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„Jews don’t count“ Zwischen Antisemitismusskandal und Betroffenenperspektive

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Die Reste des Werks „People's Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi. Nach Antisemitismusvorwürfen gegen die documenta 15 wurde das Kunstwerk entfernt. (Quelle: picture alliance/dpa | Uwe Zucchi)

Die documenta präsentiert alle fünf Jahre die bedeutendste zeitgenössische Kunst weltweit. 100 Tage lang können Besucher:innen die Ausstellung in Kassel besuchen. Im Vordergrund der Berichterstattung steht in diesem Jahr weniger die ausgestellte Kunst, sondern eine Reihe von Antisemitismusvorfällen und –vorwürfen. Diese dominieren die deutschen Feuilletons und (kunst-)politischen Debatten. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man einige rote Fäden, die sich durch den Diskurs ziehen. Einer davon ist die Delegitimierung der jüdischen Perspektive.

Es gäbe sehr viel zur documenta zu sagen und Fabian Bechtle hat das in einem anderen Text getan. Hier mögen wenige Beispiele genügen, die sich darauf beziehen, wie mit den Mahnungen Betroffener umgegangen worden ist, wie diese Delegitimierung also vonstattengeht.

Ungehörte Mahnungen: die documenta 15

Im Januar 2022 warf das „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel” der documenta 15, im Speziellen dem Kurator*innenkollektiv Ruangrupa, Antisemitismus vor. Ruangrupa soll BDS nahe Kollektive und Künstler:innen eingeladen haben, auch antisemitische Organisationen sollen eine Einladung zur diesjährigen Documenta erhalten haben.

Die Leitung der documenta 15 wies den Vorwurf von sich. Im Gegenteil erklärt sie in einem Statement, dass sie sich gegen Antisemitismus (und „Rassismus, Rechtsextremismus, gewaltbefreitem religiösem Fundamentalismus sowie jeder Art von Diskriminierung“) einsetzte und sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen würde. In einem Statement einige Tage später war bereits nicht mehr von einem Antisemitismusvorwurf die Rede, sondern von „verfälschten Berichten oder rassistischen Diffamierungen“ der Beschuldigten. Versöhnlich endete das Statement in einem Gesprächsangebot in Form eines Forums unter dem Namen „We need to talk! Art – Freedom – Solidarity“, das noch vor dem Beginn der Kunstausstellung starten sollte.

Nun meldete sich die Jüdische Gemeinde der Stadt und das Sara Nussbaum Zentrum für jüdisches Leben in Kassel in einem gemeinsamen Statement zu Wort. Sie begründeten ihre Sorge vor Antisemitismus, mit der BDS-Nähe einiger Teilnehmer:innen als auch dem Nicht-Vorkommen jüdisch-israelischer Künstler:innen. Der Präsident des Zentralrats der Juden mahnte in einem Brief an Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dass vor allem das geplante Gesprächsforum zu einseitig besetzt sei und eine eindeutige Schlagseite zugunsten des Antisemitismus hätte.

Die Reaktionen waren ernüchternd. Der Aufsichtsratsvorsitzende der documenta, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) zeigt Unverständnis über die Sorge eines einseitig besetzten Forums und wollte keine antisemitische Tendenz erkennen. Claudia Roth bestätigt in einer Stellungnahme auf den Brief von Schuster, wie wichtig es sei, die Vorwürfe ernst zu nehmen. Doch sagt sie auch, dass Kunstfreiheit bedeutet, Positionen auszuhalten, mit denen man nicht einverstanden sei.

Es scheint, als wäre der Brief des Zentralratspräsidenten und die Kritik allenfalls eine Meinung, der man widersprechen könne, eine Art übertriebene Befindlichkeit. Antisemitismus sei eine „Position, mit der man nicht einverstanden sei“, die man aber – der Kunstfreiheit zuliebe – aushalten müsse. Dass Jüdinnen:Juden ihre Sorge nicht aus erhöhtem Meldebewusstsein kundtun, sondern aus historisch bewiesener Relevanz und generationenübergreifender Betroffenheit heraus, scheint für die nicht-jüdischen Verantwortlichen keine Rolle zu spielen. Der rote Faden der Debatte wird sichtbar: Jews don’t coun’t.

Doch worin liegt das Problem, der jüdischen Betroffenenperspektive nicht zuzuhören? Kann man Jüdinnen:Juden überhaupt eine gemeinsame Betroffenheit zuschreiben oder ist diese nur ein identitätspolitisches Produkt? Kann Betroffenheit etwas Gemeinsames darstellen oder ist sie nur das Abbild persönlicher, individueller Erfahrungen, die individuell anders wahrgenommen werden? Ist die Betroffenenperspektive mehr als die Summe ihrer Teile? Und vor allem: Begründet die Betroffenenperspektive gesellschaftliche und politische Relevanz? Eine Relevanz, die für die nicht-jüdische deutsche Bevölkerung die Aufgabe mit sich brächte, hinzuhören und ihr Sichtbarkeit zu verleihen.

Das Politische im Privaten

„Anders als das Gerede von ‚den Betroffenen’ unterstellt, entspringen weder Gefühle noch politische oder ästhetische Urteile unmittelbar aus dem Erlebten”, schreibt Deniz Yücel in einem Text in der Welt.

