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Inteview Samuel Salzborn „Antisemitismus ist ein zentraler Kitt dieser Demonstrationen“

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Samuel Salzborn, Ansprechpartner zu Antisemitismus des Landes Berlin, spricht bei einer Pressekonferenz in Berlin 2020. (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Britta Pedersen)

Seit August 2020 ist der Sozialwissenschaftler, Antisemitismusforscher und Autor Dr. Samuel Salzborn außerdem Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus. Miki Hermer und Nikolas Lelle haben Salzborn getroffen, um mit ihm über das Amt der Antisemitismusbeauftragten, über die besonderen Herausforderungen im Kampf gegen Antisemitismus und die Corona-Demonstrationen zu sprechen.

Es kommen immer mehr Beauftragte für jüdisches Leben in den Bundesländern hinzu, wieso braucht man 2020 einen Antisemitismusbeauftragten in Berlin?

Antisemitismus ist meines Erachtens eines der zentralen Probleme der Bundesrepublik. Antisemitismus ist ein gewaltandrohendes und auch -anwendendes Problem, an der Schule, in der Öffentlichkeit, im Internet. Deshalb gibt es die Antisemitismusbeauftragten, um ein Augenmerk darauf zu legen und darauf hinzuweisen, wenn dieses zentrale Element übersehen oder zu wenig Beachtung findet. Die interessante Frage ist ja auch: Wie war der Zustand vorher, bevor es Antisemitismusbeauftragte gab? Da haben wir eine drastische Zunahme von Antisemitismus in vielen Bereichen erlebt haben, aber die Öffentlichkeit hat sich dafür einfach kaum mehr interessiert. Das ist ein wiederkehrendes Moment in der Geschichte der Bundesrepublik. Es gibt zwar immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit bei bestimmten antisemitischen Ereignissen, die ist aber auch immer wieder sehr schnell verflogen. Sogar nach dem antisemitischen Terroranschlag in Halle war das so. Es gab natürlich eine große Empörung, aber auch seltsame öffentliche Äußerungen, bei denen man sich überrascht zeigte, dass es zu so etwas kommen konnte. Wenn wir uns aber in der jüdischen Community umhören, war dort niemand überrascht. Es war nur eine Frage des Ortes und der Zeit. Die Beauftragten für Antisemitismus haben die Aufgabe, diese Missstände öffentlich anzusprechen.

Wie nehmen Sie das Standing der Antisemitismusbeauftragten wahr?

Die Situation ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Wir haben ehrenamtliche Beauftragte und solche, die relativ gut ausgestattet sind. Durch die Existenz der Ämter wird aber auf jeden Fall eine Sensibilisierung in der Politik herbeigeführt.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sah sich dieses Jahr enormer Kritik ausgesetzt, die sich nicht nur gegen die Person richtete, sondern auch gegen das Amt.

Immer, wenn sich öffentliche Aufmerksamkeit dem Thema Antisemitismus widmet, findet das ein Teil der Bevölkerung nicht gut. Seit Jahrzehnten gibt es einen kontinuierlichen, manifesten Anteil von mindestens 15-20 Prozent Antisemitinnen und Antisemiten in unserer Gesellschaft. Dass diese jetzt in den Fokus geraten und dass das, was sie tun, genauer betrachtet wird, finden sie natürlich nicht gut. Daher ist eine Opposition gegen das Amt sowie gegen alle Personen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, ganz klar. Auch wer als zivilgesellschaftliche Organisation gegen Antisemitismus arbeitet, kennt die unseriösen und unsachlichen Vorwürfe zur Genüge. Aber letzten Endes zeigt genau das ja ganz klar, dass es ausgesprochen notwendig ist, auf Antisemitismus hinzuweisen. Wir haben einen allgemeinen Konsens in der Gesellschaft, dass man gegen Antisemitismus aus der Rechten vorgehen muss. Aber wenn der Antisemitismus dann von Links, der Mitte der Gesellschaft oder gar von Milieus ausgeht, die in anderen Bereichen als progressiv gelten, führt das zu einer großen Abwehr. Bei dieser Debatte würde ich mir viel mehr selbstkritische Stimmen wünschen, auch gerade im postkolonialen Milieu, das wichtige und berechtigte Arbeit leistet, aber selbstkritische Klärungsprozesse wären der bessere Weg, als die Kritik an Antisemitismus von vornherein abzuwehren.

