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Incel-Anschlag in Plymouth Die tödliche Ideologie der Frauenhasser

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Biddick Drive im englischen Plymouth: Dort ermordete ein Anhänger der Incel-Subkultur fünf Menschen und schließlich sich selbst.
Biddick Drive im englischen Plymouth: Dort ermordete ein Anhänger der Incel-Subkultur fünf Menschen und schließlich sich selbst. (Quelle: picture alliance/Associated Press/Ben Birchall)

„Ich fühle mich so niedergeschlagen. So besiegt. Die Energie, die ich einmal hatte, ist weg. Ich habe keine Kraft mehr, weiterzumachen“, sagt der junge Mann in die Kamera. Er spricht darüber, wie hart er es „versuchen“ würde, im Leben erfolgreich zu sein – vergebens. Über seinen Frust, andere zu sehen, die es angeblich so viel einfacher hätten als er. Er beschimpft sich selbst als „fette Jungfrau“, spricht über seinen Wunsch, einfach aufzugeben. Es ist das Dokument eines schwer depressiven jungen Mannes, der dringend professionelle Hilfe benötigt. Zum Ende des Videos zieht der junge Mann mit lockigem braunen Haar und etwas zauseligem Bart Parallelen zur Filmreihe „Terminator“: die Welt stehe am Rande des Abgrundes, überrollt von unaufhaltsamen Killermaschinen. Dennoch würde die Menschheit bis zum bitteren Ende weiterkämpfen. „Ich weiß, dass es nur ein Film ist“, sagt er, „aber manchmal stelle ich mir vor, ich sei der Terminator oder so.“ Er lächelt, das erste Mal in dem gesamten Video. Es ist das Lachen eines Täters: am 12. August 2021 wird der 22 Jahre alte Mann fünf Menschen ermordet haben, darunter seine eigene Mutter und ein gerade erst drei Jahre altes Kind. Nach seinem zwölf Minuten andauernden Amoklauf erschießt er sich selbst.

Die Videos des Plymouth-Attentäters, als auch seine Postings auf dem Forum Reddit geben einen ausgesprochen deutlichen Einblick in die Ideologie der Incel-Community: ihre Obsession mit dem eigenen Aussehen, da attraktives Äußeres als der Schlüssel zu einem erfüllenden Leben betrachtet wird. Die Enttäuschung darüber, wichtige Meilensteine jugendlichen Erlebens wie das erste Mal Knutschen, die erste Beziehung, das erste Mal Sex verpasst zu haben und sich im Vergleich zu Gleichaltrigen deswegen ungenügend zu fühlen. Vor allem zeigen sie auf, wie die maskulinistische Ideologie von Incels und Männerrechtlern einen vereinzelten und depressiven jungen Mann radikalisiert hat (die Accounts auf Reddit, als auch YouTube wurden inzwischen gelöscht, das Material liegt der Belltower.News jedoch vor).

Reddit ist ein großes Forum mit zehntausenden Unterforen, sogenannten „Subreddits“ zu allen erdenklichen Themen: Memes, Hundewelpen, Hobbies, politische Inhalte. Diese sind sowohl progressiver, als auch reaktionärer Natur. Im Juni 2021 veröffentlicht der Plymouth-Attentäter auf dem Subreddit r/RateMe einige Bilder und Videos von sich, mit der Bitte, sein Äußeres zu bewerten. Des Weiteren schreibt er, dass es ihm schwerfällt, Matches auf Dating-Apps zu finden und seine daraus resultierende Unsicherheit bezüglich der eigenen Attraktivität. „Ich habe seitdem ich 17 Jahre alt bin, nicht mehr mit einem Mädchen gesprochen, und jetzt habe ich das Gefühl, dass es unmöglich ist, Mädchen überhaupt kennen zu lernen“, schreibt er. Auch hier zeigt sich ein tiefliegendes Problem der Incel-Szene, das auch beim Großteil heterosexueller Männer auftritt: Frauen werden ausschließlich als potentielle Partnerinnen betrachtet. Anstatt Frauen als Menschen zu begegnen, wird jede Interaktion von vornherein mit sexuellen Erwartungen besetzt. Wagt es eine Frau, diese Erwartungshaltung nicht zu erfüllen, resultiert dies aufgrund patriarchaler Anspruchshaltungen gegenüber Frauen in narzisstischer Kränkung und Bestätigung der Blackpill-Ideologie: „Diese Frau begehrt mich nicht, das bedeutet, dass sie nur Chads attraktiv findet, ich ihr zu hässlich bin, und dies bestätigt, dass Frauen allesamt oberflächlich und gemein sind.“

