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Interview Wie die jüdische Community Shoah-Überlebende aus der Ukraine evakuiert

Die Gedenkstätte Babyn Jar erinnert an ein Massaker der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD am 29. und 30. September 1941 in Kiew. Innerhalb von 48 Stunden ermordeten deutsche Täter mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Im März 2022 wurde die Gedenkstätte von russischen Raketen beschossen. (Quelle: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Michael Brochstein)

Mit einem Hilfsnetzwerk organisiert Aron Schuster (Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland) Evakuierungen von Shoah-Überlebenden aus der Ukraine nach Deutschland. Die Aktionswochen gegen Antisemitismus sprachen mit ihm über die Betroffenheit der jüdischen Bevölkerung im Ukraine-Krieg, die Herausforderungen der Evakuierungen und die Aufnahme der Shoah-Überlebenden im Land der Täter:innen.

Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Inwiefern beschäftigt dieser Krieg die jüdischen Gemeinden in Deutschland besonders?
Aron Schuster: Der Krieg in der Ukraine geht der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sehr nahe. 45% der Jüdinnen und Juden in Deutschland haben ukrainische Wurzeln, wodurch es zahlreiche familiäre und freundschaftliche Beziehungen in die Ukraine gibt.

Trotz dieser Tatsache, dass eben ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung jüdisch ist, beobachten wir, dass die Betroffenheit der jüdischen Bevölkerung in den Debatten um den Krieg ziemlich unsichtbar ist. Wie nehmen Sie das wahr?
Mein persönlicher Eindruck ist ein anderer, nämlich, dass sich die jüdischen Schicksale in diesem Krieg und dabei insbesondere die Überlebensgeschichten von Shoah-Überlebenden schon auch in der öffentlichen Wahrnehmung wiederfinden. Man schätzt etwa, dass der Anteil von Shoah-Überlebenden in der ukrainischen Gesamtbevölkerung bei 0,7% liegt. Das ist ein geringer Anteil und trotzdem werden diese jüdischen Perspektiven durchaus abgebildet.

Als ukrainische Geflüchtete Deutschland in Deutschland aufgenommen wurden, gab es Debatten um die Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Dabei wurde immer wieder beanstandet, dass ukrainische Geflüchtete im Vergleich zu BPoC offener aufgenommen würden, weil sie weiß und christlich seien. Jüdische Aktivist:innen haben darauf hingewiesen, dass sich unter den Geflüchteten auch viele jüdische Ukrainer:innen befinden, die durch diese Lesart unsichtbar gemacht werden.
Meinem Eindruck nach hat die Berichterstattung einen guten Job gemacht. Vor allem die Aufnahme von jüdischen Waisenkindern hat in der Medienlandschaft wirklich breite Aufmerksamkeit und Rezeption erfahren. Zwar sehe ich die Art und Weise der Berichterstattung kritisch, da ich mir eine sensiblere Umgangsweise mit der hohen Schutzbedürftigkeit minderjähriger, unbegleiteter Geflüchteter gewünscht hätte. Aber mein Eindruck war, dass gerade bei jüdischen Geflüchteten wahrgenommen wurde, dass es sich um höchstschutzbedürftige Personen handelt. Der mediale Fokus lag auf jüdischen Waisenkindern und pflegebedürftigen Shoah-Überlebenden.

Sehen Sie auch Versäumnisse?
Ich sehe einen Nachholbedarf in der Berichterstattung über die lange Geschichte jüdischen Lebens in der Ukraine. Es geht unter, wie wichtig diese Geschichte ist. Ich denke da an den Chassidismus, der einen Großteil seiner Wurzeln in der Ukraine hat. Das ist sicherlich ein Gegenstand, der bisher wenig Beachtung findet. Da würde ich mir wünschen, dass die historischen Bezüge stärker dargestellt werden.

