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„9mm für…“ Rechtsextreme Angriffs-Serie in Berlin-Neukölln

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(Quelle: MBR)

Der Berliner Bezirk Neukölln wird meist als migrantisch geprägt, interkulturell, bunt und weltoffen wahrgenommen, zu Recht. Und dennoch hat der Bezirk seit Jahren ein massives Problem mit rechter Gewalt. Erst in dieser Woche boxte ein Mann an der U-Bahn-Station „Neukölln“ einer schwangeren Frau in den Bauch – weil sie ein Kopftuch trug. Solche Vorfälle, die oftmals als Alltagsrassismus abgestempelt werden, sind auch in Berlin-Neukölln, wie im sonstigen Bundesgebiet, auf konstant hohem Niveau. Hinzu kommt für Neukölln jedoch eine aktuelle Serie rechtsextremer Anschläge, die im Mai 2016 begann und immer noch anhält.

Outing und Morddrohungen in Neukölln

Am Wochenende, in der Nacht auf Samstag den 16. März 2019, sprühten Rechtsextreme Morddrohungen an die Wohnhäuser von Engagierten in Neukölln. An oder in mindestens vier Wohnhäusern waren die vollständige Namen, zum Teil mit dem Schriftzug „9mm für“ zu lesen, wobei „9mm“ für eine Pistolenkugel steht. Einer der Schriftzüge fand sich am Samstagmorgen an der Privatadresse eines Mitarbeiters der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR), auch die Organisation selbst wird dort genannt. Bianca Klose, Projektleiterin der MBR, sieht bei diesen neuen Bedrohungen eine Radikalisierung: „Die Täter rufen mit den rechtsextremen Graffitis an den Wohnhäusern der Betroffenen unverhohlen zum Mord auf.”

Seit Mai 2016 kam es zu 55 rechten Angriffen in Neukölln

Seit Mai 2016 kam es laut Zählung der MBR zu insgesamt 55 Angriffen, davon waren 16 Brandanschläge, 14 auf PKWs. Hinzu kommt der Diebstahl von 16 Stolpersteinen. Der Buchhändler Heinz Ostermann, der sich in der Initiative „Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus“ engagiert, wurde nun schon dreimal zum Ziel der Neonazis: Ende 2016 wurde eine Schaufensterscheibe seines Geschäfts eingeschlagen, Anfang 2017 und Anfang 2018 sein Auto angezündet.

Nur mit Glück überlebte Ferat Kocak einen Brandanschlag

In derselben Nacht, in der Ostermanns Auto 2018 brannte, wurde auch das Auto von Ferat Kocak angezündet. Kocak ist aktiv bei der Linken und in der prokurdischen türkischen Partei HDP, Mitglied in einem Bündnis gegen rechts, seine Eltern sind Einwanderer aus der Türkei. Damit scheint er das perfekte Anschlags-Ziel für Rechtsextreme zu sein.

Monatelang spähen zwei Neonazis Kocak aus. Nur eine Info fehlt ihnen noch: seine genaue Wohnadresse. In eben jener Nacht, vom Januar auf den Februar 2018 folgen die beiden Neonazis Kocak unauffällig, als dieser von einem Treffen in einem Café in Neukölln mit dem Auto nach Hause fährt. Wenig später brennt sein Smart völlig aus. Kurzfristig besteht die Gefahr, dass die Flammen auf das Haus seiner Eltern übergreifen, in dem er zu jener Zeit wohnte. Da Kocak kurz nach Ausbruch des Brandes wach wurde, konnte er die Flammen mit einem Feuerlöscher löschen. Er hat Glück gehabt, wird die Polizei später sagen: Direkt neben dem brennenden Auto verläuft die Gasleitung in der Hauswand.

Sicherheitsbehörden haben das Anschlagsopfer nicht gewarnt

Besonders brisant: Sowohl der Verfassungsschutz, wie auch der Staatsschutz des Landeskriminalamts hörten die beiden Verdächtigen dabei ab, wie sie über Kocak sprachen. Die Behörden wussten demnach, dass die beiden Kocak ausspionierten und verfolgten. Trotzdem wurde der Linken-Politiker nicht gewarnt. Wenn es aber um den Schutz von Leib und Leben gehe, müsse der Verfassungsschutz seinen Rechtspflichten nachkommen, „auch durch Hinweise an die Polizei“, kritisierte der Staatsrechtler Professor Joachim Wieland in der ARD-Sendung „Kontraste“ vom 21. März.

