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Derya Binışık „Antirassistische Kämpfe sind auch feministische Kämpfe“

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Derya Binışık im Interview über den NSU (Quelle: KA)

Welche Leerstellen gibt es nach dem Ende des NSU-Prozesses? Welche rassistischen Kontinuitäten gehen aus dem NSU hervor und welche Positionen bleiben dabei unsichtbar? Zentral ist, dass auch nach dem Prozessende in München die Analysen und Forderungen der Betroffenen des NSU nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft, weiterhin für die Aufklärung und Erinnerung an die Opfer des NSU zu kämpfen. Es muss endlich anerkannt werden, dass Rassismus ein gesellschaftliches Problem darstellt.

Im Interview mit Derya Binışık wird deutlich, dass Rassismus nicht als Randphänomen behandelt werden kann, sondern alltäglich auf Menschen wirkt. Umso wichtiger ist daher ein verantwortungsvoller Umgang mit der gesellschaftlichen Aufarbeitung des NSU, was ein ver-lernen und neu-lernen von Wissen voraussetzt.

Das Interview führte Lydia Lierke

Lydia Lierke: Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie vom NSU erfuhren und was das damals mit Ihnen gemacht hat?

Derya Binışık: Ich erinnere mich vor allem an die Berichterstattung. Zuerst wurde von „Dönermorden“ berichtet. Diese Bezeichnung werde ich nicht vergessen.  All die Morde wurden so dargestellt, als hätten sie sich nur in einer scheinbaren Parallelgesellschaft abspielen können. Der Begriff „Dönermorde“ distanzierte sich von der weißen Mehrheitsgesellschaft, in der solch eine Mordreihe nicht passieren könnte. Durch die Selbstenttarnung des NSU wurde 2011 bekannt, dass die Morde von einer rechtsterroristischen Gruppe begangen wurden. Allerdings konnte ich die sogenannten „Dönermorde“ zunächst nicht mit dem NSU in Verbindung bringen. Die Ermittlungen der Sonderkommission „Bosporus“ haben schließlich Rassismus als Tatmotiv ausgeschlossen.

Der genaue Zusammenhang wurde mir dann in einem Uni-Seminar zum NSU-Komplex deutlich. Wir beschäftigten uns mit der strukturellen und gesellschaftlichen Bedeutung des NSU, die es ermöglichte, dass der NSU über Jahrzehnte existieren konnte. Das war nicht nur eine rassistische Terrorzelle, sondern ein riesiges Netzwerk aus Mitschuldigen, Mitwissenden und Helfenden, die diese Morde ermöglichten.  Es war schmerzhaft zu begreifen, dass so etwas in Deutschland passieren kann. Ehrlich gesagt hält meine Fassungslosigkeit darüber immer noch an. Noch immer verstehe ich nicht, wie die staatliche Aufarbeitung so mangelhaft sein kann.

Derya Binışık arbeitet als Bildungsreferentin mit Jugendlichen im Bereich Antidiskriminierung, Empowerment und Erinnerungspädagogik. Theoretisch und aktivistisch ist sie besonders aktiv im Kontext von Feminismus, Migration und Antirassismus. Außerdem ist sie im queerfeministischen Kollektiv „she*claim“ aktiv.

Die Anschläge und Morde zielten hauptsächlich auf migrantische Kleinunternehmer ab. Bekannt sind die zwei Anschläge in dem Lebensmittelgeschäft der Kölner Probsteigasse 2001 und drei Jahre später in einem Frisörsalon in der Kölner Keupstraße. Zudem wurden alle neun Opfer in ihren eigenen Läden ermordet. Die Opfer sind alles Menschen, die selbstständig tätig waren. Ein Angriff darauf bedeutet also ein Angriff auf bestehende gesellschaftliche Verhältnisse, indem der NSU versuchte den Teil der Gesellschaft mit Migrationsgeschichte in ihrer Existenz zu bedrohen. Fühlten Sie sich aufgrund Ihrer Familiengeschichte auch selbst von diesem Angriff betroffen?