Sprechen wir über die Shoah-Überlebenden. Können Sie eine grobe Einschätzung geben, wie viele Shoah-Überlebende vom Krieg in der Ukraine betroffen sind.
Es gibt Zahlen der Jewish Claims Conference, denen zufolge sich rund 10.000 Shoah-Überlebende in der Ukraine befinden. Darunter sind 63% Frauen. Mehr als 6.000 Personen davon erfahren fortlaufend häusliche Pflege. Darunter sind wiederum 500 bis 600 schwerstpflegebedürftige Personen. Die Gruppe der schwerstpflegebedürftigen Personen war diejenige, die wir bei den ersten Evakuierungsaktionen besonders im Fokus hatten. Bei ihnen haben wir eine besondere Not gesehen, weil sie zum Teil in ihren Häusern gefangen waren. Die Evakuierungen waren für sie die letzte Möglichkeit, dem Kriegsgeschehen zu entfliehen.

Sie schildern, dass es sich um eine hoch vulnerable Gruppe von Personen handelt. Inwiefern spielt Retraumatisierung unter den Shoah-Überlebenden eine Rolle?
Retraumatisierungen spielen definitiv eine große Rolle. Unter den Shoah-Überlebenden in der Ukraine sind sehr viele Menschen, die nicht evakuierungsbereit sind. Die Herausforderung, nochmal die Flucht zu ergreifen, ruft sicherlich bei vielen Retraumatisierungen hervor und ist ein Grund dafür, warum die Evakuierungsbereitschaft deutlich geringer ist als die Zahl der Shoah-Überlebenden in der Ukraine. Retraumatisierungen zeigen sich auch, wenn Shoah-Überlebende Situationen schildern, in denen sie Parallelen zu den 1930er und 40er Jahren aufzeigen: etwa versteckt leben zu müssen oder in Kellern auszuharren. Für uns verwehrt sich ein solcher Vergleich, aber Shoah-Überlebende erkennen in ihrer eigenen Biografie durchaus Parallelen des Überlebens.

Wie nehmen die Shoah-Überlebenden ihre Ankunft in Deutschland wahr? Die ehemalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat in dem Zusammenhang von Deutschland als „sicherem Hafen“ gesprochen. Gleichzeitig haben die Überlebenden Deutschland als Ort des Grauens und Land der Täter:innen erlebt.
Viele Personen, die wir evakuiert haben, haben mehr als 70 Jahre, nachdem sie von Deutschland aus Richtung Osten vertrieben oder verfolgt wurden, die Flucht zurück angetreten und fliehen jetzt in das Land der Täter. Das ist für viele Überlebende ein ambivalentes Verhältnis. Bei den Gesprächen, die ich mit Überlebenden geführt habe, überwiegt aber die Dankbarkeit darüber, in Sicherheit zu sein. Mich beeindruckt, dass fast alle Überlebenden trotz ihres hohen Alters sagen, dass sie schnellstmöglich wieder zurückkehren wollen in ihr Heimatland.

Sie haben zusammen mit anderen Organisationen ein Hilfsnetzwerk gegründet, das Shoah-Überlebende aus der Ukraine rettet und nach Deutschland bringt. Wie kam es zu der Idee, das Hilfsnetzwerk zu gründen?
Zunächst einmal ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Menschen in der Ukraine selten in vollstationären Altenhilfen, sondern eher zu Hause gepflegt werden. Die Jewish Claims Conference, die Entschädigungsleistungen an die Überlebenden auszahlt und deren häusliche Pflege finanziert, hat sehr schnell realisiert, dass dieses System der häuslichen Pflege nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten ist und dass ein Bedarf besteht, diese Menschen zu evakuieren. Wir selber als ZWST haben in den letzten Wochen auch intensiv Menschen vor allem aus Moldawien nach Deutschland evakuiert. Das ist eine sehr strapaziöse Reise in Evakuierungsbussen. Es dauert mehr als zwei Tage, bis man dann von Moldawien über Rumänien bis nach Deutschland kommt.

Warum Moldawien?
Moldawien ist das ärmste Land Europas und hat schnell signalisiert, dass es mit der Aufnahme der vielen Geflüchteten aus der Ukraine überfordert ist. Unsere jüdischen Partnerorganisationen haben uns mitgeteilt, dass in Moldawien und gerade in der Hauptstadt Chișinău wirklich katastrophale Zustände herrschen. Dazu kommt, dass Moldawien deutlich weiter entfernt und nicht regulär über das internationale Flugnetz zu erreichen ist. Es fehlt zudem an der logistischen Struktur, die es in anderen ukrainischen Nachbarländern wie Ungarn oder Polen gibt. In Moldawien war man darauf angewiesen, dass Busse organisiert werden, die die Menschen nach Westeuropa bringen.