Und die jüdische Community steht ja geschlossen hinter den Beauftragten!

Ja, aber man muss es auch von der anderen Seite betrachten: Der Gegenwind und die Kritik an Personen in diesen Ämtern ist das, was Jüdinnen und Juden jeden Tag unzählige Male widerfährt. Die gigantischen Massen, in denen z.B. der Zentralrat der Juden jeden Tag Beschimpfungen und Drohungen erhält – auch das Internet ist voll davon – zeigen den permanenten Alltag für Jüdinnen und Juden. Wir müssen sehen, dass dieser Alltag der wesentliche Kern unseres Problems ist.

Welche Form des Antisemitismus macht Ihnen heute am meisten Sorgen?

Das Problem ist, dass schnell mit dem Finger auf andere gezeigt wird. Ob es nun um Antisemitismus aus dem rechten Spektrum, Antisemitismus von Links oder auch islamischen Antisemitismus geht – da wird schnell politisch instrumentalisiert. Man sollte nicht auf einen Bereich den Fokus legen. Gewaltbereite Anfeindungen nehmen wir stark aus dem rechten Spektrum wahr, von den Jüdischen Communities hören wir, dass der islamistische Antisemitismus als drohende Gefahr wahrgenommen wird. Während Rechtsextremisten und Islamisten durch Antisemitismus integral miteinander verbunden sind, gilt dies für die Linke nicht. Er ist, bis auf antiimperialistische Strömungen, kein genuiner Bestandteil der Linken.

Und welche Rolle spielt Israel in alledem?

Der gegen Israel gerichtete Antisemitismus ist mittlerweile auch global zu einer Integrationsideologie geworden, die die politischen Spektren zusammenschweißt. In anderen Fragen sind die Milieus stark verfeindet, in Bezug auf ihren Hass gegen Israel sind sie verbunden. Israelbezogener Antisemitismus ist ohne Frage die gegenwärtig dominierende Erscheinungsform und aufgrund seines verbindenden Elements auch sehr gefährlich.

Israel wird gerne auch als Umweg genutzt, um Antisemitismus freien Lauf lassen zu können.

Wir haben in der deutschen Öffentlichkeit eine überproportional große Aufmerksamkeit für Israel und den Konflikt mit den Palästinensern. Der Großteil der Aufmerksamkeit überrascht wegen der Intensität und auch deshalb, weil andere Themen wie die Technologieentwicklung oder die pluralistische Gesellschaft Israels nicht im Fokus stehen. Es gibt eine deutliche Konflikt-Orientierung. Das rhetorische Ticket „man dürfe ja wohl Israel noch kritisieren“, wird allerdings oft antisemitischen Artikulationen vorausgeschickt. Eine größere Sensibilität der Medien wäre hier auch wünschenswert, um nicht immer wieder in den selben Tenor einzustimmen. Dieser Umweg, sich antisemitisch zu äußern, ist gesellschaftlich weit weniger sanktioniert.

Was fehlt denn an den Schulen bei der Thematisierung von Antisemitismus und Judentum? Brauchen wir mehr Aufklärung?

Schule ist eine große Baustelle. Die große Problematik ist nicht, dass der Nationalsozialismus zu wenig behandelt werden würde. Es fehlt die Kontextualisierung. Der Nationalsozialismus und die Shoa scheinen keine Vor- und keine Nachgeschichte zu haben, Antisemitismus taucht abseits dessen kaum auf. Andererseits haben wir auch keine Darstellung von jüdischem Leben, jüdischer Religion und jüdischer Kultur als Selbstverständlichkeit. Jüdinnen und Juden tauchen entweder zum Thema Israel oder im Nationalsozialismus auf. Sonst kaum. Gerade nach 1945 geht es in den Büchern fast nur um Israel, und hier oft einseitig, extrem pro-palästinensisch, der Konflikt wird emotionalisierend und polarisierend dargestellt. Schulbücher sind deshalb so relevant, weil sie für Schülerinnen und Schüler die größte Autorität darstellen. In vielen Bundesländern fehlt im Übrigen auch die Meldepflicht für antisemitische Vorfälle an Schulen, wie sie in Berlin bereits lange existiert.

Ende August sahen wir in Berlin Massendemonstrationen von Corona-Leugner*innen hier in Berlin. Welche Rolle spielt Antisemitismus bei diesen Demonstrationen?

