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Berlin-Neukölln „Rechtsextremismus muss als Tatmotiv berücksichtigt werden“

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Bild von Ferat Kocak, Aktivist und Lokalpolitiker in Berlin-Neukölln
(Quelle: Nicholas Potter)

Am Samstag brannte ein libanesisches Lokal auf der Neuköllner Sonnenallee ab. Zunächst gingen viele von einem rechtsextremen Motiv aus. Denn seit Mai 2016 zählte die Polizei 73 rechtsextreme Taten im Bezirk, darunter 23 Brandanschläge. Das Antifaschistische Pressearchiv spricht von 137 rechtsextremen Vorfällen seit vergangenen September. Mittlerweile schließen die Behörden einen solchen Hintergrund in diesem Fall aus. Ein Gasleck liege stattdessen nahe. Doch die Angst ist unter Betroffenen trotzdem groß. Das erklärt der Aktivist und Neuköllner Lokalpolitiker Ferat Kocak im Interview mit Belltower.News. Kocak ist Mitglied der Partei Die Linke und stellvertretender Sprecher im Bezirksverband. Seit seiner Jugend engagiert er sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus. 2018 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf Kocak: Bis heute konnte der Fall nicht aufgeklärt werden. Ein Gespräch über verstrickte Behörden, mitschuldige Medien und ermutigende Angst.

Belltower.News: Herr Kocak, in der Nacht zu Samstag ging das libanesische Restaurant „Al Andalos“ auf der Neuköllner Sonnenallee in Flammen auf. Zeug*innen sprechen von einer Explosion. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von dem Brand erfuhren?

Ferat Kocak: Der erste Gedanke war, ob das wirklich ein Gasleck sein kann, weil meine Familie in der Gastronomie arbeitet. Gleichzeitig dachte ich, dass das wahrscheinlich ein rechtsextremer Anschlag war. Mit dieser Vermutung kam dann bei mir auch die Angst hoch, weil der Laden voll war und die Straße an einem Samstagabend gut besucht ist. Ich war schockiert, dass sie sich so etwas trauen. Das blieb aber nur eine Vermutung. Ich habe mich deshalb auch zurückgehalten, mich dazu zu äußern.

Was würde für Sie auf ein rechtsextremes Motiv hindeuten?

Es würde einer langen Reihe Anschläge mit rechtsextremen Hintergrund in Neukölln folgen, die sich schon längst nicht mehr „nur“ als kleine Angriffe, sondern als Straßenterror bezeichnen lassen. Rechtsextreme wollen hier Chaos stiften – und dieser Brand passt für mich dazu. Es gab schon mehrere Brandanschläge gegen Autos im Kiez. Und es hört nicht auf.

Zunächst hieß es, die Ermittler*innen können einen rechtsextremen Hintergrund nicht ausschließen. In einer Pressekonferenz am Montag sagte die Berliner Polizei allerdings, sie gingen nicht von einem Anschlag aus, es gebe keine Hinweise auf Brandstiftung oder einen Anschlag mit politischen Motiven. Was sagen Sie dazu?

Ich finde es wichtig, dass Rechtsextremismus als Tatmotiv in Neukölln mittlerweile immer mitberücksichtigt wird. Denn seit elf Jahren werden Anschläge hier verübt. Die Aufklärungsrate der Ermittlungsbehörden liegt allerdings bei null Prozent. Das bedeutet, dass sie ihre Arbeit nicht richtig machen. Deshalb ist es wichtig, dass der politische Druck steigt, damit man immer auch in diese Richtung ermittelt. Im Fall „Al Andalos“ ist es natürlich gut möglich, dass es keinen solchen Hintergrund gibt. Nicht immer, wenn irgendetwas in Neukölln brennt, stecken Nazis dahinter.

Häufig allerdings schon…

Wenn Nazis tatsächlich für einen Anschlag verantwortlich sind und die Polizei beispielsweise dem RBB sagt, dass sie in Richtung Clankriminalität ermittelt, ist das ein fatales Signal. Es sagt: Ihr könnt machen, was ihr wollt – wir erwischen euch nicht, belohnen euch sogar, indem wir Menschen bestrafen, die ihr eh angreift. Diese stark rassistische Vorgehensweise hat man bei den NSU-Fällen gesehen. Neun Jahre lang konnten sie morden, weil die Polizei das als kurdisch-türkischen Konflikt heruntergespielt hat.

Die B.Z. titelte am Wochenende: „Flambierte Döner? Schnellimbiss in der Sonnenallee explodiert“. Der Witz ist geschmacklos, die Bezeichnung „Schnellimbiss“ für ein Restaurant abwertend. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in einem libanesischen Restaurant natürlich keine türkischen Döner serviert werden. Diese Rhetorik erinnert aber auch an die „Dönermord“-Berichterstattung über die NSU-Terrorserie.

Auch beim NSU-Komplex hat die Springer-Presse genauso mit Überschriften gehetzt. Aber nicht nur dabei. Es gehört zu deren Strategie, durch solche Sensationsüberschriften Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das spielt den Nazis und dem rechten Rand in die Hände. Der Täter von Hanau ist nicht zufällig in eine Shisha-Bar gegangen. Er hat darin Menschen gesehen, die für ihn böse und kriminell waren, die nicht in seinem Weltbild passen. Diese Bilder haben zum einen die Presse aber zum anderen auch die Politik der vermeintlich bürgerlichen Mitte projiziert.

In den Medien wird über Neukölln oft nur in Bezug auf Clankriminalität oder zugezogene Hipster berichtet. Finden Sie diese Darstellung des Bezirks zu simpel?

