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Kommentar zu documenta Kein Antisemitismus, nirgends

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Das Fridericianum in Kassel, Herz der documenta, die von einem Antisemitismusskandal nach dem nächsten überschattet wird
Das Fridericianum in Kassel, Herz der documenta, die von einem Antisemitismusskandal nach dem nächsten überschattet wird (Quelle: picture alliance/dpa/Swen Pförtner)

Die antisemitischen Karikaturen hätten im NS-Hetzblatt Der Stürmer erscheinen können – ein Satz, der nicht zum ersten Mal im Zusammenhang mit der documenta fifteen fällt. Dieses Mal geht es um eine faksimilierte Broschüre des algerischen Frauenkollektivs „Presence des Femmes“. Die Bildsprache lässt wenig Interpretationsspielraum: Eine blonde Frau tritt einen kleinen, hakennasigen Soldaten mit Davidstern auf dem Helm in den Unterleib. Im Hintergrund liegen vier Fußsohlen übereinander, zwei mit Davidsternen, zwei mit einer unlesbaren arabischen Schrift – offenbar eine Vergewaltigungsfantasie. In einer Sprachblase wird die Karikatur auf Arabisch betitelt: „West Bank Aufstand (Intifada)“. Antisemitismus? Fehlanzeige, fragt man die documenta.

Die Broschüren, zunächst 1988 in Algier als Sonderheft zu Palästina erschienen, werden im Kasseler Friedericianum ausgestellt, wie die Jüdische Allgemeine berichtet. Der Raum ist dem Kampf der algerischen Frauen um Emanzipation gewidmet. Die antisemitischen Zeichnungen stammen vom syrischen Künstler Burhan Karkoutly. In einer weiteren Karikatur werden israelische Soldaten, gekennzeichnet mit Davidsternen, als entmenschlichte Roboter dargestellt. Einer bedroht einen unbewaffneten Heranwachsenden mit einem Gewehrlauf, ein anderer fasst ein Kind bedrohlich an den Ohren. Bildliche Metaphern, nicht allzu weit entfernt von der antisemitischen Kampfparole „Kindermörder Israel!“

In den Broschüren kommen laut der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen“ (RIAS Hessen), die auf die Karikaturen hingewiesen hat, auch Auszüge aus dem Heft „Ghassan Kanafanis Kinder“ vor. Kanafani war Autor und Sprecher der terroristischen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP), er starb 1972 bei einem Anschlag im Libanon, der offenbar vom israelischen Geheimdienst Mossad geplant wurde. Eingeordnet werden die antisemitischen Broschüren nicht.

Schon wieder ein antisemitischer Vorfall auf der documenta: Seit ihrer Eröffnung im Juni stolpert die renommierte Kunstmesse unter künstlerischer Leitung des indonesischen Kollektivs Ruangrupa von einem Skandal zum nächsten. Bereits bei seiner Eröffnungsrede warnte Bundespräsident Steinmeier davor – äußerst ungewöhnlich für einen zeremoniellen Anlass –, dass mit der Ausstellung die Grenze zum Antisemitismus überschritten werde. Seitdem füllt die documenta fifteen das kulturelle Sommerloch der deutschen Feuilletons Schlagzeile für Schlagzeile. In der Boulevardpresse ist polemisch von einer „Kunstmesse der Schande“ zu lesen.

Zunächst sorgte das Großgemälde „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi mit einem hakennasigen Juden samt blutunterlaufenen Augen, Raffzähnen und SS-Runen am Hut für Empörung – zu Recht. Auch ein Soldat mit Schweinegesicht, Mossadhelm und Davidstern kommt darin vor. Die Bildserie „Guernica Gaza“ des palästinensischen Malers Mohammed Al Hawajiri vergleicht gesichtsrevisionistisch die Anti-Terror-Optionen Israels mit den Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten. Oder der britisch-bangladeschische Künstler Hamja Ahsan, der am antisemitischen Quds-Marsch in London teilgenommen hat und auf Facebook die Vernichtung Israels fordert, stellt sein ominöse Kunstwerk „Halal Fried Chicken“ auf, mit der Botschaft „Taste of a Liberated Palestine“.