Im Fall des Anschlags auf Ferat Kocak soll es zwei Verdächtige geben: den langjährigen Neuköllner NPD-Vorsitzenden Sebastian Thom sowie den AfD-Politiker Tilo Paulenz. Letzterer saß bis Anfang Februar im Bezirksvorstand seiner Partei, mittlerweile läuft ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn, wegen Kontakten ins rechtsextreme Milieu.

Es müssen Konsequenzen gezogen werden

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von der Linkspartei forderte in dem ARD-Magazin, dass sie Generalbundesanwaltschaft „die Ermittlungen an sich ziehen“ müsse, wenn die Berliner Sicherheitsbehörden überfordert seien. Es müsse geprüft werden, „inwieweit wir es hier mit einer terroristischen Vereinigung oder der Schaffung einer solchen zu tun haben“. Und in der Tat ist es doch äußerst merkwürdig, dass Neonazis unter den Augen und Ohren des Berliner Verfassungsschutzes und des LKAs Anschläge begehen, bei dem sie Tote in Kauf nehmen. Zu Recht fragen die Betroffenen, warum sie von Seiten der Behörden nicht geschützt werden.

Klandestin verübte Angriffe in der Nacht

Brandanschläge auf Autos, Steinwürfe auf Wohnungen und Bedrohungen in Form von Graffitis. Die Angriffe geschehen stets nachts. Das ist für die zwar kleine dafür aber aktive Neuköllner Neonazi-Szene ressourcensparend. So können sie die eigene politische und personelle Schwäche kompensieren und gleichzeitig bei geringem Aufwand maximale Wirkung erzielen – Angst und Verunsicherung.  

Eine lang anhaltende Serie rechter Gewalt mit einer Handschrift

Die Geschichte von Neonazis in Neukölln ist kein neues Phänomen, sondern reicht bis Mitte der 1980er Jahre zurück. Rechte, gewaltbereite Gruppen wie die „Berliner Türkenbeseitigungs Gang“, die „Britzer Befreiungsfront“ oder die „Terrorbande Wutzkyallee“, griffen damals vor allem in den südlichen Teilen Neuköllns linke Aktivist*innen und Migrant*innen an. Während es sich dabei um „Schlägertrupps“ handelte, traten wenig später organisierte Gruppen auf den Plan (FAP, Republikaner).

In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende bildeten sich mit einem Kreisverband der NPD und einer eigenen „Kameradschaft“ feste neonazistische Strukturen in Neukölln. Bedingt auch durch den Wohnort zentraler Protagonist*innen, waren die südlichen Ortsteile Schwerpunkt ihrer Aktivitäten, schreibt die MBR.

Auch der „Nationalen Widerstand Berlin“ drohte mit „9mm für…“

Sowohl die derzeitigen Angriffe, als auch die Graffitis weisen auf einen direkten Zusammenhang der Taten hin. Sie betreffen allesamt Menschen, die sich politisch oder gesellschaftlich engagieren. Bianca Klose vermutet, dass es sich um einen sehr kleinen Täter*innenkreis aus der rechtsextremen Szene handelt, teilweise personell überschneidend mit dem „Nationalen Widerstand Berlin“ („NW-Berlin“).

Der „NW-Berlin“ war ein rechtsextremes Netzwerk, das von 2005 bis 2012 in Berlin aktiv war und vor allem durch das Anlegen und Veröffentlichen von Privatadressen in Erscheinung trat, in dessen Folge es zu Anschlägen kam. Auch damals wurde an Wohnhäusern und Arbeitsplätzen von Engagierten die Morddrohung „9mm für …“ geschmiert. Ermittlungserfolge gab es damals keine. Neu an der aktuellen Serie ist laut MBR allerdings, dass nun nicht mehr hauptsächlich Kneipen und Vereinsräume im Fokus stehen, sondern verstärkt Engagierte unmittelbar an ihren privaten Wohnanschriften bedroht werden. Doch wie kommen die Rechtsextremen an die Adressdaten der Betroffenen?