Das Erlebte, die eigene Betroffenheit, sei demnach zu persönlich und zu individuell, um als gesellschaftspolitischer Referenzpunkt zu dienen. Man könne zehn Jüdinnen:Juden nach ihren Erfahrungen befragen und zehn verschiedene Antworten erhalten — mindestens. Doch wer die Betroffenenperspektive als irrelevant bagatellisiert, missachtet den gesamtgesellschaftlichen Kontext des Erlebten und verkennt das Politische im Privaten.

Gerade der Kontext macht deutlich, wie Erfahrung und Betroffenheit unweigerlich mit Gefühlen, mit Handeln und mit Politik zusammenhängen. Ist doch die gemeinsame jüdische Erfahrung der Shoah, die explizit jüdische Betroffenheit, einer der Säulen auf die sich die Legitimation des israelischen Staats stützt. Auch die Erfahrung als marginalisierte Gruppe in Deutschland wieder und wieder von antisemitischen Angriffen betroffen zu sein, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Betroffenheit und Politik und Aktivismus, also Handlung.

Das kollektive Bewusstsein von Jüdinnen:Juden hängt unmittelbar mit gemeinsamer Betroffenheit von Antisemitismus, Leben in der Diaspora und der Shoah zusammen. Studien belegen die Kausalität zwischen kollektiver Betroffenheit und kollektivem Handeln.

Zum Beispiel „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland” von Andreas Zick aus dem Jahr 2017. In dieser Studie wurden 553 in Deutschland wohnhafte Jüdinnen:Juden nach Ihren Antisemitismuserfahrungen befragt. Ein Großteil der Befragten begründen ihre Einschätzung auf Basis persönlicher Erfahrung, der Erfahrungen von Freund:innen und Familie sowie Berichten aus der jüdischen Gemeinde und jüdischen Zeitungen. Die eigene Betroffenheit, als auch die Betroffenheit von befreundeten und gar fremden Jüdinnen:Juden spielte eine Rolle. So empfinden 87 Prozent der Befragten Antisemitismus im Netz als großes Problem, auch die verzerrte Darstellung von Israel in den Medien wird von 84 Prozent als problematisch wahrgenommen.

Unmittelbare Betroffenheit

Jüdinnen:Juden erleben individuell Erfahrungen, die sie als Kollektiv ansprechen und die durch das Kollektiv vermittelt sind. Selbst wenn sich die Betroffenenperspektive von Individuum zu Individuum unterscheidet, weil Erfahrungen aufgrund unterschiedlicher Erziehung und Sozialisierung anders wahrgenommen werden, so besteht trotzdem das „Jüdischsein” als verbindendes Element. Unmittelbar damit verbunden ist die Sorge vor Antisemitismus.

Die Perspektive jüdischer Organisationen und Gemeinden ist die Perspektive derer, die unmittelbar und jeden Tag von Antisemitismus betroffen sind. Die generationenübergreifende Erfahrung führt dazu, dass Antisemitismus viel früher wahrgenommen wird, als in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. Das gilt umso mehr, wenn es um Antisemitismus geht, der sich auf Israel bezieht. Jüdische Organisationen haben eine „feine Sensorik für Antisemitismus”, schrieb Nele Pollatschek mit Blick auf den Umgang mit dem Zentralrat der Juden in der documenta-Debatte und fuhr fort: „Man kann über den Zentralrat der Juden denken, was man will, aber diese Kompetenz hat er. Und natürlich ist er alarmistisch, das ist seine Aufgabe! Er ist ein Interessenverband. Eines der größten Interessen deutscher Juden ist es, nicht ermordet zu werden.”

Die Betroffenenperspektive kann weder den Anspruch der vollkommenen Individualität noch der Kollektivität besitzen, sondern die partikularen Erfahrungen jüdischer Personen als universal zusammenfassen. Entscheidend ist dann, dass nicht-jüdische Personen diese Universalität anerkennen und dementsprechend behandeln.

„Überempfindliche Miesmacher:innen”

Die Pluralität der Perspektive, die sich aus dem kollektiven als auch individuellen Anspruch an die Betroffenheitsperspektive ableiten lässt, verhindert die Gefahr von Tokenism. Eine Strategie, die einzelne – hier jüdische – Perspektiven überhöht, um eigene (nicht-jüdische) Positionen zu decken. Israelkritischen Jüdinnen:Juden wird in bestimmten Kontexten gerne zugehört, während Sorgen über das Erstarken von Antisemitismus der jüdischen Mehrheit in Deutschland, empört als Pessimismus, als Miesmachen abgewehrt werden.

Das kollektive Element der Perspektive zu delegitimieren, bringt jüdische Stimmen zum Schweigen. Bei der diesjährigen documenta wurden und werden jüdische Stimmen nicht ernst genommen. Betroffene werden, schreibt der Journalist Hanning Voigts, als „überempfindliche Miesmacher:innen” verunglimpft. Stattdessen wäre angesagt, den jüdischen Sorgen gerecht zu werden. Im Fall der documenta 15 hätte das bedeutet, schreibt wieder Pollatschek, „den Warnungen immer wieder den Grund zu entziehen. Wenn alle ihre Aufgabe richtig machen, dann befindet sich der Zentralrat immer im Präventionsparadox, und jede Warnung stellt sich als unnötig heraus.” Leider waren die Warnungen mehr als nur berechtigt undl wieder hat sich gezeigt: Jews don’t coun’t.

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