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Lagebild Antisemitismus Israelhass ≠ Judenhass? Eine folgenreiche, falsche Trennung

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Cover des zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus #10: Deutschland bereitet Antisemitismus eine Bühne - veröffentlicht von der Amadeu Antonio Stiftung (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Das drückt wiederum auch die Haltung der Debattenteilnehmer*innen zu Israel aus und prägt die Einschätzungen dazu, inwiefern antisemitische Annahmen das Reden über Israel bestimmen. Der Versuch, Israelhass und Judenhass künstlich zu trennen, zeigt sich besonders am Umgang mit den antisemitischen Vorfällen auf der documenta fifteen. Hier zeigt sich: Israelhass und Judenhass sind miteinander verwoben.

Warnungen und Mahnungen

Warnungen gab es von Anfang an: Im Januar 2022 wurde öffentlich, dass Teile des Kurator*innenkollektivs ruangrupa antizionistischen und israelfeindlichen Positionen nahestehen sollen. Deshalb hat auch der Zentral rat der Juden in Deutschland sich schon im Frühjahr in einem Brief an Claudia Roth, der politisch verantwortlichen Staatsministerin für Kultur und Medien, gewandt. In diesem Brief kritisierte der Präsident des Zentralrats, Dr. Josef Schuster, den Umgang mit den Antisemitismusvorwürfen als unzureichend. Er kritisierte zudem, dass der Zentralrat mit seiner Expertise nicht in die nach Bekanntwerden der Vorwürfe geplante Veranstaltungsreihe, ein Gesprächsforum, einbezogen wurde. Der Zentralrat war besorgt – und mit Recht, wie sich herausstellte – weil er von der Israelfeindschaft ausgehend schloss, dass es auf der documenta fifteen zu antisemitischen Vorfällen kommen könne. Die Kurator*innen und Organisator*innen wollten davon nichts wissen. In einem Brief von ruangrupa, dem Artistic Team der documenta, und einigen Kurator*innen des gescheiterten Gesprächsforums10 wird die angeblich weit verbreitete Gleichsetzung von „Kritik an israelischem Staatshandeln“ sowie Antizionismus mit Antisemitismus moniert, diese Kritik würde „routinemäßig dämonisiert“.

Ein Skandal, viele Skandälchen

Mit der Eröffnung der Kunstausstellung wurde der Zusammenhang von Israelhass mit Antisemitismus bestätigt: In den 100 Tagen der Kunstschau wurde über etliche Kunstwerke mit antisemitischen Bildern und Metaphern diskutiert. Der Grad an Empörung ließ sich auch daran ablesen, wie offen der Antisemitismus ausgestellt wurde. Handelte es sich „nur“ um israelbezogenen Antisemitismus, blieb die Empörung weitgehend aus. Einigkeit darüber, dass es sich um Antisemitismus handelt, gab es lediglich beim offenen Judenhass in der großflächigen Banner-Installation „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi. Über alle anderen Kunstwerke gab (und gibt) es Debatten, es wurde vielfach abgewiegelt und relativiert. Der Unterschied zwischen den Arbeiten: der Bezug zum Nahostkonflikt. Die Debatte über die documenta fifteen drehte sich also auch darum, was noch erlaubt, was gerade noch kein Antisemitismus, was ein bisschen Antisemitismus, was zu viel Antisemitismus ist. Es ist ein Kontinuum von „kein Antisemitismus“ bis „zu viel Antisemitismus“. Dazwischen wurden die Kunstwerke eingeordnet und je nachdem, wo sie eingeordnet wurden, skandalisiert – oder nicht.

Den größten Skandal hat „People’s Justice“ ausgelöst. Das ist ein 20 Jahre altes Kunstwerk, ein gigantisches Wimmelbild mit zwei antisemitischen Darstellungen: Zum einen wird ein als Mossad gekennzeichnetes Schwein, zum anderen wird eine antisemitische Karikatur eines orthodoxen Juden mit Schläfenlocken gezeigt. Diese Figur hat scharfe Vampirzähne und blutunterlaufene Augen, auf ihrem Hut steht „SS“. Bei diesem Kunstwerk waren sich alle schnell einig: Das geht nicht. Erst wurde die Leinwand schwarz verhüllt und vom verantwortlichen Kollektiv als „Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment“ bezeichnet, dann wurde es – nach weiteren Protesten – ganz abgehängt. Die Darstellungen sind eindeutig: Das ist offener Judenhass. Als dieses Bild nach der Kritik abgenommen wurde, wurde bei einer deswegen stattfindenden Demonstration die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free!“ gerufen, womit von Demonstrierenden der Zusammenhang zwischen den Erscheinungsformen des klassisch judenfeindlichen Antisemitismus mit Israelhass bestätigt wurde.