Corona wird zum Vorwand genommen, um Verschwörungsmythen und andere Anliegen zu verbreiten. Dinge, die man kognitiv nicht zu fassen bekommt, werden benutzt, um bestimmte Ressentiments zu äußern. So ist das seit Jahren schon. Der zentrale Fokus liegt auf der Artikulation von Verschwörungsphantasien und antidemokratischem Gedankengut. Historisch und systematisch gibt es eine Verbindung zwischen Verschwörungserzählungen und Antisemitismus. Die großen Verschwörungsmythen waren in der Geschichte immer antisemitisch. Das große Konstrukt, wie diese Mythen funktionieren, fußt auf antisemitischen Weltbildern, hier werden Personen im Hintergrund beschuldigt, sich persönlich zu bereichern oder die Verantwortung zu tragen. Oftmals wird das gegen Israel, gegen prominente Personen wie George Soros oder andere formuliert. Dies ist explizit antisemitisch, auch wenn es dem einzelnen nicht bewusst sein mag und es macht den Antisemitismus hinter der Erzählung nicht weniger gefährlich. Der Antisemitismus ist ein zentraler weltanschaulicher Kitt dieser Demonstrationen, sowohl latent wie manifest.

Auch die Attentäter von Halle und Hanau waren getrieben von Antisemitismus und Verschwörungsglauben. Würden Sie sagen, dass in der Wahrnehmung seit diesen Attentaten etwas geschehen ist?

Es ist endlich auch in den Ländern angekommen, wie wichtig die Frage der Sicherheit jüdischer Einrichtungen ist. Ein Bereich, der in Berlin schon viele Jahre präsent ist. In anderen Ländern ist das nicht so. In Sachsen-Anhalt war eine Sensibilität oder auch ein Bewusstsein z.B. für hohe jüdische Feiertage kaum vorhanden. Wie konnten Nachrichtendienste die Gefahrenlage derart übersehen? Aber ich bin nicht sicher, wie diese Sensibilisierung auch gesamtgesellschaftlich als Grundüberzeugung verfangen wird. Es gibt immer wieder einen für mich unerklärlichen Überraschungseffekt, wenn etwas passiert. Auch nach Demonstrationen wie der am vorvergangenen Wochenende zeigt man sich überrascht über den antisemitischen und demokratiefeindlichen Inhalt, obwohl seit vielen Jahren genau darauf hingewiesen und davor gewarnt wird. Das politische Bewusstsein für Antisemitismus ist größer geworden, bei der Kontinuierung, Antisemitismus als eines der zentralen Probleme der deutschen Gesellschaft anzuerkennen, gibt es weiterhin Nachholbedarf. Er wird abgetan als Spiegelstrichphänomen unter anderen. Und dies übersieht den Alltag von Jüdinnen und Juden, der geprägt ist von Diskriminierung, Anfeindungen und Bedrohung.

Von der Theorie zur Praxis: Wie sehen Sie Ihre persönliche Aufgabe, wenn Sie jetzt von der Wissenschaft kommend ins politischen Geschehen Berlins einsteigen?

Mein Eindruck ist, dass wir in Berlin in einer besonderen Situation sind. In der Außenwahrnehmung ist Berlin der Hotspot des Antisemitismus. Dies ist auch nicht ganz falsch, es gibt in Berlin natürlich ein Antisemitismus-Problem. Aber dank vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen, der Arbeit von Initiativen und des Senats haben wir eine viel größere Aufmerksamkeit. Während wir in anderen Bundesländern große Black Boxes haben, wissen wir dank der Arbeit von Initiativen wie z.B. RIAS sehr viel genauer, wie es um das Problem in Berlin tatsächlich bestellt ist. Auch die Verzahnung mit der Arbeit der Antisemitismusbeauftragten bei Polizei und Generalstaatsanwaltschaft ist hier ein großer Vorteil. Prävention, Intervention und Repression gehören in der Bekämpfung von Antisemitismus untrennbar zusammen. Wissenschaft, Bildung, Innere Sicherheit, Justiz und genauso die Stärkung jüdischen Lebens in der Berliner Stadtkultur gehören zusammen. Man hat gute Chancen, bereits begonnene Arbeit weiterzutreiben. Die Bereitschaft hierfür ist in Berlin groß! Wir wollen die Wege kürzer machen und nach und nach größere Erfolge verzeichnen, auch wenn es sicher immer wieder Rückschläge geben wird. Wir sind auf einem guten Weg.

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