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Interview mit Martin Steinhagen „Der erste Mord an einem hochrangigen Amtsträger der Bundesrepublik seit 1945“

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Titelbild des Buches "Rechter Terror. Der Mord an WalterLübcke undd ie Strategie der Gewalt" von Martín Steinhagen. (Quelle: Rowohlt-Verlag )

In der Nacht vom 01. auf den 02. Juni 2019 wurde der CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha (Hessen) durch einen gezielten Kopfschuss ermordet. Der Neonazi Stephan E. wurde Ende Januar 2021 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Martín Steinhagen hat den Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/Main begleitet und vor wenigen Tagen das Buch „Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ veröffentlicht.

Das Interview führten Nikolas Lelle und Timo Büchner.

Wo sind sich Walter Lübcke und sein Mörder zum ersten Mal begegnet?

Sie sind, soweit bekannt, im Oktober 2015 das erste Mal auf einer Bürgerversammlung im nordhessischen Lohfelden aufeinandergetroffen. Lübcke informierte die Bevölkerung über eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Es waren Menschen aus dem „Kagida“-Umfeld („Kassel gegen die Islamisierung des Abendlandes“, Anm. d. Red.) anwesend. Sie provozierten, störten. Lübcke reagierte. Er sagte an einer Stelle: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ Markus H., der die Bürgerversammlung mit dem späteren Mörder Stephan E. besuchte, filmte und stellte einen Ausschnitt noch am Abend ins Internet. Innerhalb weniger Tage wurde Lübcke zur Hassfigur im rechten Milieu. Die Rechten behaupteten, Lübcke habe gefordert, dass alle, die nicht mit der Asylpolitik einverstanden seien, aus Deutschland verschwinden sollten. Im Buch rekonstruiere ich auch, wie dieser Abend ablief und was Lübcke vor und nach seinem Satz sagte, aber in dem bekannten Video nicht zu hören ist.

Was hatte das zur Folge?

Die rechte „Interpretation“ des Zitats passte in die Verschwörungserzählung vom Bevölkerungsaustausch. Lübcke wurde zur Projektionsfläche des Hasses, zum Prototypen des vermeintlichen „Volksverräters“. Er wurde massiv angefeindet und erhielt viele Drohmails.

Was unterscheidet den Mord an Walter Lübcke von den übrigen Todesopfern rechter Gewalt in der Bundesrepublik?

Ein Blick auf die Liste der Todesopfer rechter Gewalt seit 1989/90 zeigt, dass Menschen in vielen Fällen aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Menschen, die marginalisiert und nicht besonders geschützt waren. Es waren keine prominenten Opfer, keine Menschen mit politischen Ämtern. Der Mord an Lübcke fällt aus diesem Muster heraus. Es war der erste Mord an einem hochrangigen Amtsträger der Bundesrepublik seit 1945. Allerdings dürfen wir an dieser Stelle nicht vergessen, dass Repräsentant*innen des demokratischen Systems schon immer zur Zielscheibe rechtsterroristischer Gewalt wurden. Vor, während, aber auch nach dem Nationalsozialismus. Ich denke beispielsweise an die „Deutschen Aktionsgruppen“, die 1980 einen Anschlag auf das Wohnhaus eines Landrats verübten. Im Buch rekonstruiere ich auch Teile dieser langen Tradition des Terrors, in dem das Attentat auf Lübcke steht.

War der Mord an Lübcke eine Zäsur?

Selbstverständlich war die Tat für alle eine Zäsur, die davon betroffen sind, deren Leben jetzt ein ganz anderes ist: Angehörige, Freund:innen, Wegbegleiter:innen. Wenn man aber nach den Konsequenzen fragt nach dem Mord – und man muss ja leider dazu sagen: nach den Anschlägen von Halle und Hanau nur Monate danach – kann man aus meiner Sicht politisch noch nicht von einer Zäsur sprechen, die alles verändert hat. Dafür hat sich bislang zu wenig geändert im Umgang mit rechtem Terror.

Der Mord geschah ja nicht im luftleeren Raum. Das gesellschaftspolitische Klima hat sich gewandelt: Der Hass gegen Politiker*innen, Geflüchtete, Juden*Jüdinnen, Schwarze Menschen mündet in rechten Terror. Welche ideologischen Parallelen sehen Sie zwischen der Ermordung Lübckes und den beiden Anschlägen in Halle/Saale 2019 und Hanau 2020?

Die genannten Anschläge eint insbesondere die Ideologie der Ungleichwertigkeit, die mit Vernichtungsfantasien einhergeht. Hinzu kommt die Vorstellung von einem vermeintlichen „Bevölkerungsaustausch“, einer prägenden Erzählung in der extremen Rechten. Sie verbindet unterschiedliche Milieus und kommt in verschiedenen Nuancen zum Ausdruck. Sie ist häufig gepaart mit einer bestimmten Männlichkeitsvorstellung. Der Vorstellung, man sei der Verteidiger „des Deutschen“, der Märtyrer, der das „deutsche Volk“ beschützt. Alle drei Täter wurden zudem von gesellschaftspolitischen Diskursen beeinflusst. Ein Beispiel: Der Mörder Lübckes erzählte in einem seiner Geständnisse, es habe mehrere „Schlüsselerlebnisse“ gegeben, die ihn zur Tat motiviert hätten. Er nannte etwa die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 und islamistische Anschläge in Europa. Er selbst sprach von „Schlüsselerlebnissen“, obwohl er das keineswegs erlebt, sondern lediglich in seiner rechten Medienblase rezipiert hat.