Wie liefen diese Evakuierungen aus Moldawien ab?
Uns war schnell klar, dass diese Art der Evakuierung für pflegebedürftige Menschen nicht infrage kommt. In den Reisebussen waren vereinzelt hochbetagte, nicht mehr mobile Personen, die an die Grenzen ihrer gesundheitlichen Kräfte in Deutschland ankamen. Es brauchte andere Wege, um diese schwerstpflegebedürftigen Menschen nach Deutschland zu evakuieren. Mit der Unterstützung der Jewish Claims Conference, Hilfsorganisationen in der Ukraine, aber auch dem Roten Kreuz konnten wir einen Prozess aufbauen, pflegebedürftige Überlebende direkt aus der Ukraine in Einzeltransporten mit Ambulanzen nach Deutschland zu bringen.

Mit welchen Herausforderungen waren Sie bei den Evakuierungen konfrontiert?
Gerade in den Anfangszeiten kam es an den Grenzübergängen von der Ukraine nach Polen immer wieder zu Problemen, weil die Ambulanzen teils von Männern im wehrfähigen Alter gefahren wurden und diese nicht die Ukraine verlassen durften. Da waren und sind wir mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Zum Teil müssen Personen an der polnisch-ukrainischen Grenze noch einmal auf Ambulanzen des Deutschen Roten Kreuzes umgelagert werden.

Welche Rolle spielt bei den Evakuierungen die Politik?
Wir stehen im engen Austausch mit der Bundesregierung. Gerade das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat sehr früh interministerielle Austauschformate implementiert, die bis heute auch wöchentlich zusammenkommen. Dort sind Vertreter des Auswärtigen Amtes, aus dem Bundeskanzleramt, aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, aus dem Bundesministerium für Gesundheit, die dann zusammen mit der Jewish Claims Conference, mit der ZWST, aber auch mit den weiteren Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege regelmäßig zusammenkommen, um die Herausforderungen der Evakuierungen miteinander zu erörtern. Wir sind vielerorts auf diese politische Unterstützung angewiesen.

Wo genau brauchen Sie die Unterstützung der Politik?
Beispielsweise kümmert sich das Auswärtige Amt um Kontakte zu Auslandsvertretungen in Polen. Vor allem aber brauchen die vollstationären Einrichtungen der Altenhilfe Handlungsspielraum bei der Unterbringung von Überlebenden. Wir haben in Deutschland hohe Standards in der Altenhilfe, die oft verbunden sind mit einem eng bemessenen Betreuungsschlüssel. Uns melden Einrichtungen, dass sie politische Unterstützung benötigen, weil zwischenzeitlich Not- oder Gästezimmer belegt werden müssen. Hier muss den Einrichtungen mehr Flexibilität eingeräumt werden. Ein anderes Thema ist der Königsteiner Schlüssel, der die Verteilung von Geflüchteten in Deutschland regulieren soll. Uns war es wichtig, dass hochschutzbedürftige Personen, wie Überlebende, nach ihrer Ankunft in einer Einrichtung nicht noch einmal innerhalb von Deutschland transportiert werden müssen, weil der Königsteiner Schlüssel es besagt. An diesen Stellen brauchen wir immer wieder politische Unterstützung und daher haben wir dieses Netzwerk gebildet.

Wie bringen Sie die Überlebenden in Deutschland unter?
Es gibt in Deutschland acht vollstationäre Einrichtungen in jüdischer Trägerschaft: in München, Nürnberg, Düsseldorf, Köln, Frankfurt, Berlin und Hannover. Bis heute gibt es nur eine so geringe Zahl an jüdischen Altenzentren in Deutschland, weil jüdisches Leben nach 1945 so gut wie ausgelöscht war. Die Kapazitäten in unseren jüdischen Einrichtungen war natürlich sehr schnell ausgeschöpft und wir waren sehr schnell darauf angewiesen, dass uns nichtjüdische Einrichtungen der Partnerverbände der Freien Wohlfahrtspflege unterstützen. Die fünf weiteren Spitzenverbände Caritas, Diakonie, DAK, AWO und der Paritätische Gesamtverband haben uns Einrichtungen vermittelt, die Überlebende aufgenommen haben.