Israelhass und Judenhass sind miteinander verwoben. Das zeigt eine 2022 veröffentlichte repräsentative Studie im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) zum Antisemitismus in Deutschland: Wer schlecht über Israel denkt, vertritt auch eher judenfeindliche Einstellungen. Zum Beispiel stimmen 34 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Juden nutzen ihren Status als Opfer des Völkermords im WKII zu ihrem eigenen Vorteil aus.“

Unter denjenigen, die angeben, ein schlechtes Bild von Israel zu haben, stimmen der Aussage sogar 54 Prozent zu. Die Zustimmung zu judenfeindlichen Aussagen ist also abhängig vom Bild, das die Befragten über Israel haben. So schreibt das AJC, dass „unter denen, die ein negatives Bild vom Staat Israel haben, sämtliche Vorurteile gegenüber Juden stärker verankert [sind], als unter denen, die positiv über den Staat Israel denken.“

Noch bevor das Banner von Taring Padi aufgehängt wurde, drehte sich – um ein weiteres Beispiel zu nennen – die Debatte um den palästinensischen Zyklus „Guernica Gaza“. Hier werden die Militäraktionen in und gegen den Gaza-Streifen in Verbindung gebracht mit dem deutschen Angriff auf die spanische Stadt Guernica sowie einem berühmten Gemälde von Picasso, das nach diesem Bild benannt ist. Am 26. April 1937 zerstörte die deutsche Legion Condor die spanisch-baskische Stadt Guernica – ohne militärstrategische Bedeutung. Es ging vor allem darum, Zivilist*innen zu töten und so die republikanischen Kräfte zu demoralisieren. In der Forschung heißt es, dass Guernica das erste flächendeckende Bombardement eines Krieges war, bei dem es ausschließlich und vorausberechnet um reine zivile Opfer ging. Pablo Picasso hat das Kunstwerk „Guernica“ mit Bezug zum Bombardement gemalt. „Guernica Gaza“ hat dem Aussehen nach nichts mit Picassos Bild zu tun, wenngleich es darauf anspielen mag. Der Zyklus zeigt Collagen aus berühmten klassischen Gemälden und Fotografien von Bombenangriffen oder israelischen Soldaten. Es wird eine Assoziation zwischen dem Angriff auf Guernica und den Angriffen auf Gaza hergestellt. Das ist eine weit verbreitete Form des Antisemitismus: Die Politik Israels wird mit der Politik des Nationalsozialismus gleichgesetzt.

Zudem wurde über eine algerische Broschüre aus den 1980er Jahren diskutiert, eine Verarbeitung der Auseinandersetzung zwischen israelischem Militär und palästinensischer Bevölkerung. Darin gibt es u. a. einen mit Hakennase gezeichneten israelischen Soldaten und eine roboterhafte – und damit entmenschlichte – Ansammlung von israelischen Soldaten. Die komplette Reihe ist in Gut und Böse unterteilt: Gut sind die Palästinenser*innen, Böse die Israelis, die nur als Soldat*innen vorkommen. Ist das schon Antisemitismus? Ist das schon zu viel Antisemitismus? Es zeigt, dass der Nahostkonflikt auch antisemitisch bearbeitet wird. Die Hakennase zur Kennzeichnung von Jüdinnen*Juden ist antisemitisch.

Antisemitismus findet sich auch in dem Film Festival „Tokyo Reels“. Zumindest findet ihn, „wer bereit [ist], wirklich hinzusehen“. Die Videos zeigt Subversive Film. Die Gruppe kuratiert auf der documenta eine ganze Reihe von Filmen, die laut Programm Auskunft geben über die „übersehene und nicht dokumentierte antiimperialistische Solidarität zwischen Japan und Palästina“.


Israelhass und Judenhass sind miteinander verwoben. Das zeigt eine 2022 veröffentlichte repräsentative Studie im Auftrag des American Jewish Committee (AJC) zum Antisemitismus in Deutschland: Wer schlecht über Israel denkt, vertritt auch eher judenfeindliche Einstellungen. Zum Beispiel stimmen 34 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Juden nutzen ihren Status als Opfer des Völkermords im WKII zu ihrem eigenen Vorteil aus.“ Unter denjenigen, die angeben, ein schlechtes Bild von Israel zu haben, stimmen der Aussage sogar 54 Prozent zu. Die Zustimmung zu judenfeindlichen Aussagen ist also abhängig vom Bild, das die Befragten über Israel haben. So schreibt das AJC, dass „unter denen, die ein negatives Bild vom Staat Israel haben, sämtliche Vorurteile gegenüber Juden stärker verankert [sind], als unter denen, die positiv über den Staat Israel denken.“


