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Jahresrückblick 2022 Thüringen – Enge Vernetzung von Pandemieleugner*innen, Reichsbürgern*innen und AfD

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Das sogenannte "Familienfest" der Pandemie-Leugner*innen im August 2022 in Gera. (Quelle: MOBIT)

Zu Beginn des Jahres 2022 erreichten die Proteste der Pandemieleugner*innen-Szene ihren ersten Höhepunkt. Im Februar mobilisierte die Bewegung landesweit etwas über 20.000 Menschen. Dabei fanden die Proteste im ganzen Freistaat Thüringen statt, hatten aber lokale Zentren mit deutlich höheren Teilnehmendenzahlen. Dazu gehörten neben Gera und Altenburg auch Hildburghausen, Eisenach und Nordhausen. Bereits im Dezember 2021 hatte sich mit „Freies Thüringen“ die zurzeit größte und mobilisierungsstärkste Gruppierung aus dem Querdenken-Milieu gegründet. Der Telegram-Kanal der Gruppe hat aktuell knapp 20.000 Follower. „Freies Thüringen“ ist zudem entscheidend für die Mobilisierung auf der Straße verantwortlich. Unter dem Dach der Gruppe sammeln sich Personen aus verschiedenen Spektren der extremen Rechten: Von Verschwörungsideolog*innen über Reichsbürger*innen bis hin zu Neonazis und der AfD.

Im Februar 2022 war mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine thematisch eine deutliche Veränderung der Protestthemen wahrzunehmen. Mit den gelockerten Maßnahmen trat Corona als Thema in den Hintergrund und der Krieg in der Ukraine löste die Pandemie-Maßnahmen thematisch ab. Die mobilisierte Protestszene passte die Entwicklungen in ihre Erzählungen ein. Im Kern geht es ihnen jedoch nach wie vor um den „Sturz des Systems“. Die Teilnehmer*innenzahlen gingen im Frühjahr 2022 dennoch zurück.

Seit dem Spätsommer haben die Proteste der extrem rechten Mischszene in Thüringen wieder deutlichen Zulauf erfahren. Den Kern vor Ort bilden dabei Aktivist*innen, die schon die Corona-Proteste organisierten und diese nun mit anderen Themen fortführen. Nun versuchen diese Netzwerke die Straßenproteste erneut zu vergrößern und zu radikalisieren. So phantasierte der rechtsextreme Verleger und Höcke-Freund Götz Kubitschek von einem „unumgänglichen Aufstand“ und forderte Proteste, die „nachhaltig, unversöhnlich und grundsätzlich“ werden sollen. Die andauernde Energiekrise und Inflation hatten seit Mitte 2022 die Teilnehmendenzahlen bei rechtsextremen Aufmärschen wieder deutlich steigen lassen. Am 3. Oktober fand diese Entwicklung ihren bisherigen Höhepunkt, als sich nach offiziellen Angaben rund 36.000 Menschen in Thüringen an den Protesten beteiligten. Allein in Gera nahmen 10.000 an einer rechtsextremen Demonstration teil. Trotz des vielfach herbeigesehnten „heißen Herbstes“ gingen die Teilnehmendenzahlen der rechtsextremen Proteste danach jedoch immer weiter zurück. Ende November waren es thüringenweit kaum noch 10.000 Personen, die auf die Straße gingen.

Verstärkte Präsenz von Reichsbürger*innen

Im Kontext der Pandemieleugner*innen-Proteste wurden von Anfang an auch Ideologiefragmente der Reichsbürger*innen verbreitet. Deren verstärkte Präsenz zeigte sich 2022 in Thüringen unter anderem in Form von Wahlaufrufen, die thüringenweit im öffentlichen Raum plakatiert wurden. Im Oktober fand in Pfiffelbach im Weimarer Land der „Zukunftskongress Deutschland“ statt. Zu der mehrtägigen Veranstaltung, die zu den größten Reichsbürger- Vernetzungstreffen der letzten Jahre zählt, reisten bundesweite Gäste an. Neben Referent*innen aus dem Reichsbürger-Milieu und Verschwörungsideolog*innen waren auch Auftritte der extrem rechten Liedermacher*innen Axel Schlimper und „Eine deutsche Frau“ angekündigt. Die Veranstaltung und die Mobilisierung im Vorfeld sind ein weiterer Beleg der engen Verzahnung von Pandemieleugner*innen, Neonazis und Reichsbürger*innen in Thüringen. Im Dezember kam es zu bundesweiten Razzien gegen ein Reichsbürger-Netzwerk, das einen Umsturz geplant haben soll. Von den Durchsuchungen waren auch mehrere Objekte in Thüringen betroffen – so auch das Jagdschloss des lange als Reichsbürger bekannten Heinrich XIII. „Prinz“ Reuß im Saale-Orla-Kreis.