Haben Sie Kriterien für die Einrichtungen definiert, in denen Shoah-Überlebende untergebracht wurden?
Uns sind zwei Dinge wichtig: Zum einen müssen es Einrichtungen sein, die sich in einem Einzugsgebiet einer größeren jüdischen Gemeinde befinden, damit die Anbindung an jüdische Strukturen gewährleistet werden kann. Zum anderen muss es in den Einrichtungen russisch- beziehungsweise ukrainisch-sprachiges Personal geben. Angesichts dieser zwei Kriterien wird die Auswahl an Einrichtungen immer kleiner und begrenzter. Aber bis heute ist es uns immer gelungen, Plätze für die Überlebenden zu finden.

Wie wurden die Überlebenden in den Einrichtungen aufgenommen?
Es hat mich tief beeindruckt, mit welchem Engagement und welcher Einsatzbereitschaft die Einrichtungsleitungen in der ganzen Bundesrepublik sich der Shoah-Überlebenden annehmen. Das ist wirklich bemerkenswert. Man darf nicht vergessen, dass die Altenhilfe in der Corona-Pandemie extrem herausgefordert war. Zu sehen, mit welcher Zuneigung die Menschen in den Einrichtungen betreut und begleitet werden, hat mich wirklich bewegt. Mir begegnet aber immer wieder eine spezielle Vorstellung von Shoah-Überlebenden, die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat bei Shoah-Überlebenden immer Auschwitz-Überlebende vor Augen. Gerade bei den Überlebenden, die wir aus der Ukraine evakuiert haben, sind so gut wie keine Personen dabei, die Konzentrationslager überlebt haben. Es sind andere Verfolgungsbiografien der Shoah, die nicht zwingend mit dem Aufenthalt in einem Lager verbunden sind.

Wie viele Shoah-Überlebende wurden bislang gerettet? Sind in den nächsten Wochen weitere Evakuierungen geplant?
Die Zahlen verändern sich täglich, aber aktuell haben wir 78 Personen nach Deutschland gebracht und rechnen auch mit weiteren Evakuierungen. Das Kriegsgeschehen ändert sich allerdings sehr schnell, sodass sich weitere Evakuierungen schwer vorausplanen lassen. Gerade ist es so, dass die Evakuierungsbereitschaft der Überlebenden im Raum Kiew durch den Rückzug der russischen Truppen abgenommen hat. Deswegen fokussieren sich die Evakuierungen jetzt wieder stark auf die Ostukraine, besonders auf Charkiw.

Sind Sie zufrieden bislang?
Unterm Strich ja. Wir haben die Aktion aus einem sofortigen Bedarf heraus initiiert und konnten sie nicht bis ins letzte Detail planen. Daher sind wir auf bestimmte Probleme erst im Laufe der Zeit gestoßen. Beispielsweise wollen viele Überlebende natürlich mit Begleitpersonen evakuiert werden. Das ist alles mehr als verständlich, stellt aber eine zusätzliche Herausforderung dar.

Mit welchen Problemen waren Sie noch konfrontiert?
Es gab Evakuierungen, wo sich der gesundheitliche Zustand von Überlebenden auf dem Weg sehr verschlechtert hat. Wir hatten auch eine Situation in Berlin, in der ein Überlebender zehn Tage nach seiner Ankunft in Deutschland gestorben ist. Zu dem extrem hohen Alter und Vorerkrankungen kamen da noch die enormen Strapazen der Evakuierungen hinzu. Diese Einzelschicksale brennen sich ein und bewegen mich sehr.

Was ist mit Blick auf die Initiative des Hilfsnetzwerks ihr Wunsch für die kommenden Monate?
Mein Wunsch ist, dass wir den Pragmatismus der letzten Wochen nicht verlieren. In Deutschland neigen wir zu überbürokratisierten und komplizierten Verfahren. Wenn man gezwungen ist, schnell zu agieren, finden sich oft einfache Lösungen. Diesen Pragmatismus sollten wir beibehalten.

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