Am Beginn des Buches zitieren Sie den Frankfurter Juristen Fritz Bauer mit den Worten „Sie müssen wissen, es gibt einen Eisberg, und wir sehen einen kleinen Teil und den größeren sehen wir nicht“. Sie haben ergänzt: „Noch immer nicht.“ Wurde – und wird – rechter Terror in Deutschland unterschätzt?

Das Zitat steht auf einer Plakette, die in der Nähe des Oberlandesgerichts angebracht wurde. Bauer hat die Worte im Kontext der NPD-Gründung gesagt. Er wurde gefragt, ob man sich, salopp gesagt, wegen den paar Nazis überhaupt Sorgen machen müsse. Die Unterschätzung und Verharmlosung der extremen Rechten und des Rechtsterrors hat in der Geschichte der Bundesrepublik eine lange Tradition. Wir haben als Gesellschaft bis heute keinen angemessenen Umgang damit gefunden und das Vergessen und Verdrängen hat einen Einfluss auf die Betrachtung rechten Terrors heute.

War Stephan E. ein Einzeltäter?

Das kommt darauf an, wie man das meint. Er wurde als Alleintäter verurteilt. Nach Einschätzung des Gerichts soll er ohne Begleitung auf der Terrasse gewesen sein und geschossen haben. Der Mörder selbst behauptet, er sei gemeinsam mit Markus H. vor Ort gewesen. Aber H. wurde vom Anklagevorwurf der Beihilfe zum Mord in erster Instanz freigesprochen. Verstehen lässt sich die Tat jedenfalls nicht ohne das Umfeld des Täters. Er selbst wähnte sich wohl als Teil einer Bewegung: „Wir werden immer mehr“, schrieb er einmal eine WhatsApp-Nachricht, auf die ich bei der Recherche gestoßen bin.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagte im Nachgang der Tat, Stephan E. sei mit Blick auf seine politische Laufbahn ein „Schläfer“ gewesen. Wie würden Sie den Tätertypus beschreiben?

Ein „Schläfer“ zieht sich absichtlich zurück, verhält sich unauffällig und wartet auf einen Befehl von außen, um loszuschlagen. Im Falle Stephan E.s waren die Sicherheitsbehörden überzeugt, er sei nach einer langen Karriere in der militanten Neonazi-Szene „abgekühlt“. Ich teile die Einschätzung nicht. Er ist nicht abgekühlt, sondern hat sich gehäutet. E. stammt aus der „Generation NSU“ („Nationalsozialistischer Untergrund“, Anm. d. Red.), die in den gewaltvollen 1990er-Jahren sozialisiert wurde. Er hat sich im Laufe der Jahre aus biografischen Gründen aus der ersten Reihe der Kameradschaftsszene zurückgezogen und ist spätestens 2015 im Kontext der rassistischen Mobilmachung wieder aktiv geworden. Dabei hat er das Milieu gewechselt: Fortan agierte er im AfD-Umfeld.

Welche Rolle spielte die AfD im Leben des Mörders?

Stephan E. war ein AfD-Sympathisant. Er besuchte Stammtische und mehrere Veranstaltungen der Partei, er montierte Wahlplakate und spendete. Er war offensichtlich fasziniert von Björn Höcke, besuchte mehrmals Kundgebungen, auf denen dieser sprach. Die AfD war offenbar ein Ort, an dem er sich politisch zu Hause gefühlt hat. Der Gerichtsprozess gab auch Einblicke in sein berufliches und privates Umfeld. Stephan E. hat mit Kollegen während der Arbeit über politische Themen gesprochen, im Pausenraum lagen die islamfeindlichen Blätter „Compact“ und „Junge Freiheit“.

Wieso haben Sie sich dazu entschieden, ein Buch darüber zu schreiben?

Ich habe nach dem Tag der Festnahme von E. damit begonnen, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Anfangs habe ich mit Kolleg*innen der „Zeit“ dazu recherchiert, später mit anderen zwei Filme zum Thema gemacht und dann den Prozess beobachtet. Wenn man aktuell berichtet, gibt es aber immer Aspekte, die man nicht beleuchten kann. Im Buch versuche ich daher, den größeren Kontext zu beschreiben, um auch einen historischen Blick auf die Tat zu ermöglichen und das gesellschaftliche Klima zu beschreiben, außerdem habe ich neue Unterlagen auswerten können.

 

Martín Steinhagen:
„Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“.
Hamburg 2021
Rowohlt-Verlag
304 Seiten
18 Euro

https://www.rowohlt.de/buch/martin-steinhagen-rechter-terror-9783499005992

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