen, am laufenden Band Desinformationen erzählt, wie etwa, dass zwei LKW-Fahrern aus Belarus in Deutschland mit Messern die Köpfe abgeschnitten worden seien. Auch dies wird offenbar ohne weitere Belege geglaubt, weil jemand es in ein Mikrofon spricht, und noch mehr gilt das für niedrigschwelliger gelogene Geschichten wie die zahlreichen russischen Kinder, die von ihren Lehrer:innen in Deutschland aus der Schule geworfen worden sein sollen (und nicht belegbar sind).

Was solche Desinformationen besonders perfide macht: Es gibt ja auch real Angriffe auf Menschen aus dem postsowjetischen Raum, wir haben letzte Woche darüber berichtet.

Nach journalistischen Kriterien ist eine Überprüfbarkeit der geschilderten Fälle notwendig. Bei Fällen wie Morden oder Gewalttaten ist dies Pflicht, bevor etwas berichtet wird. Aus der Arbeit mit Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt wissen wir aber auch: Nicht für alle (verbalen) Angriffe gibt es Zeugen und belegbare Fakten, weil sie etwa zwischen Täter und Opfer allein vorfielen. Zumindest aber lassen sich oft die Umstände verifizieren: War der Täter, war das Opfer zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort? Gibt es Zeug:innen? Ist eine solche Situation überhaupt unbemerkt vorstellbar? Opfer werden oft (re-)traumatisiert, wenn ihnen nicht geglaubt wird. Deshalb heißt es: Im Zweifel glauben wir dem Opfer. Aber hier wird es schwierig, wenn es das Ziel von russischer Staatspropaganda ist, Unruhe unter Russlanddeutschen zu schüren und Misstrauen gegenüber dem deutschen Staat zu sähen, der angeblich Übergriffe auf Russ:innen verschweige.

Diese Dynamik hatte bereits der Fall Lisa in Berlin: Eine 13-Jährige wollte 2016 wegen persönlicher Probleme eine Nacht nicht nach Hause und gab hinterher an, von „Südländern“ entführt und vergewaltigt worden zu sein. Die NPD verstärkte auf diese islamfeindliche Erzählung, weil sie sich Stimmen der russlanddeutschen Community erhofften. Nach dem massiven Streuen von Ressentiments, auch über die russische Botschaft und Staatsmedien – islamfeindliche Hetze ebenso wie Vorwürfe gegen den deutschen Staat, der nichts tue, um „unsere Kinder“ zu schützen – stellte sich die angebliche Tat als Lüge einer überforderten Teenagerin heraus.

Aktuell werden Fälle von „Russophobie“ allerdings von kremltreuen Kanälen verbreitet, verstärkt und offenbar auch erfunden. Was 2022 anders ist als 2016: Audiovisuelle Kurzformate machen die Lügen besonders überzeugend. Wenn ein Mensch emotional berührt in eine Kamera spricht, vergessen die Zuschauer:innen schnell, die Plausibilität des Gesagten zu prüfen. Telegram-Kanäle wie „Neues aus Russland“, ein kremltreue Kanal einer ausgewanderten Deutschen, Alina Lipp (mehr zu ihr vgl. t-online, taz), sind voll mit solchen Videos. Da spricht nicht nur die Nicht-Zeugin der Fake-Mordes an „Daniel“ zu den 103.000 Followern, sondern genauso ein älterer Herr in einer undefinierten Ladenpassage, der als „der französische freiwillige Scharfschütze Erwan Castel“ präsentiert wird, der den angeblichen „Völkermord“ im Donbass schildert, den Putin als Legitimierung für den Angriffskrieg wählt. Also, er war jetzt auch nicht da, hat aber mit Freunden an der Front gesprochen, und die konnten ihm bestätigen, dass es keinen russischen Angriff auf Kiew in der zweiten Märzwoche gegeben hätte, sondern dass ukrainische Rechtsextreme gewesen wären, die die Menschen ermordet hätten, die in der „westlichen Presse“ als Opfer des Angriffs gezeigt worden wären.

In einem weiteren Video aus den letzten Tagen spricht Anatoli Scharij als „Journalist und Whistleblower“ darüber, dass der ukrainische Präsident Selenskyj einen „totalitären“ Staat aufbaue und Oppositionsparteien verbiete, wie Scharijs eigene Scharij-Partei. Also, er selbst sei nicht vor Ort, sondern in Spanien, aber er hat mit „oppositionellen Bloggern“ in der Ukraine gesprochen und die berichten Schlimmes, natürlich. Der junge Mann mit brauner Brille, der vor einer modern verputzen Wand ernst in die Kamera spricht, ist allerdings selbst ein „anti-ukrainischer oder pro-Kreml-Blogger“, wie die „Stiftung gegen Korruption“ des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny schreibt, und verlor den Status als politisch verfolgter Geflüchteter in Litauen, den er 2012 erhalten hatte, weil er 2015 u.a. „Kreml-Propagandalieder“ verbreitete (übrigens neben Rassismus, LGBTIQ*-Feindlichkeit und Antiziganismus), sodass er in Litauen nun als „Persona non grata“ gilt und mittlerweile in Spanien lebt. Über seine Internetmedien verbreitet er seit Jahren Lügen und Desinformationen – wie in diesem Video. Auf dem Kanal „Neues aus Russland“ wird das Video als Weiterleitung aus dem Kanal „Russländer & Freund“ präsentiert, laut Selbstbeschreibung „Der Nr. 1 Kanal für Russländer und Russlandfreunde“, der bietet „die wahren News um Russland auf Deutsch“, er hat 45.000 Abonennt:innen, die mit Desinformationen in die Verzweiflung getrieben werden, wie die über 103.000 Abonennt:innen von „Neues aus Russland“. Es sind verschwörungsideologische Kanäle, die ein verabscheuenswürdiges Zerrbild der Welt aufbauen, um Menschen in die Aktion zu radikalisieren, ob in Deutschland oder im Herkunftsland. Leider erreichen sie über Telegram eine große Anhängerschaft, die ansonsten auch in Deutschland oft noch russische Staatsmedien konsumiert und so bisweilen wenig Widerspruch zu diesen Narrativen findet.

P.S. Die Verfasserin des Videos hat ihr Video, ursprünglich veröffentlicht auf TikTok, inzwischen gelöscht. In einem neuen Video sagt sie laut t-online, sie sei „einem Mann aufgesessen, der die Ukrainer einfach hasst und mit dieser Story alles noch verschlimmern wollte“. „Neues aus Russland“ hat das Video auch gelöscht. Die anderen beschriebenen Videos allerdings nicht. Die Problematik der unüberprüften Desinformationen bleibt.

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