Lange Zeit nicht. Für mich spielte es keine Rolle, dass mein Vater aus der Türkei kommt. Ich komme vom Land, wir waren die einzigen Ausländer*innen dort und ich habe mich immer sehr stark anpassen wollen. Ich hatte nie eine Community in der es normal war, türkisch zu sein.

Das der NSU mit seinem Terror auch meine Familie bedrohte, wurde mir beim Theaterstück NSU Monologe von der Bühne für Menschenrechte deutlich. Im Stück geht es um die Perspektiven der Angehörigen des NSU. Sie sprachen viel über die Unternehmen, die die Menschen führten. Über das Blumengeschäft Enver Şimşeks, der im Jahr 2000 als erstes Opfer des NSU in Nürnberg ermordet wurde und den damals kürzlich geöffneten Schlüsseldienst von Theodoros Boulgarides, der zwei Wochen nach seiner Ladeneröffnung 2005 ermordet wurde. Es ist die Kombination aus diesen Faktoren: türkischer oder griechischer Familienhintergrund und Kleinunternehmer. Als ich die Struktur hinter den Morden verstand, wurde mir schlagartig bewusst, dass auch mein Vater und meine Familie Opfer des NSU hätten sein können.

Mein Vater hatte damals einen kleinen Computer-Laden, in dem er Ende der 90er Jahre bis 2009 Computer reparierte. Es war der einzige Computerladen weit und breit. Das war genau zu der Zeit, in der der NSU aktiv war. Der Laden meines Vaters war also ein potentielles Ziel für den NSU. Menschen wie ihn wollten sie mit ihrem Terror angreifen. Das Schicksal der heutigen Angehörigen hätte auch das meiner Familie sein können. Es war eine furchtbare Erkenntnis. Ich weiß nicht, ob sich mein Vater dessen bewusst war.  Ich erinnere mich aber an diese rassistische Grundstimmung der 90er Jahre, in der sich viele Menschen die als türkisch, griechisch oder nicht-weiß markiert wurden, ständig bedroht fühlten. Es gab all die rassistischen Brandanschläge in Mölln, Solingen und Hoyerswerda. Heute weiß ich, dass auch mein Vater davor Angst hatte und sich damals nicht sicher fühlte in Deutschland. Das weiß ich aber erst seit einiger Zeit, darüber haben wir damals nie gesprochen.

Sie sprachen von der Unbegreiflichkeit darüber, dass es so etwas wie den NSU über so lange Zeit geben konnte. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der staatlichen Aufarbeitung und welche Forderungen ergeben sich für Sie?

Die staatliche Aufarbeitung durch die Untersuchungsausschüsse und das Prozessurteil in München waren sehr enttäuschend. Jedoch habe ich vom deutschen Staat und der Justiz nichts Anderes erwartet. Für eine lückenlose Aufklärung des NSU Komplexes, also zur Beantwortung dessen, wer alles daran beteiligt war und welche Verantwortung staatliche Institutionen dabei spielten, bedürfte es einer fundamentalen Kritik am Staat selbst. Es müssten Positionen neu besetzt werden und Institutionen wie der Verfassungsschutz grundlegend hinterfragt werden. Da es dem Staat jedoch immer um den Erhalt des Status quo geht, kann dieser sich nicht selbst auf die Anklagebank setzen. Das wäre jedoch die richtige Konsequenz gewesen. Die Berichterstattung, die Polizei und die Ermittlungskommissionen, der Verfassungsschutz; all das hätte verurteilt werden müssen.

Wie hätte eine staatliche und gesellschaftliche Aufarbeitung aussehen können?