Die eigene Unsicherheit aufgrund patriarchaler Zurichtung wird also auf Mädchen und Frauen projiziert. Obwohl die Antworten, die er erhält, ihm vermitteln dass andere User:innen einem Date mit ihm nicht abgeneigt wären, offenbart er seine Unfähigkeit, junge Frauen um Verabredungen zu bitten, was in Frust über sich selbst, als auch über Frauen resultiert. Auch der Incel-Attentäter von Santa Barbara, der 2014 zwölf Menschen ermordete, beschreibt in seinem Manifest die paradoxe Anspruchshaltung auf Dates in Verbindung mit einem absoluten Mangel an Bereitschaft, soziale Zusammenhänge aufzusuchen, in denen er soziale Kontakte zu Frauen knüpfen könnte.

Andere Subreddits, die der Plymouth-Attentäter frequentierte, sprechen eine deutliche Sprache seiner verbitterten Weltsicht: es sind Incel- und Blackpill-Foren wie r/UglyUncensored, r/doomer und r/MensRights, aber auch die neutralen Subreddits r/virgin und r/depression. Auf Foren wie r/MensRights lamentiert er darüber, wie schlecht es Männer doch hätten, und dass Frauen sich darüber nicht im Klaren seien. Anstatt Männern Mitleid aufgrund des Elends hegemonialer Männlichkeitsanforderungen entgegenzubringen, würden Frauen lieber über das Patriarchat jammern.

Feindbild Frau

In einer patriarchalen Gesellschaft, die Jungen und Männern permanent suggeriert, sie seien Versager, wenn sie daran scheitern, solchen Männlichkeitsvorstellungen zu entsprechen, sind Frustrationsgefühle sehr verständlich. Wie die Geschlechterforscherin Raewyn Connell in ihrem Standardwerk „Der gemachte Mann“ analysiert, ist die Performance von Männlichkeit immer auf der Abwertung des Nicht-Männlichen, wie Frauen oder nicht-binären Menschen aufgebaut; innerhalb binnenmännlicher Kontexte auf der Abwertung von „weniger männlichen“ Männern. Die gesellschaftlich reproduzierten Idealvorstellungen von Männlichkeit, zu denen auch sexuelle Potenz und Attraktivität zählen, werden internalisiert, genauso wie Selbstzweifel, wenn man nicht in der Lage ist, ihnen zu entsprechen.

Dennoch führt der Frust über die Unerreichbarkeit dieses Geschlechterideals, das kaum etwas anderes ist als ein ideologisch aufgeladenes und reaktionäres Fantasiegebilde, in der Regel nicht dazu, dass Männlichkeit hinterfragt wird. Denn anstatt den für viele Jungen und Männer radikal erscheinenden Schritt zu gehen, das eigene Geschlechterkollektiv zu hinterfragen – und sich demzufolge potentiellen Repressionen aufgrund von „Unmännlichkeit“ auszusetzen – gehen sie den viel einfacher erscheinenden Schritt, den die Incel-Community ihnen offeriert: sie machen Frauen für ihr Leid verantwortlich. Frauen sind schließlich ein ohnehin gesellschaftlich designiertes Feindbild, und Incels können sich trotz ihrer Selbstzweifel, ob sie denn als „unfreiwillig zölibatäre“ Jungfrauen überhaupt Mann genug sind, immer noch als Teil ihres Phallus-Kollektivs fühlen, in dem sie Frauen abwerten. So auch beim Plymouth-Attentäter, der sich über Feminismus echauffiert, anstatt zu erkennen, dass feministische Kämpfe letztendlich auch ihn von seinem Leid befreien würden.

Laut dem Sozialpsychologen Rolf Pohl befindet sich heterosexuelle Männlichkeit im Patriarchat in einem immerwährenden Dilemma: einerseits ist man als Mann auf die Abwertung von Frauen angewiesen, andererseits genauso auf die Anerkennung durch Frauen, um sich wie ein richtig erfolgreicher „Stecher“ fühlen zu können. Incels verwehren es sich jedoch, überhaupt potentieller Empfänger weiblicher Zuneigung und Aufmerksamkeit werden zu können. Sie gehen davon aus, dass Frauen ausschließlich die „obersten 20 Prozent“ der Männer, die sogenannten „Chads“, begehren und allen anderen Männern, Incels im Besonderen, nur Verachtung entgegenbringen können. Erschwerend kommt das Frauenbild von Incels hinzu, die selbst Frauen zwar projektiv Oberflächlichkeit attestieren, jedoch niemals auf die Idee kämen, eine Beziehung zu einer Frau zu erwägen, die über eine eigenständige und selbstbestimmte Sexualität verfügt, und die tatsächlich Subjekt ist anstatt sexualneurotische Männerfantasie (der Attentäter von Plymouth schrieb jedoch, er sei nicht sonderlich wählerisch, seine Partnerin solle nur „nicht fett“ sein).