Das entspricht definitiv nicht meinem Neukölln. Der Begriff „Hipster“ wird von der Masse aufgefangen, was wir aber in Neukölln haben, ist ein Gentrifizierungsproblem – ein Problem, in dem das System die dort wohnenden Menschen verdrängen möchte, weil es die Wohnungen teurer verkaufen oder vermieten kann. Kurzum: Weil es ein anderes Stadtbild schaffen will. Die AfD hat 2016 im Wahlkampf über eine „Umvolkung“ der Sonnenallee gesprochen, darüber, dass Nord-Neukölln nicht mehr Deutschland sei. Die SPD und Firmen wie René Benkos Signa Holding, die nebenbei bemerkt in Österreich die FPÖ unterstützt, wollen den Hermannplatz umgestalten. Beide setzen diese Politik nun um. So sehen wir, dass die Themen Gentrifizierung, Rassismus und rechter Terror in Neukölln im Prinzip ineinander münden.

Erst zwei Wochen liegt der letzte rechtsextreme Anschlag zurück: Der Lieferwagen einer syrischen Bäckerei, ebenfalls auf der Sonnenallee, wurde angezündet. Auf die Fassade des Geschäfts sprühten die Täter*innen SS-Runen. Das folgt einer Reihe an Schmierereien und Angriffen auf Cafés und Wohnhäusern in letzter Zeit. Herrscht in Neukölln ein Klima der Angst?

Ich denke schon. Die Polizei redet von Schmierereien. Schmierereien machen aber doch Kinder. Hakenkreuze und SS-Runen sind Markierungen – und somit eine Form von Terror. Jede einzelne ist eine Drohung. Und jedes Mal kann ich nachts nicht schlafen. Aber eben diese Angst hat meinen Aktivismus auch gefördert – und ich bin nicht alleine. Nach Hanau aber auch nach dem Tod von George Floyd sehen wir eine starke antirassistische Bewegung, die die antifaschistische Bewegung in sich aufnimmt. Das heißt: Die Menschen verstehen jetzt, dass wir den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft bekämpfen müssen, damit wir dem rechten Rand den Zufluss kappen. Dennoch müssen wir den antifaschistischen Widerstand aufrechterhalten. Diese Kämpfe können nur zusammengeführt werden. Neukölln ist ein super Beispiel dafür, wie das funktionieren kann.

Seit 2016 gab es mehr als 70 Angriffe, Anschläge und Brandstiftungen im Bezirk, die der Neonazi-Szene zuzuordnen sind. Auch Sie sind davon betroffen: Im Februar 2018 wurde Ihr Auto in der Nacht angezündet. Was war passiert?

Nazis haben mich über ein Jahr lang ausgespäht. Die Polizei wusste davon, weil sie sie abgehört hat. Zwei Wochen vor dem Anschlag haben ein NPD-Kreisvorsitzender und ein AfD-Vorstandsmitglied in Neukölln mich auf einer Veranstaltung bewusst beobachtet, bis nach Hause verfolgt und herausgefunden, wo ich wohne. Zwei Wochen später brannte mein Auto um drei Uhr nachts. Das Feuer ging über auf das Haus. Wäre ich nicht aufgewacht, so die Feuerwehr, wären ich und meine Familie mit im Haus verbrannt. Das Schlimme daran ist, dass die Polizei Bescheid wusste, ich aber nach ihrer Darstellung aufgrund von sehr vielen Fehlern nicht gewarnt wurde.

Fühlen Sie sich von den Behörden im Stich gelassen?

Definitiv. Und ich habe wenig Vertrauen in sie. Vor zwei Wochen wurde beispielsweise herausgefunden, dass ein Polizeioberkommissar aus Adlershof, der in Neukölln wohnt und AfD-Mitglied ist, geheime Information an die Nazi-Szene in Neukölln weitergegeben hat.

2019 wurde die „Soko Fokus“, eine Sonderkommission gegen rechten Terror, gegründet. Konnte sie bereits Erfolge verzeichnen?

Den ersten Erfolg hat sie Anfang des Jahres verkündet. Endlich hatte sie eine von drei Festplatten, die während einer Hausdurchsuchung bei einem Nazi nach dem Anschlag auf mich beschlagnahmt worden war, entschlüsselt. Dort fand sie eine Liste mit 30 Namen. Einen Monat später haben Journalist*innen allerdings herausgefunden, dass im Papierkorb dieser Festplatte weitere 500 Namen waren. Noch einen Monat später haben wieder Journalist*innen herausgefunden, dass die Festplatte gar nicht verschlüsselt war. Das war der große Erfolg bislang.

Ein Versagen der Behörden. Was könnte man denn gegen rechten Terror in Neukölln konkret machen?

Als Erstes wünschen wir Betroffenen, dass die Anschlagsserie endlich als Terror bezeichnet wird. Dann müsste nämlich die Generalbundesstaatsanwaltschaft den Fall übernehmen und überprüfen, wo die Polizei und Justiz versagt haben. Wir verlangen zudem einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Auf Berlin-Ebene war das bislang nicht möglich: Die Fraktionen der Grünen und Linken sagen, dass sie das in der jetzigen Koalition nicht durchsetzen können. Natürlich wäre es wichtig, dass die Zivilgesellschaft sich weiterhin organisiert. Aber wir haben es hier mit Nazis zu tun, die zum Teil in staatlichen Institutionen fest verankert sind. Mein Appell an die Zivilgesellschaft: Wenden Sie sich an Ihre Abgeordneten, machen Sie da Druck. Und wenn es nicht einmal die Grünen, Linke und SPD schaffen, Parteien, die sich selbst als antifaschistisch bezeichnen, wer soll das denn hinbekommen?

 

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