Den vielen antirassistischen Recherchen, die Ergebnisse der Arbeit der Nebenkläger*innen und all den Erkenntnissen, die während den Verhandlungen herausgekommen sind, hätte man nachgehen müssen. So viele Menschen, die an den Verbrechen beteiligt waren, wurden nicht verurteilt. Höchstwahrscheinlich waren noch viel mehr Menschen beteiligt als von denen wir wissen. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft das Wissen über Helfende aufzuklären. Die Frage danach, wer angeklagt wird, müsste die Justiz übernehmen und nicht die Betroffenen. Ich wünsche mir, dass es eine öffentliche Auseinandersetzung über den Umgang mit den Angehörigen gäbe. Die Belastungen, die sie aufgrund der rassistischen Ermittlungen, der Ausgrenzungserfahrung, dem Ausschließen ihres Wissens und dem Verlust ihrer geliebten Menschen ertragen mussten, muss öffentlich werden. Darin sehe ich auch die Aufgabe der Regierung. Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit für das Thema. Mehr Mahnmale und öffentliche Gedenktage. Die Erinnerung an die Opfer des NSU müssen Teil deutscher Erinnerungskultur werden. Es muss daran erinnert werden, dass der NSU ein ganz dunkles Kapitel der deutschen Geschichte ist. Dazu zählt auch, dass die rassistische Kontinuität in der deutschen Geschichte und Gegenwart von staatlicher Seite aus sichtbar gemacht wird.

Sie arbeiten als Bildungsreferentin für Erinnerungspolitik mit Jugendlichen. Warum arbeiten Sie im Bereich der Bildungsarbeit und warum ist Ihnen antirassistische Arbeit wichtig?

Diese Frage kann ich nur durch meine persönlichen Erfahrungen beantworten. Ich bin in einem kleinen, deutschen Dorf aufgewachsen, in dem meine türkische Identität keine Rolle spielte. Bis zu meinem Auszug mit 19 Jahen habe ich diese als etwas Negatives und Unerwünschtes betrachtet. Erst in Berlin habe ich Menschen mit ähnlichen Biografien wie meiner kennen gelernt. Dadurch habe ich angefangen meine eigene Familiengeschichte neu zu betrachten und mich selbst darin zu positionieren. Vor allem in politischen Kontexten konnte ich daraus Stärke ziehen. Zu verstehen, was struktureller Rassismus bedeutet und dass ich meine Rassismuserfahrungen mit anderen Menschen teilen kann, die ähnliche Erfahrungen machen, war sehr empowernd für mich. Diese Erfahrung machen zu können, wünsche ich allen Menschen, die von Rassismus und anderen Formen von Diskriminierung betroffen sind.

Ich habe den Anspruch, dass Menschen, die ähnlich positioniert sind wie ich oder alltäglich schlimmere Erfahrung mit Diskriminierung machen, nicht jeden Tag so viel Gewalt erleben müssen. Ich selbst hätte mir gewünscht in der Schule nicht dieses Stigma der Ausländerin zu haben und ich würde mir wünschen, dass das anderen Menschen erspart bliebe. Daraus ziehe ich meine Motivation. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die frei von Diskriminierung und Herrschaftsverhältnissen ist. Wenn wir uns verbünden und unsere Wut bündeln, um gemeinsam gegen Ungleichheitsverhältnisse anzukämpfen, bestärken wir uns nicht nur gegenseitig, sondern setzen auch viele tolle Projekte und Ideen um.

Von welcher Wut sprechen Sie genau und inwiefern kann Wut im Kampf gegen Ungleichverhältnisse gebündelt werden?

Mein antirassistischer Aktivismus profitierte sehr von meinem Feminismus. Bevor ich mir meiner eigenen Betroffenheit von Rassismus klar wurde, wurde ich mir meiner Rolle als Frau in dieser Gesellschaft bewusst. Bevor mir klar wurde, dass ich von Rassismus betroffen bin, habe ich mich als Person wahrgenommen, die von Sexismus betroffen ist, die in einem patriarchalen System lebt. Was ich vor allem aus meinem Feminismus ziehe, ist die Wut über die ungleichen Machtverhältnisse. Diese Wut ist wichtig und produktiv. Durch den Feminismus habe ich gelernt, wütend zu sein und diese Wut möchte ich auf meinen antirassistischen Aktivismus übertragen, der aus der eigenen Betroffenheit kommt.