Sexismus und Antifeminismus fungieren als „Türöffner“ in rechtes Denken, und in diesem Fall ist es nicht anders. Jungen und Männern im Patriarchat wird eine gesellschaftliche Vormachtstellung aufgrund ihres Geschlechts vermittelt. Kontrastiert diese mit den eigenen Erfahrungen – in diesem Fall: sexuelle und berufliche Erfolglosigkeit – resultiert dies in einer narzisstischen Kränkung. Anstatt diese mittels professioneller Hilfe oder einem solidarischen Umfeld aufzuarbeiten, bieten Männerrechtler im Internet, die gezielt ihre Propaganda verbreiten, um frustrierte und vereinzelte Männer wie den Plymouth-Attentäter zu rekrutieren, eine so einfache wie falsche Lösung: Frauen sind Schuld. „Das Lesen über die Blackpill und Redpill und dass sich Feministinnen über Männer beschweren gibt mir das Gefühl, dass es unmöglich ist, eine Freundin zu finden“, schrieb er auf dem Subreddit r/virgin. Der Beitrag offenbart, dass er kognitiv weiß, dass die über Manosphere-Seiten vermittelte Ideologie falsch ist, er jedoch sozial isoliert und das Internet jedoch „seine einzige Form der Unterhaltung“ sei.

Wer sich hauptsächlich in virtuellen Echokammern aufhält und die dort vermittelten Inhalte nicht kritisch mit der Realität abgleicht, läuft Gefahr, dass die dort rezipierte Ideologie die Wahrnehmung von sowohl der eigenen Person, als auch der Außenwelt, übernimmt. Bei Incels zeigt sich dies besonders deutlich. Obwohl der Täter von Plymouth mitnichten so hässlich war, wie er glaubte, war er obsessiv mit „Looksmaxxing“ beschäftigt: so nennt die Redpill- und Blackpill-Szene das Verbessern des eigenen Aussehens durch zum Beispiel Sport. Obwohl er, vor allem durch die Pandemie bedingt, kaum Kontakt zu Frauen hatte, geht er davon aus, dass Frauen in der Regel manipulativ und hypergam seien. Erfuhr er auf seine Fragen Widersprüche oder Kritik, ließ er diese nicht gelten. Stattdessen fand er Bestätigung im Antifeminismus. Es ist nicht verwunderlich, dass er sich für andere regressive Positionen wie Marktchauvinismus, die Glorifizierung von Schusswaffen oder den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump begeisterte (siehe Newsweek).

Der Anschlag als Racheakt

Der Plymouth-Attentäter brauchte professionelle Hilfe. Auf dem Subreddit r/IncelExit, auf dem User ihr Leid unter der Blackpill-Ideologie darlegen, hatten andere Nutzer:innen versucht, ihn von seiner Weltsicht abzubringen. Auch seine Mutter versuchte, ihn zur Therapie zu bewegen und kritisierte seine Frauenfeindlichkeit (siehe Metro). Leider suchte der Täter anstatt einer Therapeutin gefährliche Online-Communities auf – vielleicht auch, weil es vielen Jungen und Männern unangenehm ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich mit der eigenen Psyche kritisch auseinanderzusetzen.

Es ist keine Seltenheit, dass Incels ihre Mütter für ihr Leid verantwortlich machen: Laut Rolf Pohl kann eine unvollständige Ablösung von der Mutter Männer verstärkt auf ihr Abhängigkeitsverhältnis zu Frauen zurückwerfen, was als Versagen vor dem männlichen Autonomieanspruch aufgefasst und letztendlich jedoch der Mutter angekreidet wird. „Ich habe das Gefühl, dass meine Mutter eine Rolle dabei spielt, dass ich eine männliche Jungfrau bin“, so die Überschrift eines Postings, in dem er sie als „bösartige Kreatur“ mit „vielen negativen Eigenschaften“ beschreibt. Sie ist die erste Person, die er ermordete.

