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Kurz erklärt Was ist Post-Shoah- Antisemitismus?

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(Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Antisemitismus ist ein altes Phänomen, der Post-Shoah-Antisemitismus ist ein vergleichsweise junges. Diese Variante des Antisemitismus wird auch Schuldabwehr-Antisemitismus oder sekundärer Antisemitismus genannt. Der Flyer „Was ist Post-Shoah-Antisemitismus?“ informiert über diesen Antisemitismus, der im Zuge der Auseinandersetzung mit der Shoah entstanden ist.

Shoah (bzw. Holocaust) wird die Ermordung von sechs Millionen europäischen Jüdinnen*Juden durch die Nationalsozialist*innen und deren Verbündete genannt. Unmittelbar nach der Shoah, sprich: nach der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg, setzte die deutsche Schuldabwehr ein. Damals wie heute sind viele fälschlicherweise überzeugt, dass die meisten Deutschen im Widerstand und keine NS- Täter*innen waren. Die deutsche Schuld wird relativiert oder gar geleugnet.

Antisemitismus bis 1945

Antisemitismus – kurz: Judenhass – ist ein jahrtausendealtes Phänomen. Er gipfelte häufig in der Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.

Vor dem Hintergrund eines wachsenden Antisemitismus innerhalb der deutschen Bevölkerung verkündete Adolf Hitler 1920 das „25-Punkte-Programm“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Der Antisemitismus war ein zentrales Element der NS-Ideologie.
Es hieß, Jüdinnen*Juden hätten kein „deutsches Blut“ und könnten daher keine „Volksgenossen“ sein. Ihre imaginierte Macht würden sie nutzen, um das deutsche Volk zu „zersetzen“.

Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde den Nazis am 30. Januar 1933 die Macht übertragen. Die NSDAP festigte ihre Kontrolle von Staat und Gesellschaft durch organisierten Terror gegen Linke (z.B. Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen) und gesellschaftliche Minderheiten (z.B. Jüdinnen*Juden, Sinti*zze und Rom*nja). Der Terror gegen die jüdische Bevölkerung stand im Zentrum.

Die Judenfeindschaft wurde in Gesetzesform gegossen. So verboten die „Nürnberger Rassengesetze“ (1935) u. a. die Ehe zwischen Jüdinnen*Juden und Nichtjüdinnen*Nichtjuden. Sog. „Arierparagraphen“ verdrängten Jüdinnen*Juden aus Berufen, Vereinen und schlussendlich allen Bereichen des öffentlichen Lebens.

Die Ausgrenzung und Entrechtung mündete in die Verfolgung: Im November 1938 wurden tausende Geschäfte und Wohnungen, Synagogen und jüdische Friedhöfe zerstört. Hunderte Jüdinnen*Juden wurden ermordet, zehntausende wurden in Konzentrationslager deportiert. Die November pogrome 1938 offenbarten die Absichten der Nazis.

Spätestens im Sommer 1941, im Kontext des Überfalls auf die Sowjetunion, war klar: Sämtliche Jüdinnen*Juden sollten ermordet werden. Auf der Wannseekonferenz kamen hochrangige Vertreter der NS-Regierung und SS-Funk tionäre zusammen, um diesen Massenmord im Detail zu
organisieren. Die Konferenz fand am 20. Januar 1942 unter Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in einer Villa am Berliner Wannsee statt.

Die Vernichtung der Jüdinnen*Juden hatte für das NS-Regime auch noch kurz vor der militärischen Niederlage höchste Priorität. Dafür wurden bis zuletzt „kriegswichtige“ Ressourcen genutzt, die sonst der Kriegsführung zur Verfügung gestanden hätten.

Jüdinnen*Juden wurden erschlagen, erschossen oder mittels industrieller Methoden vergast. Die SS betrieb u. a. die Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von 1940 bis 1945. Der Lagerkomplex lag in der polnischen, vom Deutschen Reich annektierten Stadt Oświęcim. Im Lagerkomplex wurden mehr als eine Million Jüdinnen*Ju den ermordet. Häufig mittels Zyklon B (Blausäure) in Gaskammern.