Für die Sammlung der Filme stand Subversive Film auch in Kontakt mit Masao Adachi, einem ehemaligen Mitglied der Japanischen Rote Armee. Die Terrororganisation ermordete 1972 auf dem Flughafen Lod (heute: Ben Gurion Flughafen) in Israel 26 Menschen in „Solidarität mit dem palästinensischen Volk“. Zwei Attentäter wurden vor Ort erschossen. Der dritte wurde verhaftet und zu lebenslanger Haft in Israel verurteilt. Er sollte beim Münchner Olympia-Attentat vom September 1972 freigepresst werden. Es gelang 1985, der Attentäter wurde mit mehreren tausend anderen Gefangenen gegen israelische Soldat*innen ausgetauscht. Das Film Festival „Tokyo Reels“ zeigt Dokumentarfilme, die vor Israelhass nur so strotzen, und deshalb vom Antisemitismusforscher Jakob Baier als „Propagandafilme“ bezeichnet wurden. Ein Beispiel: Die Dokumentarfilme „bezeichnen die Gründung des jüdischen Staates als Resultat einer ‚zionistischen Verschwörung‘, sie behaupten, israelische Soldaten hätten Leichen auf einem christlichen Friedhof geschändet sowie in einer Kirche Heiligtümer zerstört“. Damit knüpfen die Filme an ein „jahrhundertealtes judenfeindliches Mythenreservoir“ an. Ein Teil des Expertengremiums, das im Laufe der documenta eingesetzt wurde, um die Kunstwerke einzuschätzen und einen Umgang vorzuschlagen, spricht in einer Presserklärung vom 9. September davon, dass diese Filme „in ihrer potentiell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar[stellen] als das bereits entfernte Werk ‚People’s Justice‘“. Ihre Aufführung sei dringend „zu stoppen“, mindestens zu kontextualisieren.

Wie umgehen

Bis auf die Banner-Installation „People’s Justice“ wurde kein Bild abgehangen und kein Video gestoppt. Nach viel Druck musste Sabine Schormann, die Generaldirektorin, zurücktreten. Bei einigen Kunstwerken sollten Kontextualisierungen folgen, als könne man die antisemitischen Darstellungen durch das richtige Verständnis vom Nahostkonflikt legitimieren. So wird „People’s Justice“ als Einzelfall abgetan: ruangrupa, das Kurator*innenteam, wehrte den Antisemitismusvorwurf noch im August 2022 mit Verweis auf Rassismus ab. Im September verbreitete das Kollektiv Teile einer Social-Media-Kampagne des Lumbung Space, die die Antisemitismusvorwürfe systematisch abwehrt und mit der Abkürzung BDS spielt – und dadurch verharmlost.

Andere Folien, wie die mit einem Apartheidsvorwurf, wurden nicht geteilt. Wohl aus strategischen Gründen. Denn den offenen Brief zur Kampagne vom 10. September unterschrieb und teilte das Kollektiv und in einer Instagram-Story (die wohlweislich nach 24h verschwindet) warf das Kollektiv Israel „Apartheid und ethnische Säuberung“ vor.

Die Kunstwerke auf der documenta fifteen zeigen eindrücklich, dass die Verarbeitung des Nahostkonflikts antisemitisch sein kann und Israelhass mit Judenhass allzu oft Hand in Hand geht. In der bereits zitierten Presseerklärung schreibt das Expertengremium über die Kunstwerke, die den Nahostkonflikt thematisieren, dass nahezu „in allen diesen Werken […] einseitig kritische bis hin zu dezidiert israelfeindliche Haltungen zum Ausdruck gebracht werden“ durch Bilder und Aussagen, „die nach gängigen Kriterien als antisemitisch bewertet werden können“.

Bei den (teils schon vorab) vorgebrachten Antisemitismusvorwürfen handelt es sich also mitnichten um „routinemäßig dämonisierende“ und damit unbegründete Gleichsetzungen von „Kritik an israelischem Staatshandeln“ und Antisemitismus.28 Es handelt sich schlicht um Antisemitismuskritik. Diese abwehrende und verharmlosende Argumentation ist ein typisches Muster im Umgang mit Antisemitismus. Israelhass funktioniert allzu oft über Antisemitismus. Aber Antisemitismus ist nie in Ordnung oder gar nachvollziehbar, auch nicht, wenn er sich in andere Gewänder kleidet.

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