Die Philosophin Kate Manne beschreibt in dem Buch „Down Girl – Die Logik der Misogynie“ das Phänomen des „erweiterten Suizids“, als der auch die Tat des 12. August 2021 eingeordnet werden kann. Häufig sind Mitglieder der eigenen Familie Opfer dieses erweiterten Suizides. Manne findet die Ursache dieser Taten in der Unfähigkeit, mit Scham umzugehen, in diesem Falle die Scham, eine „männliche Jungfrau“ zu sein: „Statt sich [vor Scham] zu verstecken, kann man den Zuschauer beseitigen. ‚Derjenige, der beschämt ist, möchte die Welt zwingen, ihn nicht anzusehen und seine Blöße nicht zu bemerken. Er möchte die Augen der Welt zerstören‘ wie Erik Erikson es in einem berühmten Ausspruch formulierte (1963, S. 227). Das männliche Personalpronomen mag an dieser Stelle unwillentlich vielsagend sein.“ Das Versagen vor und an gesellschaftlichen Ansprüchen an erfolgreich dargestellte Männlichkeit (und damit auch romantischer und sexueller „Erfolg“) kann für einige Männer unaushaltbar werden, und vielleicht dient auch hier die Gewalttat einer „Wiedergutmachung“ der Kränkung, sich selbst als Versager wahrzunehmen. Diese Täter würden sich schämen, so Manne, und glauben, andere dafür bestrafen zu müssen, ihr vermeintliches Versagen wahrgenommen zu haben – im Extremfall, in dem man ihnen das Leben nimmt.

Der Anschlag ist für diese online radikalisierten Attentäter nämlich der Moment, in dem sie sich über die Masse an „Normies“ erheben können, und über den sie glauben, ihren Fußabdruck in der Geschichte der Gesellschaft zu hinterlassen: die Welt war ihnen gegenüber ungerecht, und nun kriegt sie die Rache des Täters zu spüren.

Von Zero zu Hero?

Zumindest innerhalb der Incel-Community ging der Plan des Täters auf. Neben der nach Incel-Anschlägen üblichen Diskussion, ob der Mörder nun wirklich ein Incel gewesen sei oder die Tat nur von Medien als solche gelabelt würde, um Incels schlecht dastehen zu lassen, oder der Analyse des Äußeren von Tätern, wird der Täter hier als Held gefeiert. Einige User haben sein Konterfei bereits als Profilbild eingerichtet. Mitleid gegenüber den Opfern sucht man vergeblich, stattdessen werden Frauen für den Anschlag verantwortlich gemacht: hätten sie mit dem Täter Sex gehabt, wäre dies alles nicht geschehen. So wird die Verantwortung für patriarchale Gewalt auf deren Opfer verlagert und aus Misogynie begangene Taten legitimiert. In einem besonders Ekel erregenden Post wird sogar das ermordete Kind verhöhnt: „Wäre die Dreijährige, die er getötet hat, zu einer Frau aufgewachsen die Männer verarscht?“

Erst nach längerer Diskussion über den politischen Hintergrund der Tat wurde seitens britischer Behörden überlegt, die Tat als Terrorakt zu klassifizieren. Angesichts der Tatsache, dass innerhalb der letzten zwei Jahre die britische Polizei zwei unabhängig voneinander geplante Incel-Anschläge verhindern konnte, wäre die Klassifizierung von explizit aus Misogynie und Antifeminismus heraus motivierten Terroranschlägen ein notwendiges politisches Signal (siehe Sky News). Es wäre fatal, das Shooting von Plymouth als die Tat eines depressiven oder verzweifelten „Verrückten“ und „Einzeltäters“ zu labeln: dies würde psychische Krankheiten statt dem systematischen Unterdrückungsmechanismus Misogynie als Ursache der Tat nennen und diese so auf eine individuelle und entpolitisierte Ebene verschieben. Es ist zwingend notwendig, Attentate wie das in Plymouth als Akte zu begreifen, die in gekränkter Männlichkeit und dem Wunsch, diese durch den Gewaltakt wieder herzustellen, resultieren. Es handelt sich um spezifisch männliche Gewalt, die innerhalb einer jeden cis-männlichen Sozialisation innerhalb patriarchaler Strukturen angelegt ist, und der nur mit Feminismus, solidarischem Miteinander, und letztendlich einer Überwindung des Geschlechterverhältnis begegnet werden kann.

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