Die „Aktion Reinhardt“ war ein Tarnname zur systematischen Ermordung der Jüdinnen*Juden und Rom*nja im sogenannten Generalgouvernement, den polnischen, vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. Zwischen Juni 1942 und Oktober 1943 wurden 1,6 bis 1,8 Millionen Jüdinnen*Ju den in den Vernichtungslagern Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka ermordet.


Der Begriff „Shoah“ (auch: Shoa, Schoa, Schoah) stammt aus dem Hebräischen. „ha‘Schoah“ (ַּׁשֹוָאה ה) bedeutet „die unbegreifliche Katastrophe“, „das große Unheil“. Shoah bezeichnet, wie der Begriff „Holocaust“, die Ermordung von etwa sechs Millionen europäischen Jü dinnen*Juden im Nationalsozialismus. Der Antisemitismus mündete in die Shoah.


Antisemitismus nach 1945

Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Soldaten die Konzentrations- und Vernichtungslager in Auschwitz. Einige Monate später, am 8. Mai 1945, erklärte die deutsche Wehrmacht ihre bedingungslose Kapitulation. Nun fanden die Shoah und der Zweite Weltkrieg in Europa ein
Ende. Der Antisemitismus jedoch nicht.

Nach 1945 setzte abseits der alten Formen des Antisemitismus eine neue Form ein: der Post-Shoah-Antisemitismus. Die Auseinandersetzungen um die Shoah, die in der Nachkriegszeit geführt wurden, waren stets Auseinandersetzungen um Schuld und Verantwortung – insbesondere
um deren Abwehr. Daher wird der Post-Shoah-Antisemitismus auch Schuldabwehr-Antisemitismus genannt.

Viele Deutsche relativierten oder leugneten die Schuld an Verbrechen – ihre eigene Schuld, aber auch die Schuld des NS-Systems. Der Post-Shoah-Antisemitismus verkehrt Täter und Opfer. Er setzt die antisemitische Erzählung fort, Jüdinnen*Juden hätten Schuld bzw. eine Mitschuld am Judenhass. Das fasste der jüdische Arzt Zvi Rex mit den Worten zusammen: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Auch Jahrzehnte nach der Shoah gab und gibt es Relativierungen und Leugnungen. Ein eindrückliches Beispiel waren die Proteste gegen die Wehrmachtsausstellungen (1995–1999, 2001–2004). Die Ausstellungen deckten die Verbrechen der Wehrmacht auf.

Viele Deutsche behaupteten nach dem Zweiten Weltkrieg, kein Teil des NS-Systems gewesen zu sein – und hofften, mit den Urteilen der Nürnberger Prozesse (1945–1946) sei die juristische Aufarbeitung abgeschlossen. In der BRD wurde ein Schlussstrich gefordert und in der DDR wurde verkündet, man sei ein „antifaschistischer“ Staat und ge feit vor Nazismus und Antisemitismus.

In der Bundesrepublik wurde die juristische Aufarbeitung mit den Frankfurter Auschwitzprozessen (1963–1965) fortgesetzt. Die Prozesse sind Fritz Bauer, einem jüdischen Generalstaatsanwalt aus Frankfurt, zu verdanken. Bauer konnte seine Arbeit nur gegen erhebliche Widerstände in Justiz und Politik leisten. Das Beispiel macht deutlich: Antifaschist*innen und Shoah-Überlebende haben – allzu häufig gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft – die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen erkämpft. Nichtdestotrotz wurden viel zu
wenige Nazis und deren Helfer*innen verurteilt.

Der Post-Shoah-Antisemitismus erfüllt mehrere Zwecke. Ein Zweck ist biografisch-moralischer Art: Wer die Schuld der Deutschen in Frage stellt, stellt die Schuld der eigenen Vorfahren in Frage, die Schuld des eigenen Vaters oder der eigenen Großmutter. Die Schuldabwehr schützt das Bild von der heilen, unbelasteten Familiengeschichte. Ein weiterer Zweck ist finanziell-politischer Art: Wer die Schuld der Deutschen in Frage stellt, stellt die Notwendigkeit einer finanziellen wie politischen Entschädigung in Frage. So bedeutet die Abwehr von Schuld auch die Abwehr, Shoah-Überlebende und den Staat Israel unterstützen zu müssen.