Umstrukturierung in der Neonazi-Szene

In Thüringen gab es in der Neonazi-Szene 2022 vor allem lokale Zentren, in denen Gruppen oder Parteien aktiv sind und Einfluss ausüben können. Die NPD ist als thüringenweit aktive Partei schon seit Jahren kaum noch wahrzunehmen. Ihr Aktivitätsschwerpunkt liegt in Eisenach, wo die Partei nicht nur eine ihrer Hochburgen hat und 10,2 Prozent bei der letzten Stadtratswahl erreichte, sondern seit 2014 auch über eine Landesgeschäftsstelle verfügt. Das Haus ist in den letzten Jahren ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der regionalen und überregionalen Neonazi-Szene geworden. Hier fanden Konzerte, Vortragsabende, Partys und Kampfsporttrainings für die militante Kameradschaftsszene rund um die Gruppe „Knockout 51“ statt. Die Immobilie ist laut MOBIT einer der meistgenutzten Räume der extrem rechten Szene im Freistaat. Die NPD versucht aufgrund ihrer politischen Bedeutungslosigkeit zunehmend ein neues Konzept zu entwickeln. Strategisch wolle man nun „als Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner und regionaler Motor von Bürgerprotesten und regierungskritischen Initiativen“ agieren. Im neu gewählten Bundesvorstand finden sich mit Thorsten Heise, Patrick Wieschke und Sebastian Schmidtke gleich mehrere Thüringer Neonazis und belegen damit die zentrale Rolle der Thüringer Szene auf Bundesebene.

Demonstration der neonazistischen „Neue Stärke Partei“ am 1. Mai 2022 in Erfurt. Quelle: MOBIT

Am 10. September fand in Eisenach eine Netzwerktagung der Deutschen Stimme, der Parteizeitung der NPD, statt. Diese kann wohl als Folge der beabsichtigten Neuaufstellung gewertet werden. Unter den rund 100 Teilnehmenden befanden sich zahlreiche NPD-Funktionäre, Aktivist*innen aus dem Umfeld der Neonazi-Kleinstpartei „Der Dritte Weg“, Vertreter der Thüringer Heimatpartei, „Freies Thüringen“ und anderer extrem rechter Gruppen. „Der Dritte Weg“ eröffnete in Ohrdruf im Februar 2022 ein neues Büro, welches seither Ausgangspunkt verschiedener Aktivitäten ist. Dazu gehören „Bürgersprechstunden“ ebenso wie ein „Skat- und Dartabend“ oder die kostenlose Verteilung von Schulmaterial an „Deutsche“. Die vermutliche personelle Schwäche der Partei lässt im Freistaat kaum Aktionen zu, die überregional wahrzunehmen sind.

Durch eine Abspaltung im Jahr 2021 war aus dem „Dritten Weg“ die „Neue Stärke Partei“ hervorgegangen. Die Gruppe rund um die Neonazis Michel Fischer und Enrico Biczysko hatte in Thüringen ihre Aktivitätsschwerpunkte in Erfurt und Gera. Nach einem kurzen Mobilisierungshoch im Jahr 2021, als rund 300 Neonazis zur Demonstration nach Erfurt anreisten, ging die Mobilisierungskraft der Gruppe stetig zurück. Am 1. Mai 2022 in Erfurt konnte sie nur noch rund 130 Personen mobilisieren. Nach internen Streitigkeiten und den Austritten zahlreicher Funktionäre befindet sich die Partei seit Mitte 2022 im Zerfall und ist kaum noch wahrzunehmen. Dennoch stellen Mitglieder der Partei für die Menschen vor Ort eine Gefahr dar: Deutlich wurde dies nicht zuletzt durch zahlreiche Bedrohungen und Übergriffe im Erfurter Norden.

Rechtsrock: Zurück zu geheimen Konzerten

Nach einigen Jahren, in denen die Neonazi-Szene in Thüringen eher den Weg in die Legalität suchte und Rechtsrock-Konzerte in szeneeigenen Immobilien angemeldet oder als Versammlungen unter freiem Himmel durchgeführt hat, scheint sich im Jahr 2022 ein Wendepunkt abzuzeichnen. Die Konzerte werden eher wieder in kleinerem Rahmen und öfter unangemeldet durchgeführt. So wurden in Sonneberg, Gera und Großbreitenbach mehrere Rechtsrock-Konzerte und Liederabende von den Sicherheitsbehörden verhindert.

Insgesamt dürfte dies auch mit dem Rückzug von geschäftigen Akteuren aus der Konzertorganisation sowie der Inhaftierung der „Turonen“ und damit deren Wegfall als Rechtsrock-Netzwerk zusammenhängen. Nachdem ein Liederabend der extrem rechten Musikerin „Eine deutsche Frau“ bereits im Vorfeld verhindert worden war, sagte diese stellvertretend für die aktuelle Situation in einem Interview: „…der nächste Tanzabend wird sicherlich stattfinden, natürlich nicht angemeldet bei der Stadt, ist ja klar…“. Gleichzeitig fanden extrem rechte Musiker*innen bei Veranstaltungen der Pandemieleugner*innen-Szene Zugang zu einem neuen Publikum, welches über das Spektrum des Rechtsrock–Klientels hinaus geht.

Insgesamt waren vor allem die extrem rechten Mobilisierungen im Zuge der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges in Thüringen von zentraler Bedeutung. Hier zeigte sich, wie eng die AfD mittlerweile öffentlich mit verschiedenen Spektren der extremen Rechten kooperiert. Die Partei zählt zu den zentralen Strukturen für die extrem rechten Mobilisierungen auf der Straße und bei der Verbreitung von Verschwörungsmythen. Die Thüringer Neonazi-Szene versucht sich dagegen neu zu organisieren und die aktuelle Situation auch für sich zu nutzen. Daneben gibt es mehr Rechtsrock-Konzerte, wenn diese auch eher an das eigene Szene-Publikum gerichtet sind und weniger Teilnehmende anziehen.

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