Ich erlebe es bei mir selbst und bei Menschen um mich herum. Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben oder denen eine zugeschrieben wird, neigen oft dazu ihre Wut runterzuschlucken und in einen offenen, toleranten Diskurs zu gehen, um zu zeigen, dass sie auch Teil der Gesellschaft sind, in der wir leben. Aber wir sollten nichts runterschlucken, das machen wir Feminist*innen ja auch nicht. Der Feminismus drischt nach vorn und sagt „Jetzt reicht es!“ und genauso sollte das im Antirassismus auch sein. Ich will mich nicht mehr entschuldigen und ich muss auch Niemanden der mir blöd kommt versöhnlich aufnehmen, damit mein Gegenüber nicht noch rassistischer wird. Rassismus, den wir erfahren, ist nicht unsere Schuld und dafür müssen wir uns nicht entschuldigen. Wie gewaltig der Rassismus in dieser Gesellschaft ist und was er für Leid produziert, wird im NSU-Komplex besonders sichtbar, deswegen halte ich eine angemessene Aufarbeitung dessen für besonders wichtig.

Wie kann eine angemessene Erinnerungspolitik zum NSU-Komplex aussehen und welche Fragen müsste sich ein erinnerungspädogisches Konzept über den NSU stellen?

Eine angemessene Erinnerungspolitik zum Thema würde damit beginnen, einen Teil der kollektiven deutschen Identität grundlegend zu hinterfragen, in der sich Deutschland als „Weltmeister in der Aufarbeitung“ bezeichnet. Demnach seien sich Menschen aufgrund der deutschen Aufarbeitungspolitik seit der Shoah bewusst darüber, wie schlimm Rassismus sei, was dazu führt, dass Rassismus nicht als gesamtgesellschaftlichen Problem verhandelt wird. Stattdessen wird Rassismus ausschließlich mit rechter Gewalt in Verbindung gesetzt. Das finde ich sehr problematisch. Täglich erleben Menschen in Deutschland strukturelle und physische Gewalt durch Rassismus. Da gibt es so viele blinde Flecken. Um sich das einzugestehen bedarf es ein neu-lernen und ver-lernen von rassistischem Wissen. Erinnerungspolitik zum NSU würde daher für viele Menschen große Anstrengung bedeuten.

Das merke ich auch in meiner Arbeit zu Erinnerungskultur in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Es ist nach wie vor ein sehr sensibles und anspruchsvolles Thema. Aber uns ist klar was wir vermitteln und was unsere Rolle darin ist, weil unsere Generationen an den Gräueltaten nicht direkt beteiligt waren, wenn dann unsere Großeltern. Wir können die NS-Zeit also von unserer jetzigen Identität und unserer gesellschaftlichen Verortung distanziert betrachten. Ganz im Unterschied zum NSU, den wir alle miterlebten und uns fragen müssen, inwiefern wir daran beteiligt waren und sind. Ich denke, das ist der Grund dafür, dass eine gesellschaftliche Aufarbeitung dessen so schwer fällt: Denn, es ist anstrengend sich einzugestehen, selbst Teil einer Struktur zu sein, die solche Taten ermöglicht. Zumal die Austriebe des NSU weiter existieren, wie beim NSU 2.0 in Frankfurt sichtbar wird. Deswegen glaube ich, dass Erinnerungspolitik zum NSU eine kollektive Identitätskrise auslösen würde.

Schließlich müsste sich ein Erinnerungspädagogisches Konzept zum NSU die anklagenden Fragen stellen, wie das Netzwerk des NSU über Jahrzehnte hinweg bestehen konnte? Wir sind alle mitschuldig daran, dass nach der Selbstenttarnung ein gesellschaftlicher Aufschrei ausblieb, der eine staatliche Aufklärung hätte fordern müssen, die über die Trio-Kernthese hinausgeht. Dieses Versagen anzuerkennen und sich verantwortlich dafür zu machen, erfordert noch viel Arbeit.

 

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