„Bombenholocaust“!?

Eine Ausdrucksform des Post-Shoah-Antisemitismus ist die Relativierung der Shoah. So setzte das „Querdenken“-Milieu die Anti-Corona-Politik der Bundesregierung mit den NS-Verbrechen gleich. Beispiele sind die gelben Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ (Analogie zum „Judenstern“) und Abbildungen von KZ-Eingangstoren mit „Impfen macht frei“ (Analogie zu „Arbeit macht frei“).

Beispiel I

Rechtsextreme nutzen den Begriff „Bombenholocaust“, um die alliierten Bombardierungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg zu beschreiben. Die NPD sprach im Sächsischen Landtag erstmals 2005 vom „Bombenholocaust“, um die Bombardierung Dresdens (13.–15.02.1945) mit der Shoah gleichzusetzen. Damit wird eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Bereits NS-Propagandaminister Joseph Goebbels hatte die Erzählung einer „sinnlos vernichteten“, friedlichen „Kulturstadt“ durch die „verbrecherischen“ Westmächte geprägt.

Beispiel II

In pro-palästinensischen Milieus werden Israel und der Zionismus, die jüdische Nationalstaatsbewegung, mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt. Die Behauptung, ein israelischer Ministerpräsident sei wie Hitler, suggeriert, Israel wolle die Palästinenser*innen vernichten. Oft wird die Nakba (deutsch: Katastrophe) – die Flucht und Vertreibung arabischer Palästinenser*innen
zwischen 1947 und 1949 – mit der Shoah gleichgesetzt. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde behauptete 2022, Israel habe „50 Holocausts“ an den Palästinenser*innen verübt

„Auschwitzlüge“!?

Die Leugnung der Shoah ist die stärkste Ausdrucksform des Post-Shoah-Antisemitismus. Denn: Das unendliche Leid von Millionen Jüdinnen*Juden wird bestritten. Die Leugnung wird mit der Meinungsfreiheit begründet. Allerdings gilt: Wer Hetze gegen Jüdinnen*Juden verbreitet und Opfer der Shoah verhöhnt, hat eine Grenze der Meinungsfreiheit überschritten. Daher ist die Shoahleugnung in Deutschland strafbar (Volksverhetzung, §130 StGB).

Beispiel I

Mit dem Ende des Nationalsozialismus setzte die Schuldabwehr ein. Menschen haben mit pseudowissenschaftlichen Gutachten versucht, die NS-Verbrechen anzuzweifeln. Der US-Amerikaner Fred Leuchter behauptete im „Leuchter-Report“ (1988), in den Gaskammern habe wegen angeblich fehlender Blausäurespuren kein Massenmord stattfinden können. In Deutschland wurde die „Auschwitz-
Lüge“ zum zentralen Code für Shoahleugnung. Der Begriff geht auf ein Buch des SS-Verbrechers Thies Christophersen zurück.

Beispiel II

Ursula Haverbeck behauptete einst, „dass der Holocaust die größte und nachhaltigste Lüge in der Geschichte ist“. Neben Haverbeck sind Attila Hildmann, Horst Mahler und Nikolai Nerling („Der Volkslehrer“) die prominentesten Shoahleugner*innen in Deutschland. Sie
glauben, Kämpfer*innen für die Meinungsfreiheit und Teil einer „Wahrheitsbewegung“ zu sein. Unter Rechts-xtremen wird die Shoah häufig indirekt geleugnet. Zum Beispiel werden Shoahleugner*innen aufgrund ihres angeblichen Mutes zur Wahrheit verherrlicht.

„Holocaust-Industrie“!!?

Eine Erzählung des Post-Shoah-Antisemitismus ist die Unterstellung, Jüdinnen*Juden würden an der Shoah verdienen wollen. Sie knüpft an das antisemitische Stereotyp vom geld- und machtgierigen Juden an. Die Unterstellung wird auch im Zuge der Kritik an den deutschen Entschädigungszahlungen an Shoah-Überlebende deutlich.