Wie kommen die Täter an die Adressen?

Das gezielte Sammeln von Fotos, Namen und Adressen von vermeintlichen politischen Gegner*innen, ist seit Jahrzehnten eine gängige Praxis extrem rechter Akteure. Opfer dieser „Anti-Antifa“-Kampagnen sind Menschen, die sich öffentlich gegen Neonazis engagieren, wie zum Beispiel Journalist*innen, Politiker*innen, Gewerkschafter*innen, Polizist*innen und Aktivist*innen. Rechtsextreme besuchen gezielt Gerichtsprozesse, nutzen Akteneinsichtsrechte in Ermittlungsverfahren und versuchen Zugang zu den Kundendaten von Versandhändlern zu bekommen, die Produkte gegen Rechtsextremismus vertreiben. Bianca Klose meint, man müsse sich das vorstellen wie ein Mosaik. Sie glaubt, dass die Täter über einen sehr großen Datensatz verfügen, der zusammengetragen ist aus Verfolgungen von Personen, öffentlich zugänglichen Informationen im Netz, eventuell aber auch durch Datenklau in bestimmten Tätigkeitsfeldern. Auf der linken Plattform „Indymedia“ warnen anonyme Autor*innen vor einem Neonazi mit NPD-Mitgliedschaft, der als Briefzusteller in Neukölln unterwegs ist und so Zugang zu sensiblen Daten hätte.

Rechtsextreme Machtdemonstration mit dem Ziel Menschen einzuschüchtern

Die Botschaft, die durch diesen niedrigschwelligen rechtsextremen Terror ausgesendet werden soll, erreicht die Adressat*innen auch ohne ein explizites Bekennerschreiben. Die Taten sprechen für sich. Mit der aktuellen Angriffsserie wollen die Neonazis ein größtmögliches Klima der Verunsicherung schaffen. Sie zielen darauf ab, Menschen, die sich in diesem Kiez und sich darüber hinaus gegen rechts einsetzen, einzuschüchtern und sie so von ihrem Engagement abzuhalten.

Und offenbar fühlten sich die Täter, trotz der beobachtenden Augen des Verfassungsschutzes und des LKAs so sicher, dass sie ihre Angriffe fortsetzen.

 

Ein Überblick der MBR der rechtsextremen Angriffe:

Stand: März 2019

So, 15. Mai 2016 1x Brandanschlag Wagenplatz (Neukölln)

Mo, 6. Juni 2016 2x Steinwurf auf Fenster (Neukölln) 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

So, 26. Juni 2016 2x Farbflaschenwurf (Neukölln)

Mo, 27. Juni 2016 1x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus, (Neukölln) 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Fr, 8. Juli 2016 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Sa, 15. Oktober 2016 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Mo, 12. Dezember 2016 2x Steinwürfe auf Fenster, (Neukölln) 1x Brandanschlag Haus,(Neukölln) 2x Farbflaschenwurf auf Wohnung,(Neukölln) 1x Sachbeschädigung Kirche (Neukölln)

Fr, 23. Dezember 2016 1x Farbflaschenwurf auf Wohnung (Neukölln)

Di, 27. Dezember 2016 8x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus (6x Neukölln, 1x Kreuzberg, 1x Schöneberg)

Di, 10. Januar 2017 1x Sachbeschädigung KFZ (Reifen zerstochen) (Neukölln)

Sa, 14. Januar 2017 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Mo, 23. Januar 2017 2x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Di, 07. Februar 2017 7x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus (Wedding)

Mi, 08. Februar 2017 6x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus (Neukölln)

Do, 09. Februar 2017 1x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Mi, 03. Mai 2017 2x Brandanschlag KFZ (Neukölln & Kreuzberg)

Di, 11. Juli 2017 2x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Sa, 19. August 2017 1x Sachbeschädigung Parteibüro (Neukölln)

Mo, 06. November 2017 16 Stolpersteine gestohlen, 4 gelockert (Neukölln)*

Do, 01. Februar 2018 2x Brandanschlag KFZ (Neukölln)

Sa, 05. Mai 2018 1x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus (Neukölln)

Sa, 16. März 2019 4x Bedrohung mit Graffiti an Wohnhaus (Neukölln)

 

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