Skandale mit Ansage: Schon im Vorfeld schlugen jüdische Organisationen Alarm. Die BDS-Nähe der Kurator*innen und einiger Künstler*innen sowie die völlige Abwesenheit von jüdisch-israelischen Künstler*innen seien Grund zur Sorge. Das Ergebnis dieses Experiments ist wenig überraschend: Wer mit BDS ins Bett geht, wacht neben Antisemitismus auf. Doch die documenta zeigt: Der BDS-Beschluss des Bundestags, die antisemitische Kampagne finanziell oder mit Räumen nicht zu unterstützen, entlarvt sich als Symbolpolitik ohne Wirkung. BDS-Botschaften finden sogar auf dem größten Kunstfestival der Bundesrepublik Resonanz.

Und dennoch zeigen sich die Geschäftsführung und künstlerische Leitung der documenta immer wieder überrascht – oder wollen beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen. Die inzwischen zurückgetretene Generaldirektorin Sabine Schormann, die trotz eines regelrechten Kritiksturms erstaunlich lange im Amt bleiben konnte, fand immer wieder absurdeste Sündenböcke für die Versäumnisse des Festivals: Es sei ein großes Missverständnis, die Corona-Pandemie sei schuld, es gebe unterschiedliche „kulturelle Erfahrungsräume“. Schormann begriff offenbar bis zu ihrem Rücktritt nicht die Schwere der Krise, in der sich sie und ihr Festival befindet. Fakt ist: Antisemitismus ist und bleibt Antisemitismus, egal wo er zum Ausdruck kommt.

Auch die Notpläne sind gescheitert: Eine von Schormann angekündigte systematische Untersuchung aller Kunstwerke sollte den Skandalen schließlich ein Ende machen. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, sollte als Antisemitismus-Berater helfen. Nicht mal das bekam die documenta hin: Mendel, nicht gerade als zionistischer Apologet oder antideutscher Hardliner bekannt, trat nach zwei Wochen zurück. Er vermisse den ernsthaften Willen der Documenta zur Aufarbeitung des Eklats, erklärte er dem Spiegel. Telefonanrufe seien unbeantwortet geblieben, Fragen nicht beantwortet, Gesprächsanfrage an das Kuratorenkollektiv Ruangrupa „mit Ausreden auf die lange Bank geschoben“ worden. Und Schormanns Nachfolger, der Interimschef Alexander Farenholtz, hat inzwischen angekündigt, die Ausstellung in Hinblick auf Antisemitismus nicht mehr überprüfen zu wollen.

Nach dem jüngsten Skandal reagiert die documenta wie gewohnt: mit Abwehr. Eine Sprecherin des Festivals sagte der FAZ, man habe die eingangs erwähnten Bilder vor drei Wochen untersucht und nicht als antisemitisch befunden. Es gebe keine Bebilderung von Juden „als solchen“ – Hakennasen und Davidsternen auf Fußsohlen zum Trotz. Nur eine klare Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt wollte das Festival sehen.

Auf öffentlichen Druck hin fordern nun die Gesellschafter der documenta – die Stadt Kassel und das Land Hessen –, die stereotype Zeichnungen „bis zu einer angemessenen Kontextualisierung“ aus der Ausstellung zu nehmen, wie Die ZEIT berichtet. „Der Umgang mit den Zeichnungen zeigt, wie dringend notwendig die externe Expertise bei der Analyse von Werken auf antisemitische (Bild-)Sprache ist“, teilten sie mit. Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) spricht sich für eine Entfernung aus, zumindest zeitweilig: „Es ist gut und richtig, dass die Gesellschafter der documenta die künstlerische Leitung jetzt aufgefordert haben, diese Zeichnungen aus der Ausstellung zu nehmen“.

Noch bis zum 25. September dauert die documenta fifteen an. Ob der restliche Ablauf wie zu befürchten auch weitere Antisemitismus-Skandale bedeuten wird, bleibt abzuwarten. Doch in dem Fall dürfte mehr als wahrscheinlich sein: Die Festival-Leitung wird wieder auf ihre Strategie setzen – Abwehr und Überraschung. Am Ende wird die documenta fifteen nicht in Erinnerung bleiben, weil sie dem „Globalen Süden“ endlich eine Stimme gegeben hätte, das wäre ein unterstützenswertes Ziel gewesen. Stattdessen wird die Erinnerung von Antisemitismus überschattet sein – ganz egal, ob die Leitung ihn sehen will oder nicht.

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