Beispiel I

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Norman Finkelstein veröffentlichte das Buch „Die Holocaust-Industrie“ (2000). Die deutschsprachige Ausgabe trug den Untertitel „Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird“. Er behauptete im Buch, US-amerikanische Jüdin-
nen*Juden hätten eine „Holocaust-Industrie“ geschaffen, um Kapital aus dem Shoah-Gedenken zu schlagen. Das Buch löste eine Kontroverse aus. Vielfach wurde ihm die Verbreitung antisemitischer und verschwörungsideologischer Behauptungen vorgeworfen.

Beispiel II

Die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler John Mearsheimer und Stephen Walt veröffentlichten das Buch „Die Israel-Lobby und die US-Außenpolitik“ (2006). Sie behaupteten, eine übermächtige, jüdische Lobby gäbe der US-amerikanischen Außenpolitik eine pro-israelische Ausrichtung vor. Diese Ausrichtung, die insbesondere durch finanzielle Unterstützung zum Ausdruck komme, werde u.a. mit der Shoah begründet. Das Buch rief vielfach Kritik hervor. Sowohl in Deutschland als auch in den USA wurde die Verbreitung antisemitischer und verschwörungsideologischer Thesen angeprangert.

Was tun?!

Informieren

Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist komplex. Es gibt viele Quellen. Seriöse Quellen müssen herausgefiltert werden. Das Online-Tool nichts-gegen-juden.de hilft, gegen antisemitische Erzählmuster zu argumentieren. Unsere Handreichung „deconstruct antisemitism!“ erklärt antisemitische Bilder und Codes.

Differenzieren

Kritik an der deutschen Erinnerungskultur kann gerechtfertigt sein. Leere Phrasen und ritualisierte Sonntagsreden müssen kritisiert werden. Allerdings existieren Grenzen der Kritik. Eine Grenze ist der Angriff gegen das Gedenken an sich. Denn oft wird das Gedenken angegriffen, um Stimmung gegen Jüdinnen*Juden zu machen.

Erkennen

Seriöse Informationen liefern die Grundlage, um Post-Shoah-Antisemitismus erkennen zu können. Ein antisemitischer Vorfall sollte gemeldet werden. Eine Meldung macht das Problem sichtbar. RIAS ist eine Anlaufstelle, um antisemitische Vorfälle zu melden (report-antisemitism.de). Shoah-Leugnung kann eine Straftat darstellen und bei der Polizei angezeigt werden.

Unterstützung suchen

Während und nach einem antisemitischen Vorfall ist die Suche nach Verbündeten wichtig. Potentielle Verbündete sollten konkret angesprochen und zur Unterstützung aufgefordert werden. OFEK bietet eine kostenlose Beratung an (ofek-beratung.de).

Widersprechen

In der Familie, auf der Straße, im Netz: Wenn Post-Shoah-Antisemitismus verbreitet wird, gilt es zu widersprechen. Der Widerspruch ist wichtig, um allen Beteiligten eine klare Haltung zu zeigen und sie zu ermutigen, sich am Widerspruch zu beteiligen.

 

Diese Informationen gibt es auch als Flyer, bestellbar bei der Amadeu Antonio Stiftung:

PDF: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2023/11/Post_Shoah_Antisemitismus_Flyer.pdf

Bestellen: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/was-ist-post-shoah-antisemitismus/

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juan

„juan-Praxisstelle“ Jugendarbeit muss antisemitismuskritisch rassismuskritisch und empowernd sein

Die „ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit“ der Amadeu Antonio Stiftung engagiert sich bereits seit vielen Jahren dafür, die Be- und Aufarbeitung von menschenfeindlichen Ideologien, insbesondere von Antisemitismus und Rassismus, als Querschnittsthemen in der Kinder- und Jugendarbeit zu verankern. Ausgehend von der jahrelang gesammelten Expertise und den Erfahrungen der »ju:an«- Praxisstelle möchte die Stiftung alle pädagogischen Fachkräfte und Multiplikator*innen ermutigen, klare Haltung gegen Antisemitismus und Rassismus zu zeigen und betroffene Jugendliche zu stärken.

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